01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 26.11.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-11-26
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971126018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897112601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897112601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-11
- Tag1897-11-26
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Die Mvrgen-AuSgabe erscheint um '/,7 Uhr, dl: Abend-Ausgabe Wochentag- um b Uhr. Filialen: klts klemm'» Lorlim. lAlfred Hah»), UniversitätSslrabe 3 (Paulinum), Loni» Lüsche, Katbarineustr. 14, Part, und Kbnig-platz 7. Nedaclion und Erpe-itioa: AohauneSgasse 8. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» Abends 7 Uhr. Bezugs-Preis tn der Hauptexpedition oder den im Stadt» bezirk »nd den Vororten errichteten AuS- gabestellen ab geb alt: viertetjü-rIich.^l4.50, hei zweimaliger täglicher Zustellung ins van» SLO. Durch die Post bezogen für Teulichland und Oesterreich: vierteljährlich 8.—. Dirrcte tägliche Kreuzbandirndung ins Ausland: monatlich .E 7.50. Morgen-Ausgabe. MpMcr. Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- «nd Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes «nd Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Mnzeigen-Prei- d-e 6 gespaltene Petilzeile SV Pf-. Steclamen unter dem Redactionsstrich (4g— spalten) 50--, vor den Familiennachrichten (6gespalten) 40^. Größere Schriften laut uu'rrem Preig- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Taris. Extra-Veilagcn (gesalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe , ohne Postbrsörderung 60.—, mit Postbesörderuug -»l 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: BonnittagS 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen ze eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedit«»» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. «03. Freitag den 26. November 1897. 81. Jahrgang. „MittetkandspoMik." K Wir baden kürzlich eine Kritik an die Meldung der „Frkf. Ztg." geknüpft, wonach von Berlin aus an die Milikair- cantinen ein Circular versendet wurde, da» die Pächter unter Berufung auf einen «Allerhöchsten Wunsch" auffordert, ihren vollen Bedarf an Cigarren von einer Berliner Firma zu beziehen, die unter der Leitung eines Generals stehe. Die Sache hat in allein Wesentlichen ihre Nichtigkeit. Die Firma nennt sich Cigarren Magazin für Heer und Marine „kro ?ktrin" Hern«. Schönwetter." Sie führt aber noch den Zusatz: „in Aufsicht: Kgl. Preuß. General a. D. v. Baczko." Wir entnehmen diese Angaben drei Circularen, mit deren Zusendung uns die Firma beehrt. CS ist aber nicht erkennt lich und nicht wahrscheinlich, daß das Eingangs erwähnte Circular an die Militaircantinen sich unter denjenigen befindet, in die uns Einsicht ermöglicht worden ist. Deshalb können wir nur feststellen, daß Vie directe Berufung auf einen Allerhöchsten Wunsch in den uns vorliegenden Circularen sich nicht findet. Eine dieser Geschäfisempfeblungen enthält aber viel mehr als einen Wunsch, nämlich die Andeutung, daß ein Allerhöchster Befehl vorliege, dem neuen groß- capitalistischcn Unternehmen den Cigarrenverkauf in den Cantinen und darüber hinaus zu monopolisiren. Es beißt nämlich: „Sollten Angriffe oder abfällige Urtheile über unser braves (I) Unternehmen ergehen, so zerfallen sie doch in Nickis, denn jeder Einwand der Concurrenz wird vollständig zu Nichte (diese drei Worte sind im Original fett gedruckt) gemacht durch die Allerhöchste Bestimmung über das Cantinenwcscn, welche lautet: Die Cantinen sind errichtet im Interesse der Mannschaften, folglich sind die Cantinen angewiesen, da einzukaufen, wo dies am besten geschehen kann." Natürlich wird „dargethan", daß dieSnur bei dem empfohlenen Geschäft geschehen könne. Nun ist eS in unserer Zeit der unerschrockenen Reclame vielleicht nicht unmöglich, daß eine Handlung ohne Ermächtigung durch eine Berufung in solcher Form für sich vortheilhasle Borstcllungen bei dem Publicum zu erwecken wagt. Aber absolut ausgeschlossen ist es, daß ein „Kgl. preußischer General", wenn auch ein General außer Dienst, ein solches Verfahren beobachtet. General v. Baczko figurirt aber nicht nur auf einem der unS gesandten Circulare in der Firma, eins der anderen trägt seine (gedruckte) Unterschrift, und zwar eben dasjenige, in dem gesagt wird, jedes abfällige Urlbcil über das neue Cigarrcugeschäfl müsse an einer Allerhöchsten Bestimmung zu Nichte werden. Eine mißbräuchliche Be rufung auf die oberste Stelle im Heere ist also nicht mehr anzunehmen, man hat cs offenbar in der Thal mit einem Bejebl oder doch mindestens mit einem gleichkommenden Wunsche zu thun. Für die Beurtbeilung und zwar vom Standpuncte deS öffentlichen Interesses, nickt nur von dem der „Concurrenz", beansprucht eS selbstverständlich gar keine Bedeutung, daß Herr Schönwetter fein Engrosgeschäft ein „in jeder Hinsicht patriotische-" Unternehmen und sogar „eine gemeinnützige Anstalt und^eine Wohlthat für unser Heer und Marine" nennt, und daß Herr General a. D. v. Baczko sich in seinen Empfeblungsworten eines ähnlichen Ausdruckes bedient. Herr Schönwetter ist nach seiner eigenen Angabe alleiniger Inhaber der Firma, die sich dadurch als ein auf Gewinn abzielendeS Geschäft wie jede» andere charak- rerisirt. Wenn er verspricht, billiger zu liefern als die Concurrenz, so wird er dazu, wenn überhaupt, doch nur aus dem Grunde im Staude sein, weil ihm durch einen Druck von oben ein Massenabsatz garantirt wird, wie er dem auf die Werbekrast rem wirthschastlicher Vorzüge seiner Waaren angewiesenen sonstigen Handelsstande unerreichbar ist. Aber dieser Umstand nimmt das öffentliche Interesse für das unter dem Namen „kro katriu" für sich lukrirende Geschäft in Anspruch. Es geht nicht an, daß die Militairverwaltung ohne ein dringliches militairischeS Interesse ihren langen Arm einem Kausmanne leiht, um diesem die schwere Schädigung einer Reihe von mittleren geschäftlichen Unternehmern, von Steuer zahlern, zu ermöglichen. Es ist an dieser Stelle schon hervor gehoben worden, raß eS der Militairverwaltung nicht obliegen kann, sich in den Bezug eines Luxusartikels durch die Militair- angehörigen zu mischen, und daß sie, wenn sie dennoch dazu in der Lage und gewillt wäre, der Bevorzugung des gesünderen und billigeren Rauchtabaks in der Armee Vorschub leisten müßte. Tabak aber führt die privilegirte Firma laut ihrem PreiS- verzeichniß gar nicht, und was sie zur Anpreisung ihrer Cigarrenlicferungen vorbringt, erschöpft sich in der Hauptsache in einer verzwickten Polemik gegen die von ihr (der Firma) angeblich früher selbst beabsichtigte Gründung einer Actien- Gesellschaft, welche nach der Meinung deS Herrn Schön wetter „Armee und Marine" schlechter bedient haben würde, als daS Cigarrenmagazin „Uro katria" in seiner jetzigen Verfassung. DaS mag ja sein, aber eine wirkliche und nicht nur scheinbar bessere Bedienung, als sie durch freien Wettbewerb stattfindet, kann von dem neuen Geschäfte selbst durch sein Privilegium nicht gewährleistet werden. Monopol und Consumentenvortheil vertragen sich schwer mit einander. Wie schon bemerkt, es bat für die Oeffentlichkeit nichts Begütigeudes, daß ein „Königlicher General" daS Geschäft „beaufsichtigt". Weiß man doch nickt einmal, welche Stellung er in dem HandlungShause einnimmt, ob er Procura hat oder nicht. „Aussicht führen" ist kein handelsrechtlicher Begriff. Herr Schönwetter ist sogar bemüht, ein