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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.01.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980105012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898010501
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898010501
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-05
- Monat1898-01
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Morgen-Airsgabe. ripMr TaMaü Druck und Verlag vor» E. Pol» in Leipzig. Die Morgen-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr, dir Abend-Au-gabe Wochentag« um b Uhr, IXouahmeschluß für Anzeigen: Abend.Ausgabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag« 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stunde früher. Anreisen sind stet« au die Expedition zu richten. Ledaction «ad Expedition: -otanne«,affe 8. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh S bi« Abend« 7 Uhr, Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne PostbefSrdernng 60.—, m»t Postbefürderuug 70.—. Anzeigen-Pret- die Sgefpaltme Petitzeile LV Pfg. Reklamen unter dem RedactionSstrich l4ge- spalten) üO^L, vor den Famiiiennachrichttn (6 gespalten) 40^. Gr Sperr Schriften laut unser» Preis- vrrzeichniß. Tabellarisch« und Ziffernlatz »ach höherem Tarif. Filialen: Ltto Slemm'S Tortim. (Alfred Haha)» - UniverfitStsstrahe 3 (Pauliaum), LoniS Lösche, Natbariueuitr. L4, Part, und LünigSplatz 7. Anzeiger. Amlsbtatt des königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes und Volizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Bez«gS.PreiS ß» ß« Hauptexpeditton ob« den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus- gab,stellen ab geb alt: vierteliuhrlich^lLHH bei »weimalta« täglich« Zustellung in« hau« 5.ü0. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährttch S.—. Dirrtte tägliche Kreuzbandirndung in- Ausland: monatlich ^l 7.Ü0. 6. Mittwoch den 5. Januar 1898. 92. Jahrgang. Deutschland im Jahre 1897. K DaS verflossene Jahr war in Deutschland beherrscht von Fragen der auswärtigen Politik und von der Um' bildung der Regierung, die sich im Hochsommer vollzog, aber schon vor Beginn deSJabrcS erwogen worden war. EinZu- sammenbang zwischen den auswärtigen Ereignissen und den Veränderungen innerhalb der „ReickSregierung" dürfte nicht bestanden haben, obwohl ohne Frage die Ersetzung des Freiherrn von Marschall als StaatSsecretairS deS Aus wärtigen Amtes durch denBotschafter amQuirinal von Bülow der wichtigste Personenwechsel gewesen ist. Möglich, ja wahrscheinlich, daß der Freiherr v. Marschall, der erst unter und mit dem „großen Dulder" Caprivi sich mit den aus wärtigen Angelegenheiten beschäftigen gelernt hat, im Geiste seines ersten Chefs nach der Ermordung deutscher Missionare in Cbina weniger eneraische Maßregeln, als die Festsetzung an einem Puncte des Gelben Meeres, lieber gesehen hätte. Aber Lieser Wunsch würde keinen Einfluß aus den Gang der Dinge gehabt haben. War Deutschland doch im Frühjahr desselben JahreS, als Freiherr v. Marschall nock sein Amt inne hatte, bei der kretischen Ver wickelung in einer Weife in den Vordergrund getreten, die weder seiner Seemacht, noch der Bedeutung seiner Interessen im europäischen Osten zu entsprechen schien. Auch die zum Besseren geänderten deutschen Beziehungen zu Ruß land werden nicht auf Rechnung deS Personenwechsels zu schreiben sein. Der glänzende Redner im Auswärtigen Amte hatte zwar — und rhatsächlich keinem Geringeren als dem Fürsten BiSmarck gegenüber — die Theorie von der diplomatischen Verwerflichkeit einer „Vielheit von Verträgen" mit dem ibm zu Gebote stehenden großen dialektischen Geschick verlbeidigt, das Erlöschen deS „Rückversicherungsvertrages" mit Rußland war aber so wenig auf seine Initiative, wie