Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 25.11.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-11-25
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971125016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897112501
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897112501
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-11
- Tag1897-11-25
- Monat1897-11
- Jahr1897
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis k der Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und Len Vororten errichteten Aus- gabcstellen ab gekillt: vierteljährlich^! 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins -aus 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich X 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandirndung ins Ausland: monatlich ^ll 7.50. Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Uhr, die Abend-Ausgabr Wochentags um 5 Uhr. He-actisn und Erpe-itiou: JohanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr» Filialen: ktto Klemm s Sortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraste 3 (Paulinum), LoniS Lösche, katbarinrnstr. 14, part. mrd König-Platz 7. Wl. Morgen-Ausgabe. Mpzigtr TagMM Anzeiger. Ämtsttatt des Königlichen Land- nnd ÄintsgerichLes Leipzig, des Mathes und Volizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen Prei- b-e 6gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter dem Redactionsstrich s4gs- spalten) 50,^, vor den Familiennachrichten (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung M—, mit Postdeförderung 70.—. AuvahMschluß für Anzeigen: Abend-AuSgab«: Lormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgab«: Nachmittags 4Uhr. Bei de« Filialen nnd Annahmestellen je eine halbe Stund« früher. Anzeigen stad stets an die Expedition zu richten. Druck und Beklag von E. Polz in Leipzig. Sl. Jahrgang. Donnerstag den 25. November 1897. Die Lenachlheitigung der Arbeiter und der Armenbehörden durch die niedrigen Lohnclafscn und TagelohnsLtzc bet der Arbeiterversicherung. mm. Mit der BersicherungSgesetzgebung ist ein Gebiet betreten worden, daS noch nicht bearbeitet war, so daß man schon von vornherein auf die Notbwendigkeit der Abstellung zahlreicher Mängel rechnen mußte. Bon diesen Mängeln ist vor allem einer nock nicht genügend gewürdigt worden, das ist die Festsetzung der Lohnclassen und der ortsüblichen Tagelöhne. Man hat Lohnclassen behufs Erhebung der Versicherungs beiträge im InvaliditätS- und Alters-Vrrsicherungsgesetz ge schaffen, aber sie gehen nur bis 1150 „L, und so wird der Arbeit geber wie der Arbeiter für Löhne, die darüber binauSgehen, nicht besteuert, obgleich gerade bei den hohen und höchsten Löhnen die höheren Prämien am wenigsten fühlbar, am leichtesten ertragen würden. Andererseits ist man auch in der Praxis versucht, die Arbeiter fast durchweg — die niedrigste Classe selbstverständlich ausgenommen — in eine niedrigere Classe zu setzen, als ihr Arbeitsverdienst eS mit sich bringt. In der niedrigsten Lobnclasse von 350 sind unzählige Arbeiter und Arbeiterinnen, die selbst daS Maximum der Classe II beim Arbeitsverdienst überschreiten, die mehr als 55,0 im Jahre verdienen, und so geht eS bis zur V. Classe. Beim Prämienzablea empfinden die Arbeiter diese Praxi- ganz angenehm, aber wenn die Invaliden- oder Altersrente sestgesteUt wird und so niedrig ausfällt, wie sie nach dem Gesetz und der Lohnclaffe-Zugehorigkeit auSsallen muß, dann wird eS bedauert, daß mau nicht von seinem vollen Verdienst Versicherungsbeitrag zahlte. Schlimmer noch als bei dem Einreihen in die Lohnclassen itellt eS sich aber da, wo der ortsübliche Tagelobn in Frage kommt, wenn auch dessen meist zu niedrige Festsetzung das Er reichen von