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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.12.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-12-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971222011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897122201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897122201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-12
- Tag1897-12-22
- Monat1897-12
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Arötzer» Schriften laut uuserem Preis» verzeichnip. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen »Ausgabe, ohne PostbesördttuNg 60—, mit Postdesvrderung .Nl 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ab end «Ausgabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgen «Ausgabe: Nachmittags - Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halb« Stunde früher. Anzeigen sind stet» an die Gtzpedition zu richten. Druck und Verlag von E. Pol, in Leipzig. St. Jahrgang. Mittwoch den 22. December 1897. Herr Ledel und die Leipziger Haudwerker- siatistik. * In der ReichStagSsitzunz vom 15. dS. Mts. hat der ReichtagSabgrorknete Bebel Veranlassung genommen, gegen den nationalliberalen Reich-tag-abarordnetrn Professor Paasche in der ihm eigenen Weise zu polemisiren. Der letztere hatte auf Grund der Ergebnisse der letzten Berufszählung dargelezt, daß der Mittelstand, beziehentlich der Handwerkerstand, durchaus nicht in einer so rück- läufigen Bewegung begriffen sei, wie gemeinhin be hauptet werde. Dafür bezeichnete ihn Bebel als „einen Mann, der Alles beweisen kann", behauptete, daß ein überaus großer Tbeil der selbstständigen Handwerker im Einkommen kaum mit dem Arbeiter auf gleicher Stufe stehe, und berief sich zum Beweise dafür auf eine Statistik, die Professor Bücher über daS Einkommen der Leipziger Handwerker ausgenommen hat. Bebel sagte nach dem „Vorwärts" Folgendes: „Wie steht eS aber in Bezug auf da« Einkommen der Hand werker?Darüber giebt unSAnkunft eine Statistik, dieProf. Bücher vor einem Jahre in Leipzig über 56l7 Handwerker ausgenommen hat. Leipzig ist eine der wohlhabendsten Städte in Deutschland, so daß diese Handwerker sich nicht in einer Art besonderer Nothlage befanden. Und wie lautet da» Resultat? Nicht weniger wie 234l oder rund 42 Proc. sind unter diesen, die ein Einkommen von 300—950 .ck! haben. (Hört! hört!) 00,8 Proc. haben weniger als 1250 Einkommen. Solchen Thalsacken g-genüber, die nicht von Socialdemokraten aus gestellt sind, denen gegenüber man den schwärzesten Verdacht haben könnte, sonoern von mehr oder weniger interessirten Leuten, haben wir alle Ursache, unS so zu verhalten, wie wir cs gethan haben." So Herr Bebel, und wir zweifeln nicht, daß er für den Augenblick dem Reichstage mit der Berufung auf Professor Bücher imponirl bat. Wie steht eS nun aber in Wirklich keit? Haben die Bücher'schen Ziffern wirklich einen allge meinen Beweiswerth? Als die Bücher'sche Statistik erschien, machten wir darauf aufmerksam (im Leitartikel vom 28. April d. I.), daß unter oen Handwerkern, für welche die Statistik ausgenommen worden war, die Mehrzahl Schneider und Schuhmacher seien, denn 2973 Schneidern und Schuhmachern standen inSgesammt nur 2644 andere Hand werker gegenüber. Daß bei den eigenartigen Verhält nissen, unter denen in diesen beiden Erwerbszwrigen der Beruf „selbstständig" ausgeübt wird (vielfach nur durch Hausarbeit für den wirklichen Arbeitgeber), eine totale Trübung des Gesammtbildes für die übrigen in die Statistik