auf die des Grafen Caprivi zurückzuführen. Immerhin glauben wir, daß, nachdem dem Fürsten Hohenlode ein ge schulter Diplomat in der Person deS Herrn v. Bülow zur Seile steht, die Hindernisse für daS Begeben von schweren Fehlern in der auswärtigen Politik sich verdoppelt haben. Vielleicht kommt auch als weiterer Factor die bittere Er fahrung hinzu. Der von Wilhelm I. und dem Fürsten BiSmarck stets festgeballene Satz, daß zwischen Deutschland und Ruß land ein schwacher Interessengegensatz und eine starke Interessen gemeinschaft herrsche, Hal sich jedenfalls in dem verflossenen Jahre außerordenllich bewährk. Frankreich bat zwar daS heiß ersehnte Wort „Verbündeter" von dem Munde des Zaren gehört, aber es Hal weniger Aussicht als je, durch sein Vcrhältniß zu Rußland zum Nevanchekriege zu gelangen. Diese sehr erfreuliche Gewißheit beiuht freilich zu einem beträchtlichen Töeil auf der Töatsache, daß der Schwer punkt der auSwängn Politik aller lebenSkiäftigen Großmächte von Europa über das Weltmeer sich verschoben bat. Wir Deutschen sind, von Afrika abgesehen, an den „Expansionsbestrebungen" nicht unmittelbar politisch bctheiligt; Land und Leute gedenken wir nirgends zu nehmen und in Afrika wollen wir nichts mehr, als daS Erworbene behaupten. Unser Interesse ist ein mittelbares, wirthschaft- licheS. So angesehen, ist die Besetzung von Kiaotschau nur eingeschäftlichesUnternehmen, daS sensationell zu behandeln man hier zu Lande besser den Engländern überlassen hätte. Der Umfang der Umbildung der Regierung ist Jeder mann gegenwärtig. E» hat ein Wechsel der leitenden Per sonen in fünf Rrichsämtern stattgesunden. Nicht politischen Charakter- war der im ReichSpvstamte, wo für den nach großem Wirken mit Tode abgegangenen Heinrich v. Stephan ein Ersatz zu schaffen war. Einen starken politischen Anstrich gewann hingegen ver Rücktritt de« Herrn v.B örtlicher, der fiel, weil er einer im Reichstage an den allgemeinen Regierungs verhältnissen geübten Kritik nichts entgegenzusetzen für taktisch richtig dielt. Daß im Allgemeinen für die innere Politik den starken Veränderungen große Bedeutung zukomme, ist bisher nicht ersichtlich geworden. Die Geuuglhuung, die die extremen Agrarier über daS Ausscheiden der Herren v. Marschall und v. Boetticher zu äußern nicht müde werden, ist nicht einmal ein untrüg liches Zeichen dafür, daß diese Spielart von Politikern an einen Systemwechsel glaubt. Für sie handelt eS sich darum, den Anhängern im Lichte von Siegern über mebr oder minder künstlich dem Hasse vieler Landwirtbe über antwortete Männer zu erscheinen. Der Graf v. Posa- dowsky und Herr v. Bülow werden gegen die Natur der Dinge nicht ankämpfen. Und diese verbietet Ex perimente wie die Verstaatlichung der Getreideeinfuhr und daS Spielen mit der Währungsfrage, und sie verlangt ge bieterisch, Alle« an daSErzielen vonHandelsverträgen zu setzen, die dem normalen Bedürfniß unserer doch entwickelten Industrie und der abnormen gegenwärtigen Lage der Land- wirrhschaft gereckt werben. Zur Erreichung dieses Zweckes bat die Regierung denn auch schon einen Sckritt mit der Bildung des wirthschaftlichen Ausschusses getban, eines BeiratbS,dessen wichtigste Aufgabe eS sein wirb,die Interessen der versckiebenen ErwerbSgruppeu gegeneinander abzuwägen. Eine Einigung wird berbrigeführt werben, weil sie herbeigesührl werden muß. Die agrariscken Demagogen unv die srei- sinnig-socialbemokratischen Freihändler müssen an den Noth- weudigketteu der Allgemeinheit scheitern. Einstweilen freilich blüht da« Geschäft der Hetzapostel noch. Der Antrag Kanitz ist zwar im verflossenen Jahre nickt wieder auf der parlamentariscken Bilrfläcke erschienen, aber die Agitatoren versuckten ihn unv verwandte Abenteuer- lickkeiten nach wie vor al« in der Tbal „große" Mittel zu gebraucken,um bieVorstellunzvonderRegieruiig,die helfen kann, aber nicht helfen will, in den Lanbwirthen lebendig zu erhalten. Da haben auch die gegen die vorausgegangenen Jahre besseren Getreidepreise des JahreS 1897, die allerdings auck ein Ende der Agrarkrisis keineswegs anzeigten, nickt viel zu ändern ver- mockte. Ebensowenig die „kleinen" Mittel, mit denen die deutschen Staaten wahrlich nickt kargten. Die Agitation wurde belebt durch die Aussicht auf die Wahlen, die niemals vorher ihre Sckatten so früh vorausgeworfen haben, als diesmal. Die Wahlbewegung ist schon so alt, daß sie bereits ein der Demokratie theueres Grab über« flutbet: daS der Flottenangelegendeit als Wahlparole. Nach Wahlen, die zahlreich stattgefunven Haden, gaben keinen Anhaltspunkt, um den Hauptwablen daS Horoskop zu stellen. Dreierlei aber ergab sich: der Freisinn verrieth seine Schwäche auch dort, wo er siegte, die Feindschaft zwischen Conser- vativen und Antisemiten erwies sich als unversöhnlich und die Mißstimmung über die Berliner Reaicruiigsverhält- nisse zeigte sich, so z. D. bei der Wahl in Wiesbaden, als ein sehr ernstes wahlpolitisches Moment. Letzteres auch bei den badischen Landtagswahlen, bei denen die reichStreue Mehrheit der zweiten Kammer ver loren ging, wie auch vielfach sonst. Die „Reichs verdrossenheit", der ParticularismuS nährte sich im ver flossenen Jahre stärker als jemals von Vorkommnissen, die schwer zu kennzeicknen sind. Noch aber — und auch das bat sich ergeben — sitzt die Neigung, sich gegen daS Reich ver ärgern zu lassen, nirgends tief in der Bevölkerung. So erfuhr das bayerischeKammer-Cenlrum, das durch eine ge- bässige Erörterung der letzten Kaisermanöver Stimmung sür sich machen zu können glaubte, eine herbe Enttäuschung. Um gekehrt ist die Einführung einer gemeinsamen Co- carde für daS deutsche Heer überall jubelnd begrüßt worden alS ein herrliches Geschenk der Hundert jahrfeier für Wilhelm I., eines Festes, das im Uebrigen freilich so veranstaltet war, daß es eine neue Quelle erklärlichen Befremdens wurde. Der Mißstimmung diente ganz besonders auch die preußische Vereinsgesetz- uovelle, die den reaktionären Geist der gegenwärtigen preußischen Polizei- wie der CultuSverwaltung alhmet. Besser als die preußische Regierung ihr Versprechen wegen der Aufhebung deS Verbindungsverbotes für Vereine loste der BuudeSrath daS über die Resorm deS Straf verfahrens im Heere gegebene ein. Mit der Entsckeidung über die Marinevorlage bildet die Erledigung dieses Gegenstandes die Aufgabe der nächsten Zukunft, und damit sind wir beim Reichstag angelangt. Er hat im verflossenen Jahre einen Margarinegesetz entwurf der Regierung dermaßen verschlechtert, daß die Unzufriedenheit mit dem zu Stande gebrachten Gesetze auch dessen nützliche Bestimmungen gefährdet. Dafür hat er den vom Bundesraibe einigermaßen brauchbar gemachten Entwurf über die Organisation deS Handwerks in seiner verbesserten Gestalt angenommen, sowie ein AuSwanderungs- und einige Iustizgesetze, die durch daS neue Bürgerliche Gesetz buch nolbweudig gemackt worden sind, zu Stande gebrachi. WaS ibm mißlungen, zählen wir nicht auf, so wenig wir eS für nötbig erachten, zu wiederholen, was Jedermann weiß, daß nämlich dieser Reichstag auch im vergangenen Iaöre durch Unflciß vieler Abgeordneten, Unsachlickkcit der Verhand lungen und Duldung von Ehrabschneivereien ein Bild der Kläglichkeit dargebolen hat. Der wirthschaftlichen Entwickelung ist schon früher Erwähnung gcscheben. Es ist nur die Ergänzung nölhig, daß die furchtbaren Ueberschwem mungen deS Jahres sowohl in der Volkswirthschaft als in den Finanzen großer Bundes staaten daS im Uevrigcn nicht unerfreuliche Bild ungünstig beeinflußt baden unv raß eine außerordentlich große Anzahl zum Theil feor ernster Eisenbahnunfälte, wenn auch ,n minderem Maße, die gleiche üble Wirkung geübt haben dürfte. Deutsches Reich. 