Invalidenrente angeblich erleichtert. Das Gegentheil ist nämlich richtig. Wird Jemand arbeitsunfähig für seinen bisherigen Beruf und kann in diesem nicht mehr das Sechstel des wirklichen Lohnes und das Sechstel deö orts üblichen TagelohneS — künftig ein Drittel des ortsüblichen Tagelohnes — erwerben, dann muß ihm bei sonstiger Erfüllung der Bedingungen Rente zu Theil werden. Gelernten Arbeitern kann also leicht Rente zugejprochen werden, weil sie in ihrem Fache nicht mehr daS Geforderte verdienen; wie ist es aber bei der überaus größten Zahl der ungelernten Arbeiter? Ihnen muß man die Rente vorenthalten, so lange sie noch mehr als ein Drittel deS ortsüblichen Tagelohns erwerben können, und daS kann mancher noch bis zu den letzten Tagen und Stundeu seines Lebens, weil es ein gar winziger Betrag ist. Und Lieser winzige Betrag wird noch winziger, wenn der ortsübliche Tagelohn, wie das doch vielfach der Fall ist, so überaus niedrig festgesetzt wird. Die betreffenden Verwaltungsstellen sind dabei nicht an Gesetze gebunden, sondern sie ermitteln nach ihrem Ermessen und setzen nach ihrem Ermessen die Beträge ffst. Wem viele Krankenkassen- und andere Versicherungs- Sachen zu Gesicht kommen, der weiß, daß für den sogenannten ortsüblichen Tagelohn in der Regel kein Arbeiter und keine 'Arbeiterin zu haben ist, ja e- bedarf zuweilen eines um 50 bis Proc. höheren Lohnes, als der als ortsüblich bezeichnete ist. Diese ortsüblichen Löhne, die von den Verwaltungsbehörden sestgesteUt werden, sowie die Löhne, die für eine große Zahl von Gemeinde-, OrtS- und BetriebSkrankencassen nach Elasten festgestellt werden, stimmen fast nie oder nur selten mit brr Wirk lichkeit überein. Die niedrigen Sätze kommen ja dem Arbeiter bei der Prämienzahlung zu Gute, aber sie treffen ihn dann sehr hart, wenn er Krankeuunterstützung braucht, und wenn Sterbe geld nach seinem Ableben erhebbar wird, die Hinterbliebenen noch härter. ES giebt eine Reihe von Städten, in denen 2,50 als höchster Lohn für Männer und 1,20 als höchster Lohn für Frauen nicht als ortsüblicher Tagelohn, sondern für qualificirte Arbeiter im Handwerk und in der Industrie gilt, ein Lohn von 3 und 1,50 -L gilt schon als überaus hoch. In Wirklichkeit aber giebt es nur wenige schlechtbezahlte gelernte Arbeiter in den be treffenden Städten, die 2,50 „L resp. 3 beziehen, die übrigen beziehen durchaus mehr. Wer in gesunden Tagen für seine Familie 24—30 erwirbt und dann als Kranken geld davon die Hälfte, also nur 12—15 „L bekäme, wäre schon übel daran, wie viel mehr muß der übel daran sein, der in Folge der Lohnclastenfestseyung im Krankencassenstatut nur 9 oder gar nur 7,50 -L erhält! Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Festsetzung von Lohnclassen mit weit niedrigeren Löhnen, als sie wirklich gezahlt werden, nur den mitzahlenden Arbeitgebern zu Gute kommt, während der Arbeitnehmer für das Mehr, das er zahlt, auch eines TageS den höheren Genuß, die höhere Krankenunter stützung und für seine Angehörigen höheres Sterbegeld, erhält. Deshalb sollten alle Krankenkassen angewiesen werden, ihre Lohnclassen zu revidiren, die Verwaltungsbehörden aber sollten angewiesen werden, die Lohnclassen nicht unter die Wirklichkeit herabzusetzen. Bezüglich der Jnvaliditätsversicherung müssen aber ganz besonders auch die Gemeindebehörden dabei mit wirken, daß die sogenannten ortsüblichen Löhne auch die wirklich ortsüblichen sind. Die Gemeindebehörden haben sowohl bei der Jnvaliditätsversicherung wie bei der Kranken versicherung ein großes Interesse an wahrheitsgemäßen Fest- stellungea, da sie für die zu geringen Leistungen der Cassen und die Erschwerung bei Erlangung von Rente die Ausfälle als Armrnbchörde zu decken haben dürften. Altes