rinbezogenen Handwerke eintreten mußte, liegt auf der Hand und wurde von uns nachgewiesen. Unter den 2341 Hand werkern, die rin Einkommen von 300—950 -ckl bezogen, befanden sich nämlich 2031 Schneider und Schuhmacher, so daß nur noch 310 Personen auf vie anderen 15 Handwerke kommen, für die Prof. BUcker Berechnungen angestellt hat. Die 42 Proc. mit einem Einkommen von 300—950 sinken nach Ausscheidung der Schneider und Schuhmacher sofort auf kaum 12 Proc! Und genau so geht es, wenn die Berechnung auf da» Ein kommen bi» zu 1250 «F ausgedehnt wird. Die 60,8 Proc. (Bebel sprach wohl nur irrtbümlich von 66,8 Proc.) sinken nach Ausscheidung der Schneider und Schuhmacher sofort auf 33,5 Proc. herunter. Wir schrieben seiner Zeit am Schluffe unsere- Leitartikels: „Wogegen wir un» wenden wollten — und da- gewiß im Einverständniß mit Herrn Prof. Vr. Bücher —, daS ist das Ziehen falscher Schlüffe au» den Bücher'schen Mittheilungen, damit nicht etwa in alle Welt hinauSposaunt werde: „In Leipzig haben, wie »in Professor der Nationalökonomie fest gestellt hat, mehr al» 60 Procent der selbstständigen Hand werksmeister nur rin nolhdürftiae» Einkommen." DaS würde «in ganz schiefes Bild von den ErwerbSverhältniffen in unserer Stadt geben." — WaS wir der Bücher'schen Statistik voraus sagten, ist eingetroffen. Herr Bebel fand sie zu verlockend, um sie nicht im socialdemokcatischen Parteiintrreffe zu ver- werthrn. Heilstätten für Lungenkranke. L. 6. Berlin, 2l. December. Das Deutsche CentralcomitS zur Errichtung für Heilstätten an Lungenkranke hielt am 18. d. M. unter dem Vorsitz des SaatSsecretair» des Innern Grafen v. Posadowsky im BundeSrathssaal seine zweite General versammlung ab. Die Kaiserin, die Protectorin de» ComitSs, hatte beabsichtigt, der Versammlung beizuwohnen, war aber durch eine leichte Unpäßlichkeit gezwungen, den Berathungen fernzu bleiben, und ließ dem Centralcomitö zugleich mit dem Bedauern über die eingetretene Behinderung ihr lebhaftes Interesse an der deutschen Heilstättenbewegung ausdrücken. Ebenso hatte der Ehrenvorsitzende des ComitS», der Reichskanzler, welchen dringende Berufsgeschäfte fernhielten, der Versammlung seine besten Wünsche für das gemeinnützige Werk übermittelt. Der Vorsitzende betonte in seiner Begrüßungsrede mit warmen Worten die Bedeutung eines planmäßigen Vorgehens gegen die Lungen schwindsucht, wie solches durch die Errichtung zahlreicher Heil stätten in Deutschland mit schnellem Erfolge ungebahnt worden sei. Ueber die Entwickelung der Bestrebungen in den einzelnen Thrklen des Reiches berichteten die Vertreter der betreffenden Ver einigungen und Anstalten unter Vorlegung von Plänen und An sichten. Geheimrath v. Leyden-Berlin gab Mittheilungen über drn Berlin-Brandenburger Heilstättenverein, Geheimrath Gerhardt-Berlin über die mit günstigem Erfolge thätige Heilstätte Grabowsee bei Oranienburg, errichtet durch den Volks- heilstättenverein vom Rothen Kreuz, Medicinalrath Roth- Oppeln über den Verein für Oberschlesien-, Geheimrath Georgi- Mylau berichtete für das Königreich Sachsen, wo im September d. I. die erste Volksheilstätte Albertsberg bei Rei- boldsgriin in Gegenwart des Königs von Sachsen eingeweiht wurde; Geheimrath v. Z i e m s s e n - München machte Mitthei lungen über den Stand der Sache in den verschiedenen Gegenden Bayerns, Landrath H e y d w e i l l e r - Altena i. W. über die Heilstätte des Kreises Altena und die sonstigen Unternehmungen in Westfalen, Geheimrath Rasina - Karlsruhe über das Vor gehen im