6. ö. Berlin, 4. Januar. Im neuen Jahr soll die socialdemokratische Agitation unter den Eisenbadnarbeitern noch energischer und planmäßiger als im alten betrieben werden ; für den PreßfondS werden fleißig Sammlungen veranstaltet, und die College» in Halle a. S. und in Berlin haben jüngst Beiträge dafür eingeschickt. Mit welchen ketzerischen Mitteln die Leiter deS Verbandes arbeiten, gebt wohl am besten aus dem Gruß, den sie ihren Anhängern zum neuen Jahr entbieten, hervor. An Verhetzungen wird daS denkbar Größte in diesem „Gruß" geleistet; es heißt in demselben: „In deu Häuiern der Reichen und der „Vornehmen", der hohen und höheren wobldotirten Staatsbeamten, den Hohenpriestern des jetzt allein mächtigen GolteS Mammon und allen sonstigen Anbetern des goldenen Kalbes herrschte freilich Jubel, Trubel und Ausgelassenheit. In den Hütten der Armen, Geknechteten und Ausgebeuteten hingegen erhellt kein strahlender, in aus schweifendem LuxuS ausgeschmückter Cbristbaum den Raum, sondern oft genug beleuchtet ein armseliges Lämpchen düster und traurig sociales Elend in seiner grausigsten Ge stalt. Auch in vieler Eisenbahner Häuslichkeit wollten Glück unv Frieden nicht einziehen. Die Tage der Remuneration oder zu deutsch: „der Belohnungen für außerordentliche Pflichterfüllung, besonderen Diensteifer und auSzeichnende Dienstleistungen" sind auch glücklich überstanden. Nach dem Grundsatz: „Wer viel hat, dem wird noch mehr ge geben, aber wer wenig hat, dem wird auch noch daS Wenige genommen", hat mau auch diesmal wieder die Eisen- babner bedacht. Besser bezahlte Beamte haben reichlich be messene Gratifikationen bekommen, den Eisenbahnarbeitern aber bot man stellenweise ein Weihnachtsgeschenk in Gestalt von Petitionsablchnungen, Lohnabzügen und Dienstverlänge rung." — Davon ist natürlich kein Wort wahr, daß gerade zu Weihnachten Lohnabzüge u. s. w. stattgefunven Haden. Aber eS muß auf jeden Fall gehetzt werden. * Berlin, 4. Januar. Die „Kreuzztg." richtet wieder einmal in einem Leitartikel einen Appell an den Bund der Lanbwirthe, eine „scharfe Parole" auszugeben für die Frage, wie die Leitung des Bundes bei den Reichstags wahlen sich verhalten werde, wenn der konservative Besitz stand durch antisemitische Einbrüche gefährdet wird. Dabei polcmisirt das konservative Blatt gegen die „Deutsche Tagesztg." u. A. folgendermaßen: „Wenn die „Deutsche Tageszeitung" die Stellung dieser Frage sür „unnöthig" und für „wenig opportun" hält, da die Antwort darauf „längst (!) durch die bezüglichen Grundsätze des Bundes der Landwirrhe gegeben und von ihr (der „Deutschen Tagesz.") schon des Lesteren in einer Weise umschrieben worden sei, die auch den Beifall der „Kreuzzeitung" gesunden habe", so sind wir doch anderer Meinung. „Inopportun" ist jedensalls sür die konservative Partei die Fragestellung nicht, und wir vermögen auch nicht einzusehen, wie sie es für Len Bund der Landwirthe sein sollte, wenn man dort — was wir keinesfalls annehmen — nicht einer klaren Antwort auSzuweichen die Absicht hätte. Daß eine Antwort, wie sie ersorderlich ist, bereits gegeben sei, müssen wir unbedingt be- Feiiilletsn. Skizzen aus Schantung. Bon Karl Theodor Machrrt. iNaLdnick »eiteren. Schantung — vor wenigen Wochen noch ein nur den Geo graphen bekannter Name — ist seit der Besetzung von Kiautschau durch die Deutschen ein Land geworden, auf das sich die Aufmerk samkeit der ganzen Welt richtet, das den Gegenstand von Plänen und Sorgen, von Hoffnungen und Träumen bildet. Wie sich aber auch seine Zukunft gestalten möge, so bietet es jedenfalls an sich soviel des Interessanten, daß es sich schon darum lohnt, sich einmal