und Neues von Haiti. tr. Der Conflict, in den Deutschland mit Haiti ge- rathen ist, hat diese weder durch Cultur noch sonst etwas hervorragende Negerrepublik in den Bereich des öffentlichen Interesses gerückt. Da« Staatsleben von Haiti vibrirt in einer beständigen Unruhe und Aufregung in Folge der Kluft, welche zwischen den verschiedenen Rassen bestehl. Mulatten, Neger und Weiße sind in Haiti vertreten. Besonders die Mulatten erkennen die Weißen nicht gern als überlegen an und sie sowohl als die Schwarzen fürchten die Rückkehr der Oberherrschaft irgend einer europäischen Nation, denn das Beispiel Spaniens in Cuba, welches die Spanier ausgesogen und durch unglaubliche Mißwirlhschast zur Revolution ge trieben haben, wirkt außerordentlich abschreckend. Außer den Franzosen sind Deutsche, Engländer, Spanier und Amerikaner auf der Insel ansässig. Bekanntlich wurde Haiti am 6. December 1492 von EolumbuS entdeckt. Die Insel erhielt den Namen Espaüola. Wie auf den kleinen Antillen schwand die einheimische Be völkerung unter der grausamen Behandlung und dem un ablässigen Vordringen der Weißen rasch dahin. Um die Lücken in den Arbeitskräften auSzusüllen, wurden Neger im- portirt. Die Insel blieb bis gegen Ende deS 17. Jahr hunderts ausschließlich spanischer Besitz, um diese Zeit setzte sich ein kühnes Freibeutervolk, die Flibustier, im Westen der Insel fest, meist Franzosen. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit dem Abfangen der spanischen Silber flotten. Die Aufmerksamkeit Frankreichs richtete sich end lich auf das Land, man bewog die Flibustier zu dauernder Niederlassung und im Frieden von Ryswick 1697 wurde diese Niederlassung als französische Colonie anerkannt. Sir gedieh vortrefflich und bildete einen wertbvollen Bestandtheil der auswärtigen französischen Besitzungen. Da kam die französische Revolution, welche die Verhältnisse völlig änderte. DaS Schlagwort „Freiheit und Gleichheit" drang auch bis auf diese Insel. Die Neger erhoben sich und verlangten und erhielten Gleichstellung mit den Weißen. Als dieses Recht ihnen später wieder entrissen werden sollte, trat ein kühner Häuptling, Toussaint l'Quverture an ihre Spitze, um für die Freiheit zu streiten. Obwohl er selbst gefangen wurde und im Kerker starb, wurde doch sein Werk fortgesetzt und bis heute ist der westliche ehedem französische Tbeil un abhängig geblieben. Nach der Unabbänggkeitserklärung Haitis (1. Januar 1804) vereinigte der Diktator Dessalinos in seiner Hand die staatliche und kirchliche Gewalt. Doch nur eine geringe Anzahl von Geistlichen erkannte die Supre matie deS schwarzen LaienpapsteS an und da sie für den Cölibat sehr wenig Neigung verspürten, holte man aus wärtige Patres. Erst durch das 1860 mit dem Papst ge schlossene Concordat traten geordnete kirchliche Verhält nisse ein. Es ist unmöglich, alle Entwicklungsphasen dieses Neger- staaleS zu verfolgen, er theilt das gleiche Schicksal mit den südamerikanischen Republiken, fortwährende Revolutionen lassen das Land nicht zur Ruhe und zu gedeihlicher Entwickelung kommen. Die Neger haben hier bewiesen, daß sie nicht reis sind, sich selbst zu regieren. Die Geschichte Haitis ist eine Geschichte der Greuelthaten der schwarzen Diktatoren. Die Bevölkerung besteht zumeist aus Negern. Die Weißen sind zwar zugelassen, dürfen aber nach der Verfassung weder ein öffentliches Amt bekleiden noch Stimmrecht ausüben, noch Grundbesitz erwerben. Die HauplerwerbSquelle der Bewohner ist der Plantagenbau, namentlich florircn die Kaffeeplantagc». Doch durch die politische Mißwirthschaft und die ewige Finanznoth gebt der Export stetig zurück. Den Löwenantheil am Handel haben vorwiegend deuts che Firmen. Die deutschen Handelshäuser in