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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.11.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-11-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971101028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897110102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897110102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-11
- Tag1897-11-01
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VezrrgS'PreiS ptexveHttiiNl oG<r Ho tm «d dr« voryrto «kicktet«» Aus- aiarholt: vt«rtrljidrüch^l4^0, üüur täglicher 8»st«ll»»g ür» «. r>urch Hie Post hnoy«, für De»tfchl««d »nd Oesterreich: vierteljährlich Dtrecir täglich» Kreujbandieaduog t>B A«Al«ld: m»««tlich 7chü. HS,Mov»>W^-«b« »rschriut »m '/,? Uhr, Ht» <boH-L»»ß«b« Wochentag« u« 5 Uhr. Reößrtts» vu- LkpeLitisy^ -»h«««««» 8. HieGtzpeLitt»« ist Wochentag» an«vt*rbr^he» Wöffiret vo» früh S bi» Sbevd» ? Uh». Fttiale«: vtt» Kl«»»'« G-rti«. lLlfrrb H-h»), U»iversität»srrabe 3 iPanltmunI r»«t» e-kch». V-ch-ch«»-. Ich »«ch «ch »»NigDp^tz Abend-Ausgabe. MpMer JaMatt Anzeiger. Amlsökatt -es Aönigkichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Vokizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. Anzeigett'PreiS Hie Sgespaltme Petitzeile 20 Pfg^ Reklame« u»t»r dem NedartionSstrich (4ga» spalt««) ÜO-^, vor den Familirnnachricht« (Sgr,palte«) 40^. Größere Schriften laut unferem Preis« verjelchniß. Tabellarischer und Zifsernja» «ach höher,« Tarif. 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Man kann e- tadeln, muß aber anerkennen, daß es in der menschlichen Natur liegt: keine Episode in dem doch schon ziemlich langwierigen DasetuSkampfe der Deutsch- Oefterretcher hat die Gemütber so lebhaft beschäftigt, 'wie die mit der geistigen Anstrengung mindestens den Vergleich auShaltendea körperlichen KraftleistungdeS wackeren ReichsralbS- abgeordneten vr. Lecher. Wenn die Deutschen im Wiener Reichsrath schon nach englischen Mustern arbeiten müssen — und wir glaube«, sie befinden sich in dieser Zwangslage — so ist es erfreulich, daß sie das gründlich besorgen, und in unserer Zeit der sportlichen Neigung begreiflich, wenn das Ueberholen aller fremden Vorbilder die Sympathien für die Oestcrreicher ausbreitrt und verlieft. Dir Autbeilnabme an ihren Geschicke» hätte freilich schon vor der längstenParlamenlSretc derGesckichte in Deutschland gar nicht sieigerungefähig sein sollen. Aber eS ist nicht zu verkennen, daß bei unS zwischen internationaler Correctheit und der Bekundung der Volksgemeinschaft den Deutschösterreichern gegenüber nicht immer scharf genug unterschieben wird. Daß die officiellen Körperschaften, insbesondere die Parlamente, die Kämpfe im Tonaureiche als eine innerösterreichische Angelegenheit zu betrachten haben, ist eine nothwendige, erst kürzlich hier betonte Forderung. Man muß auch das Verhalten der deutschen Negierungen billigen, die das Hinüberlragen österreichischer Veranstaltungen auf reich-deutsches Gebiet nicht geduldet haben, wenn auch der Zwang, den aus beimathlichem Boden vergewaltigten Stammes- genossen auf deutscher Erde abwehrend entgegenzulreten, uns mit Schmerz erfüllt. Den einzelnen Oeslerieicher, der bei unS sein Herz auSschülten möchte, darf Deutschland, voraus gesetzt, daß er sich der aus dem Gastrechte hervorgehendeu Pflichten bewußt ist, mit brüderlichem Gruße empfangen. Die „Köln. Ztg." scheint in einer von unS wiebergegebenen — von den „Hamb. Nachr." allerdings gutgeheißenen — Aus lassung über die Absicht österreichischer NeichSratbsabgeordneten, in einer öffentlichen Versammlung in Berlin über die Lage der Deutschen in Oesterreich zu sprechen, die Correctheit zu übertreiben. Es ist zu begreifen, daß der deuischen Regierung der Besuch unbequem ist, aber als eine ihr bereitete politische Verlegenheit würde sie ihn auch dann nicht bezeichnen können, wenn sie nicht in der Lage wäre, mit tschechischen, nach Frankreich verpflanzten Kundgebungen, die zum Theis von officiellen Persönlichkeiten aus gingen und sich unter Andern« gegen den Dreibund richteten, ohne deswegen ein erkennbares Mißfallen der österreichischen Regierung hervorzurufen, Vergleiche anzustellen. Die Tbeilnahme von Oeslerreichern an einer reichsdeutschen Veranstaltung ist etwa- ganz Anderes, als eine österreichische Versammlung auf deutichem Gebiet, und die „Köln. Ztg." trifft die Sache nicht, wenn sie sagt: „WaS würden wir wohl dazu sagen, wenn deutsche Reichstagsabgeordnete, die in scharfem Gegensatz zur ReichSregierung stehen, sich zu öffent lichem Auftreten in Oesterreich entschlössen, um sich dort frische Kraft zu ihrem Kampfe gegen die heimische Regierung zu holen?" Die Oesterreicber kommen vor allen Dingen nicht al- ReickSratbSabgeordnete, sondern al» Deutsch österreicher, als Angehörige eines deutschen Stammes, der auch außerparlamentarisch in ein Verhältniß zu seiner Regierung gedrängt worden ist, das mit dem Ausdruck „scharfer Gegensatz" nichts weniger als zutreffend bezeichnet ist. Der Kampf der Deutsch Oesterreicber gegen die Regierung ist überdies zu Unrecht als das Wesentliche hervorgeboben; jener Kampf richtet sich, wie gesagt, nicht nur parlamentarisch gegen die Tschechen, Polen und Slowenen, die das Deutschthum östlich und südlich des deutschen Reiches mit Vernichtung bedrohen und zu derenWerkzeug sich die gegenwärtigeNegierungallerdingS gemacht hat. Wie die Dinge sich entwickelt baden, werden die Deutschen in Oesterreich daS Beeinfluß und den Anspruch auf die warmen Sympathien der Siammesgenvssen im großen Reiche noch lange haben, wenn dem Unterdrückungssystem ein gerechteres Regiment Platz gemacht haben wird ober, vor sichtiger auSgedrückt, Platz gemacht haben sollte. Daß es die vornehmliche Absicht der Herren Prade und Wolf ist, sich in Berlin „frische Kraft" zu holen, weiß die „Köln. Ztg." viel leicht doch nicht so ganz gewiß; die Vorgänge der verflossenen Woche lassen nicht gerade auf daS Hervortrelen einer Restaurationsbedürfligkeit schließen. Es ist ebensogut möglich, daß der geplante Besuch vor Allein bezweckt, in Berlin das gemeindeutsche Interesse an der Erhaltung des DeutschtbumS in Oesterreich mit dem Nachdrucke hervor- zubeben, den ihnen vielleicht die verbältnißmäßig geringe Unter stützung, die z. B. der Deutsche Schulverern vom Reiche genießt, angebracht erscheinen läßt. Die von der „Köln. Ztg." inS Auge gefaßte Möglichkeit, daß in Deutschland ein Kampf von der Art, wie er jetzt den Deulschösterreichern aufgcdruugen ist, ausbrcchen könnte, ist ausgeschlossen, die Gegenseitigkeits frage kommt also nicht in Betracht. Dennoch sei daran er innert, daß im vorigen Jahre oder vor zwei Jahren der deutsche ReichStagSabgeordnete vr. Lieber in Wien vor österreichischen Ullramontanen über deutsche politische Angelegenheiten