mit ihm zu beschäftigen. Seit Marco Polo zuerst Schantung betreten hat, sind fabelhafte Gerüchte über seinen Neichthum verbreitet worden, und selbst in den Auf eines Gold landes haben es die Jesuitenpatres gebracht. Zuverlässige Kunde über das Land verdanken wir nächst den Engländern William- son und Martham erst unserem Landsmann», dem großen China- Reisenden Freiherrn von Richthofen, jetzigen Präsidenten der Geographischen Gesellschaft in Berlin. Er hat vor Allem die Thatsache klar gestellt, daß in dem großen wunderlichen Reiche des Ostens gerade Schantung eine historisch wie geographisch besonders merkwürdige Stellung einnimmt. In vorgeschichtlichen Zeiten bildete das Bergland von Schan tung eine Insel, die erst allmählich durch Schwemmland an die im Norden angrenzende große Ebene von Peking anwuchs. Wie eine Burg überragt es diese Ebene, und dieser Umstand wurde auch geschichtlich von großer Bedeutung. Denn als das Bolk, dem China seine Cultur verdankt, von Westen, von der Provinz Schensi her, nach der Küste zudrängte, fand eS in den Bergen von Schantung einen festen Posten, von dem au« eS die Erobe rung der großen Ebene des Nordens unternehmen konnte. So drangen die Eroberer hier ein, lehrten die hier ansässigen Stämme der Lai und der Kiau den Ackerbau, machten durch Eindämmung der durch ihre Ueberschwemmungen furchtbaren Ströme die Nie derung erst anbaufähig und breiteten sich dann von Schantung au- nach Norden und nach Süden aus. So ist diese Provinz in der entscheidenden Epoche der Geschicke China« zum Angel punkte usid zugleich zum Bindegliede deS Norden« und de« Süden« der Küstenländer geworden. AlS ein Bindeglied zwischen dem ethnographisch und land schaftlich so verschiedenen Süden und Norden steht Schantung auch heute noch da. Obwohl e« seinem Charakter nach wesent lich der Gruppe der nördlichen Provinzen zugehört, Hot e« doch den Reis und den Seidenbau — nicht aber den Theestrauch — deS Südens. Die ReiScultur hat ihre Hauptsitze in den dem Ge birge im Westen und Süden vorgelagerten Ebenen; d«r Seiden bau wird dadurch erschwert, daß der Maulbeerbaum in Schan tung im Ganzen keinen günstigen Boden zu finden scheint. Die Seide von Schantung ist zwar fest, aber von unzuverlässiger Farbe und ohne Glanz. Sie wird daher von den Händlern für den Export wenig begehrt und findet ibr Absatzgebiet ganz wesentlich in Nord-China, wo ja die Seide sonst überhaupt nicht erzeugt wird. Ein weiterer Unterschied Schantungs von den anderen nord chinesischen Provinzen liegt darin, daß es sie an Reichthum der Bodenerzeugnisse bei Weitem übertrifft. Bon Schantungs Reich thum haben, wie bemerkt, die Jesuiten wahre Hymnen gesungen. Rei«, Hirse, Weizen, Gerste, Bohnen, Geflügel, Wild, Fische u. s. w. hätte, so erzählten sie, die Provinz in unsäglicher Menge, Obst aller Art, wie Dirnen, Kastanien, Pfirsiche, Pflaumen, Nüsse, Feigen u. s. w., sei in solchem Ueberflusse vorhanden, daß hier das wohlfeilste Leben stattfinde. Liegt nun in diesen Be richten ein gut Theil Uebertreibung, so ist doch so viel wahr, daß in Schantung nicht allein der Obst- und Gemüsebau von be sonder« Bedeutung ist, sondern auch, daß sich das Land über haupt durch ungewöhnlich sorgsamen Anbau auszeichnet. In wunderlichem Gegensätze stehen hi« Höhen und Thäler. Die Berge und Hügel sind starr und kahl, die Thalgründe sind von einem Ackerbau besetzt, dessen Leistungen in ganz China unüber, troffen sind. Sie find in kleine Stücke parzellirt und jedes von ihnen wird von einer Familie, deren Mitglieder sich fleißig bei der Arbeit unterstützen, wie ein Garten gepflegt. So hoch e« die Bewäfferungsverhältnisse nur irgend erlauben, zieht sich diese sorgfältige Cultur an den Hängen hinauf. Unschwer erkennt man überall, daß man sich in einem