Port au Prince haben einen gewichtigen Einfluß. Die Bank von Haiti, von Franzosen begründet, ist seit Jahren hauptsächlich von Deutschen geleitet worden. Frankreich, dessen Sprache in Haiti ossicielle Amtssprache ist, hat die Hoffnung auf dereinslige Annexion noch nicht aufgegebcn. Es gehört ja zu den Eigenthümlichkeiten der französischen Nation, baß sie früher besessene und später verlorene Gebiete nicht vergessen kann. In Wort und Schrift wirb versucht, bie frühere Zusammengehörigkeit wieder her zustellen. Man will mit französischem Capital Handel und Industrie in die Höhe bringen, die reichen Mineralschätze heben, den Boden cultiviren, ein Netz von Eisenbahnen soll das Land durchziehen u. dergl. mehr. Vor etwa 10 Jahren hatte Haiti einen ernsten Conflict mit England wegen des Besitzes der im Nordosten Haitis liegenden Insel Tortugas, den Englands Nimmersatte Ländcrgier verlangte. Das Ver langen wurde inbcß abgelehnt und England mußte seine An sprüche uud Drohungen fallen lassen. WaS Deutschlands Forderungen betrifft, so dürfte dafür gesorgt sein, daß sie bis zum letzten Cent respectirt werden. Deutsches Reich. 0. 11. Berlin, 21. November. Der Kreuzer „Geier", welcher Ordre erhalten hat, nach Kreta zu gehen, ist vou den 8 Kreuzern vierter Classe, welche die deutsche Marine besitzt, der neueste. Er gehört wie alle seine Schwesterschisse zur Marinestation der Ostsee, wird also an der Kieler Werst für seine Reise ausgerüstet. „Geier" hat ein Deplacement von 1623 Tonnen, 2800 indicirte Pserdekräfte und einen Besatzungsetat von 160 Mann, ist 76 w lang, hat eine Breite von 10 m und einen Tiefgang von 4,5 w. „Geirr" ist auS Stahl gebaut, hat Zellenboden und genügende Querschotten, die Außenhaut trägt eine doppelte Holzplaukenlage und darüber Kupferplatten. „Geier" hat Schuncrtakelung, nur der Fockmast trägt Rasen, während der Großmast und der Besanmast nur je rin Gaffelsegel und darüber ein dreieckiges Toppsegel führen. Die Segel dienen besonders dazu, die Maschinenkrast bei günstigem Winde zu unterstützen, so daß dann bei gleicher Geschwindigkeit Kohlen gespart werden können. „Geier" hat zwei Schrauben, zwei hinter einander aufgestellte Expansions maschinen mit 3 horizontal liegenden Cyliudern, 4 Cylinder- kessel mit durchschlagender Flamme und je 3 Feuerungen. „Geier" wird etwa 16 Seemeilen Geschwindigkeit haben. * Berlin, 24. November. Der preußische Oberkirchen - ratb bat der Generalsyuode, wie in einem nicht ganz klaren Telegramm schon gemeldet wurde, eine Denkschrift, betreffend den Erlaß eines allgemeinen Kirchenzucht- gesetzeS, vorgelcgt. Es wird zunächst Folgendes in Erinne rung gebracht: „Von der Auffassung ausgehend, daß eine Regelung der Vor» schrtste» über Kirchenzucht nur innerhalb de< Gesammtgebietc« der Landeskirche möglich fei und daß sie nur soweit durch führbar und segenbringend sei, alS sie von dem Gesa mmt- bewußtsein der Landeskirche getragen werde, behält die Gcneralsynodal»Ordnung „die Kirchenzucht wegen Verletzung allgemeiner Pflichten der Kirchenglieder '' aus schließlich der laudeskirchlicheu Gesetzgebung vor. In Erfüllung dieses Vorbehalts ist zuuächst das Kircbengrsetz vom 30. Juli 1880, betreffend die Verletzung kirchlicher Pflichten in Bezug aus Taufe, Confirmatiou und Trauung, ergangen. Tas Gesetz stellt zunächst fest, in welcher Weise kirchlicherseil-Z durch Seelsorge uud Kirchenlicht zu reagiren sei gegen die Verachtung der Taufe und gegen die Ver letzung kirchlicher Pflichten auf dem Gebiete der Erziehung, der Confirmation und der Trauung. Außerdem läßt das Kirchengesetz über diese besonderen Fälle hinaus alle staatsgesetzlich zulässigen, kirchenordnungsmäßig sestgestellten oder in einzelnen Landcstheilen vbjervanzmäßig