geredet hat. Alles in Allem glauben wir sagen zu müssen, daß der frostige Formalismus des rheinischen Blattes so wenig den in Deutschland v 'rherrscbendev Empfindungen AuSvruck giebt, als eS politisch geboren oder auch nur nützlich erscheint. Agrarisches Draufgängertbum hat, wie schon so häufig, eben wieder der Landwirtbschaft einen Dienst erwiesen, der an das Verdienst des Bären erinnert, der mit einem Stein die Fliege auf der Stirn seines Herrn zu verscheuchen ge dachte und ihm den Hirnkasten einschlug. Man hatte in der bayerischen Kammer eine Statistik der Berufs an gehörig» leit der zum Heeresdienst ausgehobenenMannschaften verlangt, zu dem Zwecke namentlich, die stets behauptete numerische, physische und moralische Unterwerthigkeit der der Industrie entstammenden jungen Leute im Vergleich zu dem von der Landwirlbschaft gelieferten Material einmal Schwarz aus Weiß zu besitzen. Die Statistik ist jetzt für Bayern da, und waS sie zu ergeben scheint, ist daS gerade Gegentheil einer militairische» Ueberlegenheit der landwirthschafttreibeuoen Bevölkerung. Wir haben die Vcrbältnißzablen, insoweit sie die numerische Vertretung der einzelnen Berufszweige in den beiden bayerischen ArmeecorpS auSbrücken, bereits mit- getheilt. Von je 100 bei der Recrulirung Vorgcstelllea der verschiedenen Perufsclassen wurden wirklich ausgehoben aus der Landwirthschaft 26,4, aus der Industrie 28,4, aus dem Handel 22,8, aus deu sonstigen Berufsclassen und von den Berufslosen 26,7. Die Untersuchung bat inzwischen weitere Kreise gezogen. I» der Volköwirthschafttichen Gesell schaft zu München bat der VolkSwirtb Lujo Brentano Er gebnisse seiner auf das ganze Reich ausgedehnten statistischen Zusammenstellung mitgetheilt und von dem bayerischen Gene, al von Sauer sind die Ermittelungen deS Gelehrten unter dem militairischen Gesichtswinkel beleuchtet worden. Wir werden den Bericht über diese Versammlung so ausführlich bringen, wie er uns in Münchner Blättern vorliegt, können aber nicht umhin, schon jetzt unfern Zweifel daran zu äußern, ob die Wahl einer andern Form und Gelegenheit mindestens für das militairische Gutachten im Interesse der Hintanhal- tung einer illoyalen Ausbeutung des Gesagten nicht wünsckenswerth gewesen wäre. Ueber diese Frage hätte um feres Erachtens nur der Ossicier alö Officier, nicht aber ein Osficier in seiner Eigenschaft als volkswirthschaftlicher Forscher oder Dilettant reden sollen. Gewiß: die Wahrheit über Alles. Aber ob man es bei den Aussprüchen des Herrn von Sauer mit in der Armee allgemein anerkannten Wahrheiten zu .^«n hat, ist nicht ersichtlich. Wie denn selbst die Tabellen deS Professors Brentano Anfechtungen ausgesetzt sind, wie sie sogar und unseres Erachten« nicht ganz mit Unrecht die amtliche bayerische Statistik zu erleiden bat. Die bayerische Feststellung erstreckt sich auf eine einzige Aushebung, die des Jahres 1895, also eines ZeitpuncteS, wo der gegenwärtige, der Lanvwirthschast bekanntlich ausgezeichnete Elemente rnt- ziebeute Aufschwung der Industrie bereits eingesetzt hatte. Man bemängelt mit gutem Grunde die Beschränkung der Ermittelung der Berufszugebörigkeit auf die Ausgehobene», indem man sagt, erst eine Feststellung der Erwerbszweige der Eltern gäbe ein richtigen Bild von der Fähigkeit einer Berufsclasse, der Armee tüchtigen Nachwuchs zuzusühren; eine große Anzahl der Industrie entnommener Rekruten dürsten von