Großherzogthum Baden, Director Gebhardt -Lübeck über die Bestrebungen in den Hansestädten und die Betheiligung der Versicherungsanstalten überhaupt, Fabrikbesitzer Sumpf- Cassel über die Heilstätten in Hessen-Nassau. Don besonderer Bedeutung war, daß die genannten ärzt lichen Autoritäten ausdrücklich die Heilbarkeit der Lun genschwindsucht im heimischen Klima bei rechtzeitiger Einleitung der Behandlung be tonten. Wiederholt wurde von ihnen hervorgehoben, daß die in den deutschen Heilstätten erzielten Erfolge den gehegten Erwar tungen entsprächen, und daß somit an der Sicherheit der Grund lagen, auf denen das planmäßige Vorgehen zur Bekämpfung der Lungenschwindsucht in Deutschland begründet sei, kein Zweifel bestehe. Nach dem der Versammlung vorgelegten Geschäftsbericht ist die Heilstättensache in allen Theilen des Reiches in erfreulichem Fortschreiten begriffen. Die hauptsächlichstenTräger sind die für den speciellen Zweck der Fürsorge für Lungenkranke innerhalb bestimmt abgegrenzter Bezirke ins Leben gerufenen Vereine, deren Zahl bereits mehr als 20 beträgt. Aber auch andere Corpora» tionen, so das Rothe Kreuz, die Vaterländischen Frauenvereine, der Johanniterorden, der Bergische Vertin für Gemeinwohl, die VereinigungzurFLrsorgefürkrankeArbeiter in Leipzig u. A. widmen sich derselben Aufgabe. Eine wesentliche Stütze finden diese Vereinsbestrebungen, soweit sie un bemittelten Lungenkranken zu Hilfe kommen wollen, an d«n Jn- validitäts- und Altersoersicherungsanstalten, weil durch die Un terbringung gefährdeter Versicherter in der Hauptsache die Unter haltungskosten sichergestellt werden. Einzelne Versicherungian stalten, so die hanseatische, diejenigen in Braunschweig und Han nover, haben eigene Anstalten bereits im Betrieb; diejenigen für Berlin, für Brandenburg, Baden, Hessen-Darmstadt, ferner die Norddeutsche Knappschaflsprnsionscasse für Halle werden in Kurzem die ihrigen eröffnen; andere, wie die in Breslau, Stettin, Münster, in Rheinbayern, im Königreich Sachsen, in Weimar, Oldenburg u. s. w., sind durch Hrrgabe billiger Baucapitalien bei der Errichtung von Heilstätten be theiligt. Von kommunaler Seite werden solche in München und im Kreise Altena i. W., errichtet. In einigen Fällen, so im Königreich Sachsen, in Baden, in Hamburg, hat auch derStaat direct die Heilstätten unternehmungen unterstützt. Hervorzuheben ist das selbstständige Vorgehen einzelner Arbeitgeber aus der Großindustrie, weil dabei einerseits die möglichst frühzeitige Einleitung des Heilder fahrens, andererseits die wünschenswerthe Berücksichtigung bei der Zuweisung geeigneter Arbeiten ermöglicht wird. So haben die Badische Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen, die Werke von ten Brink in Arlen (Baden), die von Selve in Altena i. W. specielle Einrichtungen zur Behandlung lungenkranker Arbeiter. Eine Reihe von Vereinen widmen sich außerdem der vielfach noth wendigen Fürsorge für Familien während der Zeit, in welcher der Ernährer in der Anstalt zu verweilen gezwungen ist. Das Centralcomitö hat bisher 137 000 Mark an Beihilfen für An staltsbauten bewilligt. Als publicistisches Organ dient die neu begründete Heilstättencorrespondenz. Die in den Anstalten ge machten Erfahrungen werden nach einheitlichem Plane vom kaiserlichen Gesundheitsamt statistisch-wissenschaftlich bearbeitet. Wenn ein Abschluß der eingeleiteten Sammelforschung auch erst in einiger Zeit zu erwarten ist, so bestätigen doch die bisher ersicht lichen Ergebnisse die Voraussetzung, daß in zweckmäßig angelegten und gut geleiteten Heilstätten die Behandlung Lungenkranker durchaus aussichtsooll ist. FsrsrHstsir. Die Nazarener in Ungarn.