Lande alter Cultur und Tradition befindet. Und dennoch können die Jahrtausende alten Erfahrungen nicht einen verhiingnißvollen Raubbau ver hindern. Dieser Raubbau bezieht sich auf da» Heizungsmaterial, das bei dem hi« theilweise rauheren Klima ein dringendes Be- dürfniß ist. Um es zu erreichen, wird an vielen Stellen mkt ein« besonderen, au« dem Süden eingrführten Harke das Erd reich, wo es nicht künstlich angebaut ist, aufgewühlt und der Grasteppich mit den Wurzeln ausgerissen, um so ein vegeta bilische« Heizung-material zu erlangen. „Mit Neid wird der jenige betrachtet, dem es glückt, bei diesem Vernichtungswerk alte Wurzelstöcke von Bäumen, oder Sträuchern aufzufinden. Dann wird der Boden aufgehackt und man zieht jene bi« auf ihre letzten Fasern heraus." Da dann d« nächste Regen einen Theil de« so gelockerten Erdreichs wegspiilt, so halt es Richthofen für wahrscheinlich, daß die Fläche, wo das Gestein nackt zu Tag« tritt, alljährlich wächst. Und die« Verfahren wird in einem Lande geübt, das neben verschiedenen kleineren vier große Kohlenfelder besitzt, die meist ohne besondere Mühe vorzügliche« Brennmaterial liefern! Aber in Folge der Unzulänglichkeit der Verkehrsmittel kommt nur der Nachbarschaft der Kohlendistrikte diese« Brennmaterial zu Gut«. Dir mineralischen Reichthümer, die frühere Reisende Schantung angrfabelt haben, sind in Wahrheit bescheiden. Gold findet sich in sehr unbedeutenden Quantitäten im Schwemmland«, und ni« war wohl ein Goldfieb« weniger berechtigt, als das Schantung geltende im Jahre 1868. Eisenerz birgt der Boden allerdings, doch ist es bisher kein Gegenstand des Bergbaues geworden. In seinen Kohlenlagern hingegen besitzt Schantung in der Thal einen großen Schatz, d« voll erst zur Geltung kommen wird, wenn das Land durch neue Verkehrswege erschlossen sein wird. „Nie war ein Land geeigneter für Eisenbahnen, als Schantung, und keine Provinz Chinas bedarf ihr« mehr", — so hat I. Markham schon 1d69 geurtheilt. Das Alter dies« Cultur hat eben auch hier den dem heutigen China eigenthümlichen Verfall nicht verhindern können. Die Landstraßen, die noch jetzt Spuren ihr« ursprüng lich vorzüglichen Arbeit zeigen, sind heute für rin anderes Gefährt, als den landesüblichen Karren kaum passirbar. Einst prächtige Brücken find verfallen und durch dürftige und gefährliche Noth- Stege aus Kauliang-Stengeln, die mit Lärchenholz gedeckt sind, ersetzt. Trotz dies« unvnkennbaren Spuren de« Verfalls macht Schantung auf den Reisenden noch heute vielfach einen sehr vorthril- hasten Eindruck. Einzelne Theile des Landes sind überaus dicht bevölkert; eS mögen da etwa 15 000 Menschen auf die Quadrat meile kommen. Das gilt besonders für die den Norden der Provinz bildende Ebene, die sich unabsehbar weit völlig flach erstreckt, dicht bebaut und mit Dörfern und Städten eng besetzt ist. Diese Ebene ist es, dir dem von Norden her eintretcnden, den Kaiser canal benutzenden Reisenden die Fahrt ungemein reizlos gestaltet. Keine noch so geringe Erhöhung belebt die unendliche Fläche und eS ist eine Erlösung, wenn am Horizonte die ersten Gipfel des Berglandes erscheinen. Auch das geniale Werk des den Süden und den Norden deS Reiches verbindenden Kaisercanals ist von Schantung auS in Angriff genommen worden. Hier er reicht er seine Paßhöhe, von der aus allein die Conception des großartigen Baues möglich war, der noch heut den Hauptver kehrs- und Handelsweg der Provinz bildet. Die Bevölkerung von Schantung, die sich im Ganzen auf etwa 30 Millionen belaufen mag, trägt einen scharf ausgeprägten eigenen Charakter. Als Richthofen von Westen her das Land be trat, fiel ihm die Reinlichkeit, Ordnungsliebe und Cultur der Schantungleute im Vergleiche zu der bettelhaften und schmutzigen Bevölkerung von Kiangsu sofort