Zwielicht über die Stellung des Generals zu verbreiten. Eine seiner, mit der Schreibmaschine geschriebenen Zusendungen an unö trägt am Kopfe die Firma seines Geschäfts, mit dem schon erwähnten, nickt einmal durch einen Punct und einen großen Anfangs buchstaben von dem Firmennamen getrennten Zusatze: „in Aufsicht: Kgl. Preuß. General a. D. v. Baczko". Hier erscheint der Herr General also innerhalb Les Firmen namens. Die Unterschrift desselben Schreibens trägt den (geschriebenen) Namen des Herrn Schönwetter und gestempelt noch einmal die ganze lange am Kopfe befindliche Firma, außer dem Herrn von Baczko aufsührenden Zusatze. Das ist doch nicht mehr eindeutig zu nennen. Wir wiederholen den Ausdruck der Zuversicht, daß der Reichstag sich mit der der Volksthümlichkeit der Armee in weiten Kreisen des Mittelstandes nicht dien lichen Neuerung beschäftigen und etwas weniger Ver trauensseligkeit bekunden werde als s. Z. in der An gelegenheit von Lieferungen deS „Waarenhauses für Armee und Marine" für Colonialzwecke. Daß dieses Unter nehmen hinter „kro I'ntrirL' steckt, ist, beiläufig bemerkt, eine Vermnthung, die sich nach Einsichtnahme in die Circulare des Herrn Schönwetter in uns nur noch bestärkt hat. Wenn der Reichstag der Sache näher tritt, so wird man sich Wohl auch erkundigen, ob Herr Schönwetter auch in der bayerischen Armee Begünstigungen erfährt. Das „WaarenhauS für Armee und Marine" darf gemäß einem Machlworle des Prinzregenten seine Polypenarme nickt über die bayerische Grenze strecken, und es geht dort auch so. Die bayerischen Officiere leben nicht theuerer als die der übrigen Contingenle; in« Gegentbeil. Auch hinsichtlich des „Cigarren-Magazins für Heer und Marine" wirb man Wohl an dem bayerischen Verhalten den Grad des „Bedürfnisses" für das neue Privilegium ermessen können. Deutsches Reich. Berlin, 25. November. Die Voraussetzung des social demokratischen Programms ist die Zunahme des Elends und der Ausbeutung der Mittelschichten, die Erweiterung des Ab grunds zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, die fort gesetzte Verelendung der Massen. Eine schlagende Zurück weisung ergab schon die unlängst veröffentlichte Statistik über die Besitz- und Einkommensverhällnisse in Preußen, die zweite liegt jetzt vor in der amtlichen Aufstellung der Er gebnisse der preußischen Sparkassen am Schluß deS Rechnungsjahres 1896/97. In diesem letzten Zabr ergab sich eilt Spareinlagen - Bestand von 4655 Millionen Mark, 309 Millionen Mark mehr als im Vorjahr, wo der Zuwachs 345 Millionen Mark betrug. Alle früheren Jahre werden dadurch übertroffen. Bemerkenswerth ist, daß 121 Millionen Mark durch Zuschreibung von Zinsen neu hinzukamen. Der Gesammibetrag der Neueinlagen bezifferte sich auf 1185 Millionen Mark. Die Zahl der Sparkassenbücher hatte ge^en das Vorjahr um 384 255 zugenommen und betrug msgesammt 7 126 919 Stück. Fast ein Drittel davon enthielten Einlagen bis 60 ein Sechstel Einlagen von 60—150 -6, ein Sechstel Einlagen von 150—300 Damit ist der Beweis geliefert, in welchem Maße gerade in minder be güterten Kreisen der Sparsinn zugenommen hat und zwar, was besonders erfreulich ist, iu weit höherem Maße als die Zunahme der Bevölkerung. Es wird aber auch dadurch erklärlich, warum sich die socialdemokratische Führung mit solchem Eifer gegen Elemente im Arbeiterstande, wie der frühere badische Abgeordnete Stegmüller, wendet, die ihre Mitarbeiter mahnen, durch Betriebsamkeit und Sparsamkeit die Hebung ihrer Lebenshaltung und Unabhängigkeit herbei zuführen. (-) Berlin, 25. November. Die nltramontane „Germania" benutzt jede Gelegenheit, um dem BundeSrathe dringend an- zurathen, dem ReickstagSbeschlusse über das Jesuitengescy Folge zu geben. So schreibt sie in ihrer