Landwirthen abstammen, und die Zahl der Fälle, wo die» zutrifft, hätte festgestellt werden sollen. Bei deui allen bleibt von der bayerischen Statistik und von deu An gaben Brentano -, selbst wenn sie im Einzelnen noch Berich tigungen erfahren sollten, genug übrig, um der Verherrlichung einer besonderen militairischen Tüchtigkeit der Land bevölkerung zu VerbetzungSzweckrn den Boden zu ent ziehen. Die Leute aus der Industrie und die au» der Landwirthschaft, wie daS auch der General von Sauer be tont, sind gleich nothwendig. Vielleicht ist die Frage praktisch gar keine solche der Tüchtigkeit, sondern der Dichtig keit der Bevölkerung. Die Zndustriegegenden sind stärker be völkert, aber auch die Gegenden Bayern- mit bäuerlichem Kleinbesitz, also die volkreicheren, liefern erheblich mehr Recrutea als die mit größerem Grundbesitz. Immerhin bleiben auch sie hinter dem Landesdurchschnitt zurück, während — nach Brentano — „in dem stärksten Industriestaate Sachsen" die Zahl der Tauglichen mit 52 von je 100 Borgestelllen um t bezw. 2 bei den beiden bayerischen Armeecorps zurückbleibt, ein allerdings minimaler und vielleicht ganz zufälliger Unter schied. Der ehemalige reichsländische UmerstaatSfecretair v. Mayr, ein Statistiker von Weltruf, hat in der Münchner VolkSwirthschaftlichen Gesellschaft erklärt, den Tabellen Breutano'S, welcher, ziemlich willkürlich, zwischen „agrarischen Distrikten" und „Distrikten mit über wiegend industrie- und handeltreibender Bevölkerung" unter scheidet und dabei zu sehr ungünstigen Resultaten für die Landwirthschaft gelangt, die wissenschaftliche UeberzeugungSkrast vorerst absprechen zu müssen, v. Mayr enthielt sich eines eigenen Urtheils, hielt aber nicht mit dem Ausdruck des Be dauerns darüber zurück, daß Brentano die Frage, ob Deutsch land ein Industriestaat sei, in seinen Darlegungen zu Ungunsten der Landwirthschaft bejaht und nach unseren! Eindruck sogar mit einer gewissen Genuglhuung bejaht bat. Was dieser Streit anders bezwecken könnte als die Verärgerung der Landwirthe, ist in der Thal un erfindlich. Deutschland wird zu seinem und besonders zu seines Heeres Heil hoffentlich für alle Zeiten Industrie ll nd Agrarstaat bleiben. Wenn Herr Brentano es so dar stellen möchte, daß man um der Armee willen nichts sehn licher als die AuSwachsung des Reiches zu einem Industrie staat wünschen müßte, so bekundet er eine Auffassung, die mit dem Augenschein denn doch nicht in Einklang zu bringen ist und die, wie schon hervorgehoben, auch der General von Sauer verworfen bat. Ob diesem Officier nicht dennoch militairische Gegner erstehen werde«, bleibt abzu warten. Die liberalen österreichischen Blätter feiern den Ausgang der 27stündigen AbgeordnetcnhauSsitzunq als einen entscheidenden Sieg der Opposition über die Rechte, bas aus ihr bervorgegangene Präsidium und die hinter beiden stehende deutschfeindliche Negierung. Tbatsächlich ist daS Er- gebniß vom Freitag, das den Deutschen, die bereits au einem Siege verzweifelt waren, selbst unerwartet kam, ein schwerer Schlag für die Regierung, da dieselbe sich, wie es heißt, förmlich für den Erfolg verbürgt hatte. Sie batte gehofft, es werde der Majorität gelingen, das Ausgleichs Provisorium in einer Sitzung durchzupeitschen. DaS war versehlt, denn sie halte nicht damit gerechnet, daß die Deutschen über einen Dauerredner verfügten, der sich die „Meisterschaft der Welt" erredet