69 Das Bild des Zieglers und seine Wandlung zum Industriearbeiter Der Ziegler - der Mann, der Ziegel macht - übte ein viele Jahrhunderte altes Handwerk aus. Im Gegensatz zu Handwerksberufen herkömmlicher Art, die in Zünften und Innungen und seit dem 19. Jahrhundert in Handwerkskammern organisiert waren, fanden die Ziegler aber lange zu keinem Zusammenschluß. Die mit der Herstellung von Ziegeln verbundene menschliche Leistung war enorm. Ein Ein setzer in einer Ziegelei, der einen Zwölfstundentag absolvierte, setzte ca. 14 000 Ziegel pro Tag. Der Streicher hatte bei einer Leistung von 5000 Ziegeln pro Tag 17 500 kg zu bewegen. Bei den Beschäftigten der Ziegelei unterscheidet man 3 Gruppen: Fremde Ziegler (in Sachsen waren es vor allem Wanderarbeiter aus Lippe, Tschechien, Italien und Polen), eigene Ziegler und Tagelöhner. Während die beiden ersten Gruppen einander ebenbürtig waren und gleiche Ar beitsbedingungen hatten sowie den gleichen Lohn erhielten, waren die 3. Gruppe — die Tagelöh ner - Handlanger, Hilfskräfte für grobe Arbeiten wie das Treten des Lehms, das Abtragen und Stapeln der Rohlinge. In dieser Gruppe waren viele Frauen und Jugendliche tätig. 201 So bestand die Belegschaft’der Dampfziegelei Nötzold in Dresden-Briesnitz fast zur Hälfte aus Frauen. 211 Zu den schweren Arbeitsbedingungen kamen in den meisten Ziegeleien katastrophale Schlaf- und Unterbringungsverhältnisse. Im Raum Dresden sahen sich die Behörden deshalb genötigt, im Jahre 1914 Vorschriften über die Beschaffenheit der in Ziegeleien den Arbeitern überlassenen oder angewiesenen Schlafstätten und Aufenthaltsräume festzulegen. 221 Mit der Verselbständigung der Ziegelherstellung gingen auch wesentliche Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen einher. Die Einführung der neuen Technik befreite einen Teil der Arbei ter von der physischen Anstrengung und gab ihnen eine mehr beaufsichtigende und überwachen de Tätigkeit, die entsprechende fachliche Kenntnisse verlangte. Dies machte die Einrichtung von Fachschulen notwendig; 1904 wurden Zieglerschulen in Zwickau und Frankfurt/O. gegründet. In den Wintermonaten erhielten hier Ziegeleibesitzer gewünschte Informationen, in Jahreslehrgän gen Ziegelmeister, Brenner und Maschinisten eine theoretische und praktische Ausbildung. 231 Mit dieser Entwicklung ging die Bildung einer Reihe regionaler und überregionaler Organi sationen als Interessenvertreter der Ziegler einher. Bei den Lipper-Wanderzieglern waren es vor allem kaisertreu geprägte und von der Kirche gegründete Vereine, so der Gewerkverein (Dez. 1895) sowie die Sterbekasse und die Krankenkasse. Als politischer Zusammenschluß entstand 1896 der sozialdemokratische »Gewerbeverein der Töpfer und Ziegler«. In Dresden bildete sich ein Bezirksverein dieser Organisation. 241 Diese gesellschaftlichen Organisationen beeinflußten u.a. auch die Lohnentwicklung in den Ziegeleien. Wurden die Ziegler anfangs für je 1000 Stück gebrannte Ziegel bezahlt, erfolgte ab 1910 - auf der Basis lokaler Tarifverträge - eine feste Ent lohnung. Ab 1907 kam es örtlich zu ersten Streiks, so 1909 in der Ziegelei Nötzold in Dresden- Briesnitz, wo als Streikbrecher galizische Arbeiter eingesetzt wurden. 251 Ziegeleibesitzer Bis etwa 1800 waren die Ziegeleien in kirchlichem, städtischem oder gutsherrschaftlichem Besitz und wurden in Pacht von Ziegelmeistern betrieben. Mit der industriellen Revolution änderten sich nicht nur der Charakter der Ziegelherstellung, sondern auch die Besitzverhältnisse.