gestrigen Abend ausgabe: „Die Centenar - Erinnerungsmedaille kann, wie wir mitgetheilt haben, auch an Damen verliehen werden, die iin Feldzuge als freiwillige Krankenpflegerinnen Ihätig gewesen sind, sie wird also wohl auch an freiwillige Krankenpfleger verliehen werden können, wenn diese einen solchen Antrag stellen. Wie steht cs nun aber mit den freiwilligen Feldgeistlichen? Man wird uns antworten, daß einer Verleihung der Centenar - Erinnerungs medaille auch an diese nicht nur nichts im Wege stehe, sondern diese lediglich eine naheliegende Conscqueuz sei. Gut; dann aber haben auch die Jesuiten, die als freiwillige Feldgeistliche oder im Dienste der freiwilligen Krankenpflege den Feldzug von 1870, 71 mitgemacht haben — einige haben sogar in Anerkennung ihrer her vorragenden Thätigkeit das Eiserne Kreuz erhalten — nun auch einen berechtigten Anspruch auf die Centenar-Erinnerungsmedaille, die für sie — denn so hat „das dankbare Vaterland" ihre Ver dienste belohnt — zugleich eine „JubiläumS"-Erinnerung an ihre fünsundzwanzigjährige Verbannung aus dem deutschen Vater lande sein würde. — So tritt das Widerspruchsvolle uird Un geheuerliche des Jesuitengesetzes immer wieder vor die Augen. Wird der Bundesrath nun nicht endlich Lein Reichstagöbeschlusse ans Aushebung des Jcfuitengesetzes zustimmen?" Während die „Germania" wiederum die alle Lüge von der Verbannung der einzelnen Jesuiten auflischt, hält der Iesuitenpater Professor I)r. Pesch in München einen Vor- tragScykluö über die sociale Frage. Unter der sehr zahlreichen Zuhörerschaft bemerkte ein Berichterstatter auch eine Anzahl von Mitgliedern der Centrnms- partei der Zweiten Kammer, die Abgg-I)r. Pichler, Pfarrer Kohl, Aichbichlcr u. A. Wenn diese Herren demnächst über die „verbannten" Jesuiten Thränen vergießen sollten, verdienten sie, daß für sie eine neue Medaille geprägt werde, die auf dem Avers ein Krokodil, auf dem Revers den Kopf Les Ignatius von Loyola trägt. Die „Germania" hat selbst verständlich Anspruch auf ein Redactions-Exemplar. * Berlin, 25. November. Das vom ReichStagsbureau herausgegebene amtliche Reichstags-Handbuch enthält u. A. kurze Biographien, welche bei fast allen Abgeordneten die Religionszugehörigkeit erkennen lassen. Ein recht interessantes Bild gewährt in dieser Beziehung die social demokratische Fraction. 39 der 48 Mitglieder zählenden Fraktion haben zur Charakterisirung ihrer religiösen Anschau ungen neun verschiedene Bezeichnungen gewählt, bei neun, zumeist nachgewählten, fehlen die Angaben. Die stärkste Gruppe der Fraction bilden die „Dissidenten", welche 11 Anhänger verzeichnen: Bock, Frohme, Geyer, Hofmann, Kühne, Reißhaus, Schmidt (Sachsen), Schmidt (Berlin), Schumacher, Seifert und Zubcil. „ Co n fessionslos " sind sieben Mitglieder: Legien, Liebknecht, Metzger, Möller, Schmidt (Frankfurt), Tutzauer und Vogtherr; „ FreireligiöL" die Abgeordneten Herbert, Klees, Kunert, Stolle, Ulrich; zu diesen rechnete sich auch der jüngst verstorbene Grillenberger. Feurllstsn. Der Proceß Calos. Bou Ernst Spohr (Berlin), vrrboun. Vielfach ist, seitdem der Fall Dreysus inner- und außerhalb Frankreichs die Gemüther wieder beschäftigt, auf die Aehnlichkeit Lieser vielbesprochenen Affaire mit dem Proceß Calas hinge wiesen worden, der um die Mitte de» vorigen Jahrhunderts so un geheures Aufsehen erregte. Wieweit diese Aehnlichkeit thatsächlich vorhanden ist, wird eine kurze Betrachtung jenes berühmten Ge richtsfalles leicht erkennen lasten. Aber auch ohne diese An knüpfung an ein actuelles Tagesereigniß bietet jener ältere Proceß (der Proceß Ziethen in der Gegenwart auch) des Eigenartigen und Ergreifenden genug, um einer gelegentlichen Medererzählung werth zu erscheinen. In Toulouse, der alten Hauptstadt