hat. Die Linke selbst hat vr. Lecher eine solche Ausdauer «richt zuhetraut. Auffallend ist «S immer, daß das Präsidium deS Abgeordnetenhauses, nachdem eS 27 Stunden Stand gehalten, zuletzt sich doch gab, und es mußte de-balb auch die Schmachrufe der Iungtschechen über sich ergehen lassen und schon sind Stimmen laut geworden, welche es des VerratheS zeihen, da die Ermüdung der Abgeordneten, der beiden Präsidenten und der Stenographen kein Grund gewesen sei, die Sitzung zu schließen; unter der allgemeinen Ermüdung hätten die Deutichen in gleicher Weise gelitten, die Prästcenten hätten sich ablösen können und für die Stenographen sei Ersatz zu beschaffen gewesen. Weshalb das Präsi dium capitulirte, ist also noch nicht vollständig klar. DaS klerikale „Vaterland" findet, die Hauptschlacht der Ob structiv» sei unentschieden; Herr von Abrahamowitsch habe aus völlig freien Stücken und zu fast allgemeiner Ueber- raschung den Sitzungsschluß verkündet. DaS „Fremden blatt" erörtert die Frage nach Sieg und Niederlage nicht direkt und begnügt sich damit, als Erfolg der Regierung zu constatiren, daß da- Ausgleichsprovisorium wenigstens auf der Tagesordnung steht und nach dem au« Freitag ge faßten Beschluß de« Hauses ain Donnerstag zur weiteren Verhandlung gelangen wird. Gestalte sich demnach auch das Vordringen mühevoller, als angenommen wurde, würden auch täglich neue Obstructionsmittel entdeckt, so sei doch nicht zu bezweifeln, daß das angestrebte Ziel erreicht werde. Was Der Page. 4j Roman von A. Hehl. Nachdruck verboten. Mit noch größerer Vorsicht als sie der Knecht geübt, führte der Herr die Pferde im Schritte weiter. Neben ihm her ging der Doctor, der nach längerer Pause daS Gespräch wieder aufnahm: „Sie dürfen es mir nicht übel nehmen, Meister Sturm, wenn ich, meiner Pflicht als Arzt eingedenk, Ihre Milde und Nachsicht für den kranken Sohn anrief. Damit wollte ich Sie nicht beleidigen. Ich weiß, Sie sind ein ehrenwerther, aber auch gestrenger Familien vater. Sie führen scharfe- Regiment und kennen keinen Willen, als den eigenen." Hierauf versetzte der Müller: „Wenn ich Herr in meinem Hause bin, Gehorsam verlange und keinen Wider spruch dulde, so ist damit noch nicht gesagt, daß man mich für einen grausamen Tyrannen halten darf, der kein Herz für seine Kinder hat. Weil ich ihr Bestes will, darum gewöhne ich sie bei Zeiten an Fügsamkeit und Ge nügsamkeit. Mit guten Worten allein zieht man kein Kind groß, Schwäche und Liebe sind zweierlei, Doctor, ich dächte, da» sollten Sie wissen." „Weiß ich auch", warf der Doctor gleichgiltig hin. „Herr Vater", ließ sich der Sohn vernehmen, „ich möchte auch ein gute» Wort für den alten Michel einlegen. Er hat an dem Unglück so wenig Schuld, wie ich; der Inspektor Tockmann ist allein verantwortlich." „Dai kann ich bezeugen", stimmte der Doctor bei. „Der Hallunke, der Tockmann, raste mit seinem Jagdwaaen durch» Dorf, al» ob er ei darauf abgesehen hätte, Unheil anzu richten. Als er beim Kirchenweg einbog, hätte er schier ein Kind überfahren, und so ging'» weiter in sausendem Galopp. An der Ecke von Lowenwirth» Hau» scheuten die Pferde, bäumten sich auf, rasten den Weg entlang auf Ihren Wagen zu, und ehe der Hani auiweichen konnte, war da» Unglück geschehen. Sin Rad war auigesprengt, der Wagen umgeworfen, die Gäule gestürzt und der arme Hani mit ihnen. Ich stand dabei, und nachdem ich dem Tockmann, der unbekümmert