*) Eine Reijerrinnerung von Franz Woenig. Nachdruck v>rboten. Es war an einem der heißesten Julitage des vorigen Jahres. Ich fuhr mit dem Theißschiffe „Maria Anna" die „blonde Tisza" von Szegedin stromaufwärts, um in Tisza-Ugh und Tisza- Kurt nach wochenlangen Strapazen Rast zu halten. Dort er warteten mich schon seit Tagen liebe Freunde, um mir in der ldyllischen Ruhe ihrer ausgedehnten Putztengebiete das Leben so angenehm wie nur möglich zu machen. Die „Maria Anna" hatte sich im Dämmcrgrauen aus dem Gewimmel von Schiffen und Dampfern am Theiß-Quai in Szegedin gelöst und fuhr mit Volldampf in dem vom Nebel umwogten seeartigrn Fluß nur langsam stromauf, denn sie war schwer befrachtet. So kam es, daß wir erst gegen Mittag Csongrad erreichten, um hier längere -jcit Station zu machen. Von der Stadt selbst war nicht einmal die Thurmspitze zu sehen, denn sie wird gegen die Ueberschwem- mungsgefahr von Seiten der launischen Theiß durch einen ca. 50 Meter hohen, terrassenförmig angelegten steinernen Wall geschützt, der unmittelbar aus den gelben Fluthen des Wassers aufsteigt und da und dort auf den Plateaux der Terrassen des imposanten Walles kleine schmucke Wachthäuschen zeigt. Am Ufer harrt« eine große Menschenmenge der Ankunft des Schiffes, und als das Glockensignal ertönte, das langgestreckte Schiff seine Längsseite rauschend dem Lande zuschob und die Landungsbrücke gefallen war, drängte sich die harrende buntaewürfelte Schaar ungarisch«! Kleinstädter und Bauern in ihrer farbenfrischen Tracht auf das Verdeck der „Maria Anna", wo Capitain Hofbauer und ich unter schattenspendem Leinwandzelt soeben unser Mittagsmahl einge nommen hatten. Bald verstreuten sich die Ankömmlinge auf die Bordbänke am Vordertheile des Dampfers, und Geschwätz und Gelächter drang :u uns herüber. Nur Einer der neuen Passagiere hielt sich abseits von der Menge. Es war ein Greis von reckenhafter Gestalt mit verwet- tertem, von Furchen und Falten durchzogenem Gesicht, tiefliegen den lebhaften dunklen Augen und wallendem schneeweißem Haupt md Barthaar, daS weit über den grauen Reisemantel herabfiel. Zn drn Händen trug er einen langen Stab nach Art d«r Hirten. Der Greis nahm meine Aufmerksamkeit sofort gefangen. „Die vrächtigste Type eines Juhaß (Schafhirten), die mir je auf den steppen des Alföld begegnet ist", sagte ich zu meinem Nachbar, dem Capitain, indessen ich meine bewundernden Blicke an der Hünengestalt deS Alten weideten. „Ein Capital-Modell für jeden Naler und Bildhauer." „Ein Hirt ist er schon, der Abgesonderte da drüben", meinte Hofbauer, „aber kein Schaf- sondern ein Seelenhirt, der wieder auszieht, eine Seele zu fangen." Ich sah meinen Nachbar ungläubig von der Seite an. „Aber *) Durch dir ungarische, österreichische und deutsche Presse geht ykgenwärtig die Noti,, daß bei der jüngst in Ungarn stattgefundenen »Kruten-Sinhebung viele Rekruten aus der dort wett verbreiteten recte der Nazarener vor das Kriegsgericht gestellt werden mutzten, weil sie sich hartnäckig weigerten, den Fahneneid ,« leisten und Dassen in die Hand ,u nehmen. <k« dürfte für unsere Leser jeden- lalls von Interest» sein, durch die nachfolgende Plauderei Nähere« -»der da« Wesen dieser merkwürdigen Religionkgenostenschaft ,u er- !