98 Neuerscheinungen zur Dresden-Literatur Unmenschliches Ermessen Thomas Schiker Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41 (Hrsg.: Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Bd. 5) 320 Seiten, Klappenbroschur, 29,90 DM, 45 Abb. Es ist eine sich immer wieder bestätigende Erfahrung, daß viele Dresdner nichts von dem Weg von der psychiatrischen Heilanstalt in Pirna-Sonnenstein hin zu einer der sechs Tötungsanstal ten für geistig Behinderte und Kranke in der Zeit des Nationalsozialismus wissen. Um so wich tiger ist das vorliegende Buch, das erstmals das Ausmaß der Vernichtung in bisher nicht vorhan dener Informationsfülle dokumentiert. Das Buch »Unmenschliches Ermessen« ist Ergebnis einer 10jährigen Forschungsarbeit zur Auf klärung von NS-Verbrechen, die auf dem Sonnenstein in Pirna begangen wurden. Sein Verfas ser, der heute in Berlin praktizierende Arzt Dr. Thomas Schiker, gehört zu den Gründungsmit gliedern des 1991 entstandenen »Kuratoriums Gedenkstätte Sonnenstein e.V.« Ein einführendes Kapitel beschreibt die geistesgeschichtlichen Hintergründe zur Entwicklung des Sozialdarwinis mus mit den Spezifika zu Eugenik und Rassenhygiene. Die in Deutschland, so auch in Dresden, in den zwanziger Jahren entstandenen erbbiologischen Karteien werden als nutzbare Basis für darauf folgende aktive Maßnahmen interpretiert. Da die Tötungsanstak Pirna-Sonnenstein in ihrer Vorgeschichte eine in Deutschland berühmte Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke ge wesen ist, wird die fortschrittliche Tradition dieses 1811 gegründeten Instituts in den wichtigsten Etappen beschrieben. Im Zentrum des Buches steht die Krankenmordaktion in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnen stein. Der Sonnenstein war eine von sechs im Rahmen der sogenannten »Aktion T 4« eingerich teten Institutionen zur Vergasung Geisteskranker. Thomas Schiker beschreibt alle im Rahmen der Forschung eruierten Einzelheiten der »Tötungsfabrik«. Es bestätigt den hohen moralischen Anspruch des Autors, wenn er für sich als Autor den Konflikt zwischen dem »Empfinden re spektloser Beschreibung« und notwendiger »authentischer Schilderung« akzentuiert. Die perfekte Organisation der gesamten Aktion wird in diesem Buch erstmals derart detailliert und archivalisch belegt vorgestellt. Die Patienten kamen über »Zulieferanstaken« und »Zwi schenanstaken« aus festgelegten Ländern des Deutschen Reiches nach dem Sonnenstein: aus Sachsen, Thüringen, Franken, Schlesien, Sudeten und Ostpreußen. Landesanstaken für Geistes kranke sowie Alten- und Pflegeheime waren die »Zulieferer«. Namen von ca. 70 Prozent der Getöteten sind heute nachweisbar. In Pirna-Sonnenstein wurden zwischen Juni 1940 und Au gust 1941 etwa 15 000 Menschen vergast. Schiker ermittelte auch die hohe Zahl des ausführenden Personals: Von Ärzten über Wärter, Schwestern und Büroangestelke bis zu den Wachmannschaften arbeiteten hier 90 bis 100 Men schen, überwiegend Bürger aus Pirna. Die Morde auf dem Sonnenstein waren Vorstufe für die