weiter jagte, gleich allen andern Leuten, eine schöne Anzahl Verwünschungen nachgeschickt hatte, nahm ich mich um den Hans an, wie es meine Schuldigkeit war. Der Löwenwirth, seine Nachbarn, sowie alle herzu geeilten Dorfbwohner waren hilfsbereit. Im Löwen wurde dem Verwundeten der Verband angelegt, die Wirthin gab Leinwand und Bettwerk bereitwillig her, während ihr Mann das Rad wieder nothdürftig festmachte. Jedes wollte gerne etwas thun, und das beweist, wie Sie und die Ihrigen bei den Leuten in hohem Ansehen stehen. Die Capellenmühle erfreut sich eines guten Namens, Meister Sturm." Sturm hob den Kopf und seine Augen leuchteten freudig auf: „Es ist so und soll so bleiben, so lange noch einer meines Geschlechts darinnen haust." Ein tiefes Aufseufzen drang zu den Ohren der beiden Männer. Der Doctor ging dicht zu dem Kranken hin und flüsterte ihm zu: „Sie haben Schmerzen, mein Hänslein! Nur unverzagt, da» geht vorüber." „Ja, es geht Alles vorüber", sprach Hans in seltsam beklommenem Tone. „Alles, Jugend, Glück und Leben! Wohl dem, der es genossen hat, ehe es ihm entschwindet." Etwas wie Mitleid flog über das struppige Gesicht deS Arzte»; er wandte den Kopf zur Seite, räusperte ein paar mal vernehmlich und begann dann ein Liedchen zu pfeifen. Gesprochen wurde nichts mehr, bi» der Wagen durch das Thor der Mühle einjuhr. Sine Stunde spater lag HanS Sturm auf weichem Pfühle im Schlafzimmer des Müllers, der dem Sohn das eigene Lager überlassen hatte, damit man den Kranken nicht über zwei Treppen in die Dachstube transportiren mußte, wo eS an allen Bequemlichkeiten fehlte. An dem Krankenbette saß ein blondes Mädchen, stützte den linken Arm auf die Bettlehne, neigte den Kopf auf die Hand und lauschte auf die unregelmäßigen Athemrllge, die bisweilen von Stöhnen, häufiger von unverständlichem Gemurmel unterbrochen wurden. In der rechten Hand hielt sie den Fliegenwedel, um damit den Jnsecten abzuwehren, die, vom LichtsHein angrlockt, in» Zimmer flatterten und den Kranken belästigten. Wer die Verhältnisse de» Müllers nicht kannte, der suchte in dieser mit schlichtester Einfachheit ausgestatteten Stube keine reichen, ja nicht einmal wohlhabenden Leute. Die Möbel, schon durch mehrere Generationen vererbt, sahen plump und abgenützt aus, von der hohen Bettlade und der unförmigen Kommode an bis zum lederüberzogenen Sorgenftuhle. Der lange, etwas wackelige Tisch war mit einer groben, grünen Wolldecke belegt, auf dieser lag das Geschäftsbuch und vor demselben stand das Tintenzeug. Die blaugetünchten Wände hatten einige Stahlstiche in schwarzen Rahmen aufzuweisen. Ueber dem Bett hing die Kreuzigungsgruppe, darüber die Schlacht von Waterloo. Die Bilder der 4 Jahreszeiten waren mehr nach Gutdünken als nach Symmetrie vertheilt. Die gesammte Einrichtung machte einen ernsten, nüchternen Eindruck. Nur auf dem Fensterbrette sah es hübsch und freundlich aus. Da reihten sich Rosen, Resedastöcke und Goldlack aneinander, mit dem ihren Blllthen entströmenden Duft die Lust des Kranken zimmers angenehm würzend. Das blonde Mädchen, welches als Wärterin hier weilte, sogdiemildeAbendluftrntiefenAthemzügen ein, und während sie stille ihres Amtes waltete, waren die Gedanken geschäftig, die Erinnerung war wach, die Bilder der Kinderzeit lebendig vor ihrer Seele. Sie fühlte sich wieder von Mutterarmen umschlungen, auf den Knieen geschaukelt, sie hörte die süßen Schmeichelworte: „Mein Goldkind, mein Herzblatt, mein kleines Lieschen." Sie lauschte den Märchen, welche Müt terchen in der Dämmerstunde erzählte, während sie die Arme um ihren Hals geschlungen hielt und Bruder Hans auf einem Schemel zu ihren Füßen saß, den Kopf an ihre Knie schmiegend. Ach, damals war gute Zeit! Diese währte nicht allzulange. Es kam ein schrecklicher Tag, da lag die Mutter «m Sarge; bleich, abgezehrt, doch um ihre Lippen schwebte ein Lächeln des Friedens. Die Kinder knieten weinend am Sarge und am Kopfende stand der Vater und schluchzte, als ob ihm da» Herz brechen wollte. „Sie war zu gut für die Welt, ich war die Frau nicht Werth." Al» die Männer nahten, um den Sarg fortzutragen, da kam es über ihn wie Verzweiflung, er wollte ihnen wehren: „Ihr nehmt mir mein Liebstes, ich kann mein Lebtag nicht mehr froh werden." Lieschen wußte, wie wahr der Vater gesprochen hatte, er war nicht mehr froh geworden; Glück und Freude waren mit der Mutter au-gezogen. Am Brgräbnißtage kam eine alte Base in» Hau» und blieb daselbst al» Wirtschaf terin. S» ging still und friedlich zu in der Mühl«; es wurde viel gearbeitet, wenig gesprochen und noch weniger gelacht. Die Kinder wuchsen auf, gesund an Körper und Geist. Es wurde treulich für sie gesorgt, sie wurden zur Arbeit und zur Rechtschaffenheit angehalten; behütet vor Allem, was ihr leibliches oder geistiges Wohl gefährden konnte, fehlte es ihnen an nichts als — an Liebe. Niemand that ihnen ein Leid und doch waren sie scheu, befangen in Gegenwart des Vaters und vorsichtig mit der Base. Dagegen schlossen die Geschwister einen innigen Herzensbund mit einander und sobald sie sich unbeobachtet wußten, flössen die Lippen über von dem, was das Herz bedrückte, was es hoffte und wünschte. Mit den Jahren steigerten sich die Wünsche, das Hoffen ging in ein heißes Sehnen über und an den Schran ken, die dem entgegenstanden, wurde bisweilen versuchsweise gerüttelt. Des Vaters Strenge wies solch' kühnes Beginnen ledesmal schroff zurück. Lieschen wurde durch lautes Stöhnen des Kranken aus ihrem Sinnen aufgeschreckt. „Hast Du arge Schmerzen, Hans?" fragte sie, sich zu ihm niederbeugend. „Wasser!" flüsterte er. „Die Zunge klebt mir am Gaumen." Sie holte rin Glas voll vom Brunnen, in ein paar Zügen hatte er es geleert. „Danke, das that mir wohl! Mein Kopf ist wirr — ich glaube, ich habe Fieber; merke nicht auf das, was ich schwatze." Mit diesen Worten wandte er sich um und schloß die Augen. Das junge Mädchen wischte sich die Thränen ab. Ihr war so weh ums Herz und sie hatte Niemand, dem sie es sagen konnte. Da lag ihr Bruder, ihr Abgott, zu dem sie aufblickte, wie zu einem höheren Wesen, da lag er, an Leib und Seele wund; er der schönste, der verständigste, der muthigste Jüngling im Umkreise und auch wohl der Unglück lichste. Mit hervorragenden Geistesgaben ausgestattet, von Wissensdrang beseelt, war es fein höchster Wunsch, dem Studium der Medicin obliegen zu dürfen. Diesem Plane stand der alte Sturm schroff ablehnend gegenüber. Hans mußte Müller werden. Die Mühle war seit zweihundert Jahren im Besitz der Familie Sturm und so sollte es auch ferner bleiben. Gegen des Vaters Willen gab e» keinen Appell, der Sohn mußte sich fügen, so sehr auch der aufge drungene Beruf seinen Neigungen widerstrebte. Mit mit leidsvollen Blicken betrachtete Lieschen da» von Fieberhitze
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