«hren. D. R. der Greis ist doch weder ein katholischer noch protestantischer Geist licher, sondern ein schlichter Mann aus dem Volke, wie seine Kleidung und sein Wesen zeigen." „Und ein Apostel von der Secte der Nazarener, die sich in unheimlicher Weise in unserem lieben Tiefland« verbreitet", fiel Hofbauer ergänzend ein. „Ich kenne den Alten, bin schon manch mal mit ihm gefahren; er ist wohl der größte Fanatiker unter seinen Glaubensgenossen." „Das ist ja prächtig, daß Sie ihn kennen. Verehrter; wollen Sie ihn nicht zu uns herüber bitten? Sagen Sie ihm nur, hier säße auch ein Proselyt des Chores, und dann mag der Alte bei einem Glase heißen Rebenblutes die Schleusen seiner Beredtsam- keit offnen, mich in die Glaubenslehren seiner Secte einweihen und einen Bekehrungsversuch an mir wagen." „Da haben Sie schon in einem Athemzuge zweifach Unmög liches gefordert", antwortete mein Tischgenosse, „die Gläubigen, wie sich die Nazarener nennen, lassen sich nicht gern in die Karten schauen und sind durch einen schweren Eid verpflichtet, gegen Fremde das tiefste Schweigen über ihre Glaubenssätze und ihre religiösen Sitten und Gebräuche zu bewahren. Wer den Eid bricht, wird ohne Gnad« aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Würde ich auch den bewährten Apostel drüben an der Schiffs wand dazu bewegen können, sich an unserem Tische niederzulassen, er würde über seinen Glauben und den Zweck seiner Reise auch nicht ein Wörtchen verlauten lassen, auch dann nicht, wenn man ihm drohte, die Zunge mit glühendem Eisen zu sengen oder niederzuschießen. Und Wein und Tabak sind den Nazarenern ein Greuel. Der Weingenuß, so meinen sie, verleite die Menschen zu den größten Sünden, und die Pfeife erklären sie als eine Er findung de« Satans»." „Und sind die ungarischen Nazarener wirklich so in ihrem Glauben gefestigt, daß sie dem Teufelstrank und dem Teufels kraut ohne Gram und Schmerz entsagen?" „Schwer wirds ihnen halt ankommen", antwortete der Ca pitain lachend, „denn in Ungarn trinkt der Säugling lieber Wein alS Muttermilch, und die Pfeife mag schon der zwölfjährige Hirtenbub nit entbehren; aber die strengen religiösen Gesetze der Nazarener, und die gegenseitige strenge Ueberwachung in der Ge nossenschaft der Gläubigen verhindern diese Todsünden, denen als härteste Strafe die Ausschließung au» der Gemeinschaft folgt. Ist'» nit so, Hochwürden?" Die letzten Worte des Beherrschers der „Maria Anna" galten einem ehrwürdigen Herrn, dem man auf zehn Schritt den Geist lichen ansah, und der schon längere Zeit unserem Gespräch ge lauscht hatte. Capitain Hofbauer übernahm die Vorstellung. Unser neuer Tischgast der sich mir gegenüber niederließ und bei unserem flinken Schiffskellner einen frischen Trunk bestellte, war aus der oberen Gegend der Theiß — irre ich nicht aus Tisza- Füred — und kam von SzantoS, wo er Verwandte besucht hatte. Bald waren wir Beide in eifrigster Unterhaltung über die interessante Secte der Nazarener. „Es ist erstaunlich", sagte der Geistliche, „welche riesigen Fort schritte diese religiöse Genossenschaft seit zwei Jahrzehnten im Tieflande Ungarn« gemacht hat. Sind doch besonders hier in meiner Gemeind«, im Csongrader und Csanader Comitat, eine Menge Nazarener Gemeinden entstanden, die ihre Apostel bis in die Thäler der Carpathen senden und mit einem Fanatismus an ihrem Glauben hängen, der unseren Staattbehörden bereit» zu denken giebt." „Wir ist es möglich", warf ich ein, „daß besonders das Tief land einen so guten Nährboden für die Lehren der Nazarener bildet" Es dürfte Ihnen auf Ihren Studienreisen im Alföld nicht entgangen sein", erwiderte der Geistliche, „daß die Oede und Ein samkeit der Putzten ihre Bewohner, namentlich die Hirten zu Träumern, ja zu Philosophen macht. Der Bauern-Philosoph aber wirdzum Schwärmer, wenn Sie ihm eine Idee geben, deren Inhalt ihm Herz, Seele, Gemüth und Phantasie vollständig zu füllen vermag. Hierin beruht die Lösung des Räthsels. Es war eine feine Spekulation von Seiten der Schweizer Nazarener-Gemeinde in Zürich, zwei ungarische Landeskinder — einen Bäcker- und einen Schmiedegesellen, als „Apostel" in ihre Heimath zu schicken. Zu Ende der fünfziger Jahre kamen die beiden Apostel in Buda pest an, und begannen ihre Bekehrungsversuche mit so gutem Erfolg, daß in der Hauptstadt unseres Landes sehr bald eine Nazarener-Genossenschaft gegründet wurde. Neue Apostel, die aus derselben hervorgingen, wählten das Tiefland zu ihrer Haupt-Do mäne. Sie predigten ihre Lehren zunächst in der Basta und im Csongrader- und Csanader Comitat, und namentlich waren es die Frauen, welche bald eifrige Anhänger des Nazarenerthums wurden und mit heiligem Eifer in Spinnstuben und bei ihren Arbeiten auf dem Felde und Tenne und Scheuer weibliche und männliche Mitgenossen zu werben suchten. Die Weiber sind in den einzelnen Gemeinden, deren stärkste gegenwärtig in Hod- Mezö-DLsLrhely unter Leitung eines Zimmermeisters, Joseph Tüth zu suchen ist, die größten Fanatiker. Die Glaubenssätze der Nazarener, deren Lehren von einem protestantischen Geistlichen, dem Pastor Samuel Heinrich Fröhlich zu Lautwyl in der Schweiz, ausgegangen und mit denen der altchristlichcn Secte gleichen Namens in keinerlei Beziehung stehen, nähern sich im Allgemeinen den Lehren der Anabaptisten oder Wiedertäufern, denn so wie diese, erachten sie die Taufe an unmündigen Kindern vollzogen als eine der heiligen Schrift und dem Sacrament zuwiderlaufende Handlung. Der Glaube muß der Taufe vorangehen, darum ist die Kinder taufe verwerflich und die als Erwachsene in die Secte Uebertreten- den werden von den Nazarenern als ungetauft betrachtet und müssen sich einer nochmaligen Taufe unterziehen. Als einziges Rechtfertigungsmittel der Seele gilt ihnen der Glaube, der vom hei ligen Geist ousgeht und mit guten Werken verbunden sein muß. Der Nazarener darf nicht schwören, kein obrigkeitliches Amt bekleiden, keine Waffen führen und nicht in den Krieg ziehen. Daher die unausbleiblichen fortwährenden Conflicte der ReligionSgenossen mit der Obrigkeit, und sie setzen den Gesetzen der Staatsbehörde, insoweit sie ihren Glaubenssätzen zuwider laufen, eine Hartnäckig keit entgegen, die geradezu imponirend ist, und vor Kerker und Tod nicht zuriickscheut. Denken Sie sich, in welche Verlegenheiten unsere Strafbehörden verseht werden, wenn es sich um Mein und Dein oder gor um ein Verbrechen handelt, und der wissende Na zarener, unter Bezugnahme auf seine Lehre, den Eid verweigert! Dieselbe Geschichte wiederholt sich alle Jahre, wenn die Rekruten eingezogen und durch einen Schwur vor der Front zur Treue im Frieden und Kriege für Kaiser, König und Vaterland verpflichtet werden. Die Rekruten aus der Genossenschaft der Nazarener ver weigern mit stolzem Freimuth dem Kaiser den Eid und sind nicht zu bewegen, eine Waffe anzugreifen. Ihr Glaub« verbietet ihnen das; Gott steht höher, als alle Herrscher der Erde, ihm allein müssen sie gehorchen und Gott hat befohlen. Du sollst nicht tödten! Freudig gehen sie in drn Kerker und fühlen sich als Märtyrer für die göttliche Sache und ihrem Glauben beglückt. Von Jahr zu Jahr mehren sich die Unzuträglichkeiten." „Aber wie ist