bestehenden Hebungen der Kirchenzucht, und zwar, auch soweit dieselben auf die erst erwähnten besonderen Fälle sich beziehen sollten, unberührt. In der Begründung des Kirchcngesetzes ist eingehend dargelegt, aus welchen Gründen dasselbe auf die Behandlung der vorerwähnten be sonderen Fälle der Verletzung kirchlicher Pflichten sich beschränkt und davon absieht, »ine umfassende Regelung der Kirchen- znchtsordnung zu unternehmen, vielmehr über jene besonders be- handelten Fälle hinaus nur das bestehende Recht conservirrn will: die Bedeutung der Kirchenzucht im weiteren Umfange wird voll anerkannt. Ter Eiuwand, „als lege die Kirche aus die Gegenwirkung wider andere, vielleicht für die sittliche Beurtheilung noch schwerer wiegende Verfehlungen nur geringeren Werth, oder sie urlheile über die Verschmähung der von ihr dargrbotenen Handlungen strenger Fenillatsii. Gerhardt Tersteegen. Ein Hedtnkblatt z» seinem 200. Geburtstag am 25. Novbr Von Herman» Pilz. Er gehört zu den berufensten Vertretern des geistlichen Liedes auf dem deutschen Parnaß, der heute vor zweihundert Jahren, am 25. November 1697, zu MörS in der preußischen Rhein provinz, früher Hauptstadt einer Grafschaft, geboren wurde. Aber die glänzenden Namen eine- Knapp, Spitta, Gerok, Sturm u. s. w. haben den seinen verdunkelt, und selbst aus den Literaturgeschichten ist er theilweise mit Unrecht verschwunden. Tersteegen ist als Dichter wie als Mensch eine interessante Er scheinung. Sein Vater, Heinrich Tersteegen, war Kaufmann reformirter Confrssion, starb aber schon im September 1703, so daß ihn der Knabe nicht näher kennen lernte und seine Er ziehung gänzlich von seiner Mutter, Maria Cornelia geb. Tri- boler, geleitet wurde. Gerhardt Tersteegen war von acht Ge schwistern das jüngste. Da er gute Anlagen hatte, schickte ihn seine Mutter in die lateinische Schule, deren Classen er alle be suchte. Er nahm hier auch am Unterricht in der griechischen und hebräischen Sprache Theil und machte bedeutsame Fort schritte. Als er bet einer öffentlichen Festlichkeit eine Rede in lateinischen Versen mit solcher Begeisterung vortrug, daß alle Zuhörer ergriffen waren, rieth man der Mutter, den Knaben studiren zu lassen. Aber die häuslichen Verhältnisse erlaubten cs nicht, und im 15. Lebensjahr kam der junge Scholar zu seinem Schwager, dem Kaufmann Mathias Brinck, nach Mühlheim an der Ruhr in die Lehre. Mühlheim blieb 56 Jahr« bis zu seinem Tode sein Wohnort. Daß er in seiner Jugend dem heiteren Lebensgenüsse nicht abhold war und zuweilen auch den Becher überschäumen ließ, wissen wir aus seinen eignen Dichtungen. Al» er die LehrlingSjahre überstanden hatte, trieb er in den Jahren 1717 bis 1719 ein eigne- Geschäft, mit dem er aber kein Glück gehabt zu haben scheint. Er schreibt selbst: „Mit dem Kaufhandel, worin ich Anfangs stand, wollte e» so gut nicht gehen, deswegen ich selbigen schon 1719 niederlegte und ein Hand werk lernte." Ein feiner Leineweber flößte Tersteegen Lieb« zu seinem Handwerk ein und au- dem Kaufmann wurde ein Leine weber. Da dieser Beruf seiner Gesundheit nicht zusagte, ver tauschte er ihn mit dem eines Bandwrber«. Er lebte sehr einfach und bereitete sich wie Franklin seine Speisen selbst. Trotzdem hatte er stet- eine mildthätige, barmherzige Hand. Er handelte nach dem Wort, das er selbst in seinem „Blumengärtlein" ge sprochen: „Habsucht, das allgemeine Fieber, Dürst'1 viel, trinkt viel, doch immer kränkt, Wer Gott hat, dessen Herz fließt Uber, Und trinkt mit, wenn er Andre tränkt.