auf. Und diese Eigenschaften kennzeichnen die Bewohner der ganzen Provinz. Au« der Ver schmelzung der alten hier ansässigen Stämme und de« erobernden Volkes hervorgegangen, zeigen sie im Allgemeinen eine hohe, schlanke Figur, eine dunklere Hautfarbe und weniger schräg ge stellte Augen, al« die Chinesen des Südens. Sie sind ihrem Charakter nach nicht Handelsleute, sondern Ackerbauer; den Aus wanderern aus Schantung dankt auch dir Mandschurei die Urbar machung und Bebauung großer Strecken. Im Allgemeinen neigen sie aber dazu, im Lande zu bleiben, wo sie fleißig arbeiten und in festen Häusern von größerer Gediegenheit und Gefälligkeit, als in China im Allgemeinen üblich ist, wohnen. Die Familien halten treu zusammen und oft sieht man alle ihre Angehörigen gemeinsam auf dem Felde arbeiten. Auch in der Gemeinde scheint ein gewisser Sinn für die Zusammengehörigkeit zu leben; wenigstens ist beobachtet worden, daß in ihren Dörfern sich zu meist ein Platz mit Steinsitzen unter hohen Bäumen findet, wo die Männer des Abends sich mit ihrer Tabakspfeife zur Be- rctthung einfinden. Die Schantung« sind im Allgemeinen geistig regsam und stellen einen großen Bestandtheil zur Beamtenschaft und zur Gelehrtenwelt. In der Kunst aber haben sie wenig ge leistet, und außer der in d« Nähe der Kohlenfeld« entstandenen Töpferei und GlaSwaarenfabrikation werden sich wenig ein heimische Industrien finden. Der Boden und sein Ertrag sind hier in der Hauptsache Alles. Vergleichen wir die Eigenart der Bewohner von Schantung mit denen der anderen chinesischen Stämme, so zeigen sie eine geistige Ileberlegenheit, die sie sofort als ein altes Culturvolk charakterifirt. Zu dies« Ucberlegenheit mag auch das Gefühl bei tragen, daß Confucius, der große Heilige und Reformator der Chinesen, ihr Landsmann ist. Bei Kio-fu-hsien soll er in einer Höhle das Licht der Welt erblickt haben, in dieser Stadt wohnt sein Geschlecht, dem sich acht von zehn ihrer Bewohner beizählen. Jhnenistdas Amt des Stadtobeihauptcs erblich überlassen, und im Range von Herzögen, nur den kaiserlichen Prinzen nachstehend, lebt hier seine unmittelbare Nachkommenschaft. Große Tempel — Tempel sind sonst in Schantung auffallend spärlich — ehren in und bei Kio-fu des Philosophen Andenken und eine 12 (engl.) Fuß hohe Statue zeigt ihn als einen starken wohlbeleibten Mann mit einem schönen großen Gesichte. Und noch ein anderes be rühmtes religiöse« Heiligthum ziert Schantung: der Thai-schan bei Thai-ngan«fu, einer der fünf heiligen Opferberge der Chi nesen. Er ist 5000 (engl.) Fuß hoch, wild und rauh, der Aufstieg ist vergeblich versucht worden; auch Confucius kam nur bi« zur halben Höhe, wo ein Tempel den Punct bezeichnet. Ein anderer Tempel befindet sich auf der Höhe; er ist der „Heiligen Mutter", der „Königin des Himmels" geweiht; kinderlose Frauen suchen ibn gern auf und opfern hier, um Erh'örung ihrer Wünsche flehend, ein Scherflein. ES ist wohl nicht unzweifelhaft, daß die Heiligkeit des Thaischan einen Rest des alten HöhencultuS der Chinesen darstellt, wie denn dir fünf Opferberge nur aus einer Anzahl anderer Berge al« besonders heilig in alter Zeit ausge wählt worden sind. So ist Schantung in geschichtlicher wie in religiöser Hinsicht so recht da« Herzland von China. Von hier empfing der Norden den Ackerbau, von hier der Süden die große Verbindung mit den Hoangho-Ländern, von hier ganz China seine Religion und Sittenlehre. Obwohl nicht da« Eldorado, al« da« e« einst ge rühmt wurde, ist e» doch reich an Bodenschätzen aller Art, und wenn eine neue kräftig« Cultur diesen alten Culturboden wieder düngt und bebaut, wenn das Land dem allgemeinen ver falle Chinas entrissen wird, so hat r« sich« noch «ine große Zukunft.
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