ihnen obzuhelfen?" warf ich ein. „Einfach durch ein StaatSgeseh, da» die Aushebung der merk würdigen Secte proclamirt", erwiderte der Geistliche. „Das ist das einzige Universalmittel, aber man hat sich bisher gescheut, c- in Anwendung zu bringen." „Und weshalb?" „Weil die Nazarener nicht nur gute Christen — nennen sie sich doch die einzig wahren Christen — sondern auch gute Staatsbürger sind, sich frei von allen sinnlichen Genüssen halten und Lüge, Diebstahl, Betnrg und Todtschlag zu den Todsünden zählen. Da bei sind im bürgerlichen Leben und Verkehr von rührender Ein fachheit, Zurückhaltung und Bescheidenheit, ja Demuth, Tugenden, wie sie wohl nirgends so rein wiedergefunden werden, wie bei dieser Secte." „Steht an der Spitze der Gemeinde ein Apostel, Geistlicher oder Priester?" Der Geistliche lächelt: „Nein", sagte er, „Niemand außer dem Leiter, der die äußeren Angelegenheiten der Gemeinde ordnet. Alles was an „Oberhaupt" oder „Obrigkeit" erinnert, ist bei ihnen streng verpönt." * „Sie brauchen aber doch einen Sprecher, einen Leiter ihrer gottesdienstlichen Handlungen?" „Gewiß, und zwar ist es stets derjenige unter den Versammel ten, über welchen plötzlich und stets zur rechten Zeit der heilige Geist kommt, der ihm die Zunge löst und zu reden gebietet. Ihre Versammlungen halten sie zur Abend- oder Nachtzeit, entweder im Freien oder im Hause dieser oder jener Schwester oder dieses oder jenes Bruders ab. Viele Gemeinden besitzen bereits Bet häuser oder Kirchen in den Dörfern und Städten." „Ist auch den Fremden der Eintritt in ihr Heiligthum ge stattet?" „Keineswegs, nur den sogenannten Reisenden." „Den Reisenden? Merkwürdig, wie soll ich das verstehen?" „Reisende" nennt der Nazarener diejenigen seiner Glaubensge nassen, die zwar bekehrt und getauft worden sind, die aber nach ihrer Bekehrung noch einer längeren gewissenhaften Prüfung ihres Lebenswandels unterworfen werden. Sic sitzen während des Gottesdienstes abseits von den Gläubigen auf besonderen Plätzen. Bei Aufnahme neuer Mitglieder verfährt man sehr gewissenhaft und achtet darauf, daß sie keine „schnelle und lose Zunge" haben und sich in allen Dingen der Enthaltsamkeit zu befleißigen vermögen." „Und ihre sogenannten Apostel?" „Werden aus der Versammlung heraus durch Stimmenmehr heit gewählt", fiel der Geistliche ein. „Beredtsamkeit, tadelloser Lebenswandel und Glaubenstreue müssen die Cardinaltugenden der von Gott erwählten Sendboten sein — und in dem großen Schweiger da drüben vereinigen sich alle die genannten Tugenden; er genießt ein großes Ansehen in seiner Gemeinde und hat schon manche Seele bekehrt. Diesmal gilt seine Bekehrungsreise wahr scheinst» einigen Leuten aus entfernten Theißpußten, von denen er durch irgend einen Bruder oder Schwester vernommen hat daß sie sich danach sehnen, in den Schooß der Nazarener-Gemeindc ausgenommen zu werden." Und während unser Dampfer langsam die spiegelglatte Fluth durchschnitt, die Maschine ächzte und stöhnte, die Wasser am Bug des Schiffes rauschten und auf dem Verdeck des Schiffes Gelächter, Scherzworte und Gesang erscholl, stand der weißhaarige Apostel der Nazarener unbeweglich inmitten des fröhlichen Trei bens und schaute gedankenvoll in die sonnige Weite. Seine dunklen Augen leuchteten wie von der Freude eines kommenden Glück» verklärt, al» läsen sie in dem weißen, rosig durchhauchten Wolken des Himmel» in goldener Lapidarschrift: „Jesu» von Na zareth heute, morgen und immerdar!" ....
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