de» Languedoc, die in der Religionsgeschichte durch die Albigenserkriege und die grau samen Hugenottenverfolgungen des 16. Jahrhundert» eine so un heilvolle Rolle spielt, wurde am 13. Octobec 1761 Abends um die zehnte Stunde der älteste Sohn des TuchhändlerS Jean Calas, Marc-Antonie, im Laden seines Vaters todt aufgefunden. Er hatte noch kurz zuvor mit seinen Eltern und Geschwistern und einem zufällig anwesenden Gast« aus Bordeaux da- Abendbrod eingenommen, Ivar nach der Mahlzeit hinausgegangen und nicht wiedergekehrt. Al» gegen zehn Uhr der Gast aufbrach und von Pierre, dem zweiten Sohne des Hause-, mit dem Lichte die Treppe hinabgeleitet ward, sahen sie die Thiire zum Laden ge öffnet und in diesem selbst, an einem Querholz aufgehängt, Marc- Antoines Leichnam. Keinerlei Spuren deuteten auf ein Ver brechen: vielmehr ließen die sorgfältig zusammengefalteten Ober- lleidcr, die bei Seite lagen, erkennen, daß der junge Mensch sich selbst das Leben genommen hatte. Auf die entsetzten Schreie der beiden Männer lief da» Hau» zusammen, der alte Calas nahm sofort die Leiche ab und brachte sie auf den Ladentisch, die Mutter rieb da» Gesicht des Tobten mit Estenzen, in der Hoffnung, ihn zu sich zu bringen, Pierre eilte nach einem Wundarzt, der den Tod durch Erdrosselung oder Aushängen feststellte. Die Kunde de» Ereignisse» verbreitete sich blitzschnell in der Nachbarschaft, aber auf Geheiß des alten Sala», der schmerzbetäubt nur an die Wah rung seiner Familienehrc dachte, wurde den Leuten zunächst die Thatsoche de» Selbstmorde» verheimlicht; denn in jenen Zeiten galt der Selbstmord noch als ein entehrendes Verbrechen, die Leiche des Selbstmörder» wurde nackt durch die Straßen ge schleift und dann ausgehängt, sein Vermögen verfiel der Confis- cation, seine Familie der Schande. Diese unbesonnene Verschleierung de» Thatbestandr», so be greiflich sie war, sollte die furchtbare Katastrophe über die unglück liche Familie heraufbeschwören. Thatsächlich sprachen Gründe genug dafür, daß Marc-Antoine seinem Leben freiwillig ein Ende gemacht habe. Er hatte die Rechte studirt und sein Examen bestanden, sah sich aber durch sein hugenottisches Bekenntniß von der Advocatenlaufbahn ausgeschlossen und muhte gegen seine Neigung in das Geschäft seines Vaters eintreten. Unzufrieden damit, begann er sich dem Spiele und dem Trunk zu ergeben und versank mehr und mehr in Trübsinn: In einem Anfall dieser Art scheint er sich schließlich entleibt zu haben. Außer ihm hatte Jean Calas noch drei Söhne, von denen der mittlere, Louis, sich hatte bewegen lassen, zum Katholicismus überzutrcten, und in folge dessen mit seiner streng protestantischen Familie zerfallen war; der jüngste, Donat, befand sich in Nlmes in der Lehre. Sobald es nun ruchbar wurde, daß Marc-Antoine ermordet worden sei, meldete sich im Volke der alte Hugenottenhaß: Stim men wurden laut, die die eigenen Angehörigen der Mordthat be schuldigten, weil sie hätten verhindern wollen, daß auch dieser Sohn zum Katholicismus übertrete. Die herbeigerufene Magi stratsperson machte kurzer Hand diese bloße Vermuthung zur Ge wißheit und ließ die ganze Familie Calas, sammt dem Gaste des Abends, der katholischen Magd und einem zufällig herbeigeeilten Freunde des Hause», verhaften. Unglücklicherweise hatten alle der Bitte des alten Vaters entsprochen und ausgesagt, sie hätten die Leiche auf dem Ladentisch ausgestreckt vorgefunden. Es half nichts, daß der alte gichtgelähmte Vater unmöglich an der an geblichen Mordthat betheiligt sein konnte; daß Pierre Calas den ganzen Abend über das Familienzimmer nicht verlassen hatte; daß die Magd eine strenge Katholikin war, die den jüngeren Sohn Louis durch ihre Ueberredung zum Convertiten gemacht; nichts, daß der anwesende Gast des Hauses erst am selben Tage aus Bordeaux gekommen und zufällig von Baker Calas eingeladen worden war. Der Fanatismus der Bevölkerung, der sich in Toulouse stets besonders heftig gezeigt hatte, war einmal entfesselt und ließ seine Opfer nicht mehr los. Das Gerichtsverfahren, was man damals so nannte, wurde eröffnet, aber weder wurden Entlastungszeugen dabei zugelaffen, noch den Angeklagten irgend welche Möglichkeit gegeben, ihre Unschulo durch entlastende Thatsachen nachzuweisen. Während dessen blieb der Leichnam Marc-Antoine» unbeerdigt in der Folterkammer des Stadthauses stehen, da die Art seines Begräb nisses erst von dem Au-gang der „Untersuchung" abhing. Schließ lich ordnete dee Untersuchungsrichter au» eigener Willkür die kirchliche Beisetzung an, die sich alsbald zu einer riesigen Demon stration für den vermeintlichen Märtyrer gestaltete. Vierzig Priester schritten dem Sarge voran; die Brüderschaft der „weißen Büßer", der Louis Calas sich nach seinem Uebertritt angeschlofsen hatte, folgte ihm mit Banner und brennenden Kerzen: sie nahm damit in aller Form den neuen Heiligen für sich in Anspruch, von dem auch schon allerhand Wundergeschichten cursirten. Am 18. November, fünf Wochen nach der Verhaftung der Cola», wurde das Urtheil gesprochen: es lautete auf „ordentliche und außerordentliche Tortur" für Jean Calas, den Vater; die klebri gen sollten nur „zur Folter präsentirt" werden, ohne sie zu er leiden. Ein sinnloses Urtheil, wenn man erwägt, daß der ge brechliche Greis an dem Verbrechen direct gar nicht betheiligt sein konnte! Trotzdem war der Procureur damit nicht zufrieden: er sowohl als die Verteidigung appellirten an das Parlament.*) Mittlerweile hatte der ganze Proceß mehr und mehr den Cha rakter eines großen Religionsprocesses angenommen, bei dem der ganze Protestantismus auf der Anklagebank saß. Es wurde allen Ernstes behauptet, die Lehre Calvins schreibe ihren An hängern vor, ihre abtrünnigen Kinder zu tödten und der Advocat Sudre, der die Calas vcrtheidigte, mußte von der Genfer Fa- cultät eine officielle Erklärung über diesen Punct einfordcrn. Eine scharfe Protestschrift des Pastors Paul Nabaut wurde durch Ge richtsbeschluß dazu verdammt, von Henkershand zerrissen und öffentlich verbrannt zu werden. Dis zum 9. März 1762 zogen sich die Beratungen des Parlaments hin; aber auch dann noch fehlte eine Stimme an der Mehrheit, die sich für das Todesurteil aussprach, erst nach langen Verhandlungen wurde sie gewonnen. Die Vollstreckung ließ nicht auf sich warten. Der alte Calas ward der ordentlichen und außerordentlichen Tortur unterworfen, ohne von der Beteuerung seiner Unschuld abzuweichen. Dann mußte er im Büßerhemd öffentlich Kirchenbube thun und schließlich wurden ihm vom Henker mit einer Eisenstange die Glieder zer schmettert. Alle Versuche, ihn vor seinem Tode zu einem Ge- ständniß seiner Schuld zu bewegen, blieben fruchtlos; selbst die beiden Dominikaner, die ihn aufs Schaffst begleiteten, waren von seinem Heldenmuth ergriffen. Besser erging es den übrigen Angeklagten. Sie wurden frei gesprochen bis auf Pierre, der zu „ewiger Verbannung" verur- theilt wurde, nachdem er zuvor den protestantischen Glauben abgeschworen hatte. Aber auch dieses Urtheil wurde nur schein bar vollstreckt, denn nachdem der junge Mann vom Henker zum Stadtthor hinausexpedirt worden war, nahm ihn ein Domini- kanerpatcr in Empfang, um ihn heimlich ins Kloster zu bringen. Damit war das ganze Verfahren logisch ml »b8urckum geführt. Denn, wie Dryander in seiner Darstellung des Processes treffend bemerkt: „war Pierre der Mörder, wie konnte er nur verbannt werden? War er es nicht, warum wurde er verbannt? Waren die Anderen unschuldig, so mußte es auch Pierre sein; dann