- Jener fromme Handwerksmann und ein Candidat Hoffmann gewannen sein Herz ganz für die Kirche und für die theologische Wissenschaft. Aber seine Sehnsucht, eine Kanzel besteigen zu können, sollte noch nicht in Erfüllung gehen. Als er auch die Bandweberei aufgab, betrieb er zunächst einen Handel mit Arznei mitteln und nährte sich bei seinen geringen Bedürfnissen auch damit ausreichend. Seine Lust, zu predigen und das Wort Gotte- nach seiner Weise zu verkünden, wuchs aber von Jahr zu Jahr. Anfänglich trat er nur in Versammlungen von Freunden auf, später erweiterte sich der Kreis seiner Zuhörer in öffentlichen Versammlungen und die Kunde von Terstergen's geistlichen Vor trägen verbreitete sich weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Tersteegen wurde zum Wanderprediger. Zahlreiche Reisen mußte er alljährlich unternehmen, um den Einladungen, Wander predigten zu halten, gerecht zu werden, und so widmete er sich denn bald ausschließlich den Vorträgen in frommen Conventikeln und der religiösen Schriftstellerei. Er lebte „der Arbeit für das Reich Gottes". Nicht minder ausgedehnt wie diese Wirksamkeit war sein Briefwechsel. Wer irgend Trost und Zuspruch brauchte, wandte sich vertrauensvoll an Tersteegen und wurde von ihm durch Rath und Trost, ja nicht selten auch durch rasch« werk- thätige Hilfe getröstet. Seine Briefe füllen Bände und bilden einen reich«» Schatz gottseliger Erbauung und Erhebung. Seine größten Triumphe feierte er im Bergischen und in Holland, wohin er alljährlich Reisen unternahm und die „Erweckten" um sich sammelte. „Keiner hat seit der Apostel Tagen so viele Seelen dem Heilande zugeführt", sagt Jung Stilling von ihm. Man sprach bald überall von den „Tersteegianern". In Crefeld mußte er, der schlichte Bandweber, sogar die Kanzel betreten, obwohl er es mit Widerstreben that, und seine Predigt hatte eine so gewaltige Wirkung, daß nicht nur die Mennoniten und Anabaptisten, son dern auch die Reformirten und Lutherischen ihm zuströmten. In Düsseldorf sollte er einmal wegen Theilnahme an Conventikeln verhört werden, aber seine Anhänger wußten das Verhör zu Hintertreiben. Es war echte Freundschaft, die ihn mit gleich gesinnten Seelen verband. In einem Briefe nach Holland sagt er: „Eine selbst geschlossene Freundschaft ist allen Zufällen und Veränderungen unterworfen, aber das ist nicht der Fall mit der, die durch da» Bond der himmlischen Liebe geknüpft ist." Nach Hoffmann'- Tode miethetr Tersteegen dessen Häuschen, um die ihn besuchenden Freunde aufnehmen zu können. Das Haus er hielt den Namen „Pilgerhütte". Er hatte bisher auf einigen Stuben gewohnt und mußte noch 1745 wechseln; in einem holländischen Briefe bedauert er die dabei statt findenden Umstände. Er hatte daher den Wunsch, eine festere, eigene Wohnung zu er halten, die auch für seine Apotheterkünsie und „Arztbesuche" — der „geistliche Arzt" erhielt oft hundert Seelenpetienten zu gleich — hinlänglichen Raum bot. Er bezog daher 1746 ein ganzes, geräumiges Haus, dessen obere Räume er mit seinem Freunde Sommer benutzte, während er die anderen einer Freundin, Sibylle Emschermann, überließ, die seine Haushaltung besorgte. Die Einrichtung war überaus einfach. „Ein königlicher Palast", schreibt er, „ist zu cnge für den, der für sich selbst lebt, undeinekleineHLtteherrlichund groß für den, der dem Herrn lebt". Daß er mit den katholischen und evangelisch-lutherischen Geistlichen mehrfach in Streit kam, auch von den reformirten befehdet wurde, daß man sogar von der Kanzel herab gegen ihn eiferte, betrübte ihn, konnte ihn aber in seinem Wirken nicht einschllchtern. Einen begeisterten Mitwirkenden erhielt er in dem reformirten Stu denten der Theologie Jacob Chevalier aus Amsterdam. Als er mit ihm eine Versammlung in Spilldorf hielt, wurden ganze Pilgerzüge dahin unternommen. Er schreibt an eine Freundin d'Orville darüber: „Da kamen wohl 300 bis 400 Menschen bei sammen, und weil das Haus