aber war auch der Vater unschuldig gerichtet, es wäre denn dos Un mögliche möglich, daß der Vater den Sohn allein tödtete, ohne daß Einer von den Anderen es merkte." Das sah auch ein Thril des PublicumS ein, und der Spruch des Parlaments wurde bald ein Gegenstand der Verspottung. Dennoch dauerte cs ein volle» Jahr, bis dem gemordeten Jean CalaS ein Rächer erstehen sollte. Kein Geringerer als Vol taire war es, der in seinem Tusculum Ferney an der fran- H ES ist hier natürlich das Provinzparlament von Languedoc gemeint, daß älteste in Frankreich nächst dem von Paris, das im Wesentlichen nur ein höherer Gerichtshof war. Ein Parlament im modernen Sinne gab es bekanntlich in Frankreich vor der Revolution noch nicht. zösisch-schweizerischen Grenze von den Einzelheiten de» Processes erfuhr und sich gegen den brutalen Rechtsbruch der Fanatiker von Toulouse mit der ganzen Gewalt seiner Persönlichkeit empörte. Einmal von der Ueberzeugung erfaßt, daß hier ein Justizmord vorliegc, sammelte er mit einem wahren Feuereifer in aller Stille Material zu einer Vcrtheidigung, bot seinen ganzen Einfluß aus, der Sache Gönner zu gewinnen und wußte zuletzt auch die geäng stigte Wittwe des alten Calas zu bewegen, daß sie gegen das Par lamentsurtheil Berufung an den großen Rath des König» ein legte. Dann begann er durch geschickt begeisterte VeröffenUichun gen die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen unv die Wider spräche und Lücken des Verfahrens zu beleuchten, derart, daß in der That Ludwig XV. am 7. März 1764 die Wiederaufnahme des Processes befahl und die Acten aus Toulouse nach Paris bringen ließ. Am 4. Juni wurde das erste Urtheil für ungiltig erklärt und eine neue Untersuchung eingcleitct, die volle 9 Monate währte. In Toulouse herrschte darob die größte Aufregung; man sträubte sich mit Gewalt gegen die Möglichkeit eines Rechlsirrthums und Voltaire wurde mit anonymen Verwünschungen und Drohbriefen überhäuft. Endlich am 10. März 1766, genau am 3. Jahre tage der Hinrichtung, wurde da» Urtheil gefällt, das diesmal einstimmig auf Freisprechung sämmtlichcr Ange klagter lautete. Den Hingerichteten Vater freilich konnte dieser zweite Rechtsspruch der unglücklichen Familie nicht wiedergeben, aber wenigstens wurden sie für ihren materiellen Ruin einiger maßen durch ein königliche» Gnadengeschenk von 36 000 Lire ent schädigt. Den größten Triumph aber feierte Voltaire, der da mals Siebzigjährige, der sich rühmen durfte, diesen Act au- gleichender Gerechtigkeit herbeigeführt zu haben; das Ergebnis- jener Action war seine berühmte Schrift: „Tractat über die Toleranz." Wenn man jetzt in Frankreich den Fall Calas mit dem Fall Dreyfu» in Parallele setzt, so sind die Aehnlichketten ziemlich äußerlicher Natur. Sie beruhen vor Allem in dem einseitigen Gerichtsverfahren, das hier wie dort dem Angeklagten jede Mög lickkeit abschnitt, entlastende Beweise herbeizuschafsen; ferner in der Fanatisirung der öffentlichen Meinung', die ihr Opfer be gehrte und haben mußte, wobei dort der Prolestantenhaß, hier der Deutschenhaß wider den vermeintlichen Spion die Triebfeder bildete; endlich darin, daß sich einige Jahr« nach der Vollstreckung des Urthcils ein Mann findet, der unerschrocken für die Unschuld deS Verdammten eintrltt und damit die öffentliche Meinung theils in Wuth, theils in Spannung und Exstase verseht. Allerdings wird man Herrn Sckeurer-Kestner nickt gerade mit dem Verfasser der ..Henriade" und des „Candide" in Vergleich bringen können; das schließt aber nickt aus, daß auch er für den Verbannten auf der Teufelsinsel einen ähnlichen Erfolg erkämpft, wie vor 130 Jabren Voltaire für die Familie des hugenottischen TuchhändlerS.
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