bis an die Thür voll war, so nahmen sie Leitern, um damit in die Fenster zu steigen." Umsonst suchten die Geistlichen bei den Regierungen ein Verbot der Versammlun gen zu erwirken. Mit Ruhe erklärte Tersteegen, die Regierung könne doch eine fromme Versammlung nicht verbieten, wenn sie Gelage dulde. Die körperliche Gesundheit Tersteegens wurde freilich durch seine Reisen und die von ihm in intensivster Weise geübte Armen pflege erschüttert. Im Jahre 1756 mußte er wegen Kränklichkeit die Reisen einstellen. Nun begannen die Wallfahrten nach Mühl heim und oft waren schon 50 bis 60 Personen in seinem Hause, wenn er sich vom Bette frühmorgens erhob. Sein Lebensabend blieb heiter. An schönen Tagen weilte er gern unter einem Baum in einem Wäldchen bei Mühlheim, dem „Tersteegen- Däumchen", wo er sich stillen Betrachtungen hingab. Dort dichtete er auch das schöne Lied: „Süßer Schatten, bunte Wiesen, Wie vergnügt ihr meinen Sinn!- u. s. w. Bis an sein Lebensende blieb er demüthig und bescheiden. Eine reiche Holländerin wollte ihm Pferde und Wagen schenken, er wies das Geschenke zurück. Ebenso ging es einem Holländer der ihm zehntausend Gulden überbrachte. Die Tochter eines Recht-gelehrten Schütz in Frankfurt a. M. wollte ihm ein Ver mögen von 40 000 Gulden übergeben, um seine Bedürfnisse davon zu bestreiten. Er lehnte es ebenfalls ab. Sie schenkte das Geld dann der Stadt Homburg, wo noch heute die Schütze'sche Stiftung existirt. Tersteegen wollte mit Verwaltungen und Anlagen bei seiner Kränklichkeit nichts zu thun haben. Er blieb aber thätig bis zu seinen letzten Lebensmomenten. Auf seinen Tod war er vorbereitet. Sein sorgfältiges Testament versah er am 19. März 1769 noch mit einer Nachschrift, da einer der Erben verschieden war. Keine Todesfurcht beschlich ihn. Er lebte in seinem Liede: „Bleib stets in Gott gekehret ein, Gott lieben ist dein Werk allein, Sonst sorge nichts, laß Gott nur machen, Er selbst bestellet deine Sachen!- Am 3. April 1769 starb er, tief betrauert von seinen Freunden und Verwandten. Tersteegen war ein Mystiker der nachreforma- torischen Zeit. Aber er zerfloß nicht in eitlen Schwärmereien, er ging nicht auf in dunklen, geheimnißvollen, verworrenen Ge fühlen. Mit den Herrnhutern trat er, obwohl er ihr Bestreben hoch achtete, in keine nähere Verbindung. Wer mit ihm die Liebe zu Christo theilte, war ihm willkommen, mochte er Katholik, Lutheraner oder Reformirter sein. Von seinen Schriften sind „Das Blumengärtlein", „Die Brosamen" und „Der Weg der Wahrheit", seine trostreichen „Gebete" und „Briefe" hervorzu heben. In acht Bänden erschien 1845 eine Gesammtausgabe seiner Werke in Stuttgart 1851 eine Biographie Tersteegen's von Kcslen, der auch „Gedanken Tersteegen'-" herausgab. In dem zuerst genannten Werke, dem .Blumengärtlein", tritt uns Ter steegen als Liederdichter entgegen. Er zeigt sich auch da wie Knorr von Rosenroth und Quirin Kuhlmann als Mystiker und hat viel Aehnlichkeit mit Scheffler. Das Buch enthält 111 geist liche Lieder in einfacher, doch edler Form, voll kindlicher Frömmig keit, und viele derselben sind noch in den Gesangbüchern zu finden. Dahin gehört das Weihnachtslied: „Jauchzet ihr Himmel", da- Himmelfahrtslied: „Siegesfürst und Ehrenkönig", „Jesu, Du bist alleine", Gott ist gegenwärtig", das fiimmungsreiche Abendlied: „Nun sich der Tag geendet", daS innige JesuSlied: „Ich bete an die Macht der Liebe", und das licbrSgewrihte Trostgedicht: „Kommt, Christen!" „Kommt Christen, laßt uns gehen, Ter Abend kommt herbei, C- ist gefährlich stehen Ja dieser Wüstenei! Kommt, stärket Euren Muth, Jur Ewigkeit zu wandern, Von einer Kraft nir andern Und denkt: La» End' ist gutl-
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite