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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.01.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-13
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980113022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898011302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898011302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-13
- Monat1898-01
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Der Reichstag hat seine beiden ersten Sitzungen im neuen Jahre mit der ersten Berathung der Novellen zum GerichiSversassungSgesetze, zur Strafproceß- ordn ung und zur Civilproceßordnung au-gefüllt und hätte gestern diese Beratbung mit der Verweisung der Vor lagen an die Commission beenden können, wenn daS Haus stark genug besetzt gewesen wäre, um der Redelust einiger Mitglieder ein Ziel setzen zu können. Und doch wird die Hauptarbeit in der Commission liegen. Ans der Plenarberathung läßt sich nur schließen, daß die wichtigste Bestimmung der Novelle zur Civilproceß- ordnung, nämlich die Erhöhung der Rcvifionssumme der an das Reichsgericht gelangenden Cwilsachen von 1500 auf 3000 so gut wie keine Aussicht auf Annahme im Reichstage hat. Sämmtlicke Redner sprachen sich mit fast gleicher Bestimmtheit gegen dieses Mittel zur Entlastung des Reichsgerichtes aus. Es wurde erklärt, daß eine solche Erhöhung der Revisionssumme gerade in dem Augenblicke, wo ein neues materielles Recht eingefübrt wird, die schwersten Bedenken erregen müsse; da die Entscheidungen der Ober- landesgerichtc schon jetzt in sehr zahlreichen Fällen von der Revisionsinstanz aufgehoben würden, so würde der Prvcent- satz der unhaltbaren OberlandesgerichtSentscheidungen sich noch steigern müssen, sobald das Bürgerliche Gesetzbuch ein- geführt sei, denn dann lägen keine Entscheidungen des Reichs gerichts mehr vor, so daß die Oberlandesgerichte durchaus auf ihre eigene Rechlsauffassung angewiesen wären. DaS Reichsgericht genieße nun doch einmal ein größeres Ver trauen als die Oberlandesgerichte, und müsse es genießen, gerade deshalb aber sei es dazu berufen, daS neue Gesetz gerade in erster Zeit durch seine Entscheidungen praktisch zu interprctiren. Es würde eine Härte in moralischer und socialer Hinsicht sein, wenn bei der Einführung des neue» Gesetzes diejenigen, die Processe um Weniger als 3000 anhäugiz machten, gewissermaßen so lange Versuchskarr.ickel für die niederen Gerichte sein sollten, bis endlich Ent scheidungen des obersten Gerichtshofes vorlägen, die in denselben Rechtsfragen, aber bei höheren Summen ergangen wären. Einer der Redner sah darin sogar eine Art von Classenjustiz, die bei den mittleren Schichten der Be völkerung Mißstimmung erregen müßte. Was geschehen soll, um die unerläßliche Entlastung des Reichsgerichts berbei- zuführcn, ohne welche die Einheitlichkeit und Ueber- sichilichkeit seiner Entscheidungen nicht völlig gesichert werden kann, darüber gingen freilich die Meinungen ebenso aus einander, wie sie in der Verwerfung der Erhöhung der RevisionSsumnie übereinstimmien. Die meiste Zustimmung fand der Vorschlag des Abg. v. Cuny, vom Augenblicke der Einführung deö Bürgerlichen Gesetzbuches an die auf Grund der durch dasselbe aufgehobenen Gesetze gefällten Urtheile für nicht revisibel zu erklären. Die Härte, die darin liege, werde wesentlich dadurch gemildert, daß für diese Gesetze eine genügende Anzahl von Reichsgerichts entscheidungen vorliege, um die Wahrscheinlichkeit einer falschen Auslegung durch die Vorinstanz zu einer ganz geringen zu machen. Dadurch würde bas Reichsgericht in den ersten Jahren nach der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches erheblich entlastet werden, so daß eS seine Kraft auf die Aus legung des neuen Gesetzes concentriren könne. Und wenn dann nach einer Reihe von Jahren eine genügende Judicatur des Reichsgerichts über das Bürgerliche Gesetzbuch vorliege, so lasse sich viel eher über die Erhöhung der Revisionssumme und eine dadurch herbeizuführende weitere Entlastung des Reichsgerichts reden. Es ist bedauerlich, daß mit dem Amte eines Mitgliedes des obersten Gerichtshofes die Uebernahme eines NeickStagSmandate« sich nicht verträgt. Die Debatten der beiden letzten Tage über die Erhöhung der Revisions summe und den damit zn erreichenden Zweck wären sonst wobl fruchtbarer gewesen. Der dritte Bcrathungstag wird nicht fruchtbarer sein, und so wird man abwarten müssen, was aus den sachlicheren CommissionSberathungen hervorgebt. Dem in diesen Tagen wieder zusammentretenden badischen Landtage stehen heftige Auseinandersetzungen in Aussicht, denn in den letzten Wochen hat sich im „Ländle" ein über reicher Zündstoff aufaesammelt, der zur Entladung führen muß. Der Centrumssührer Wacker ist wülbend. DaS ist sehr begreiflich, denn dieser eigenartige Verkündiger der christ lichen Liebe, mit seiner berechnenden, maßlosen Herrsch- und Verfolgungssuckt, bat sich und die Seinen durch die Bonn- dorser Briesgesckichte und die durch sie verursachte Aufdeckung des jesuitischen Systems der Politik der badischen Ultramon- tane-i geradezu vernichtenden Schlägen auSgesetzt.Das Schlimmste aber für das Wacker'sche System, welches keinen Widerspruch duldet, sondern blinde Unterwerfung unter den starren Willen des Parteiführers fordert, ist die Thatsache, daß es im badischen Klerus, der lange Jahre wortlos unier dem Wacker'scken Joche geseufzt Hal, zu gähren beginnt. Zahlreiche Zuschriften von katholischen Pfarrern Badens an liberale Zeitungen, in denen Protest erhoben wird gegen die Wacker'sche Gewalt herrschaft, legen dafür Zeugniß ab. Die ultramontanen Zeitungen sind natürlich derartigen Protesten unzugänglich, da sie ausnahmslos unter dem Einflüsse der Centrumsleilung steben und nicht wagen dürfen, wider den Stachel zu löken. Daß sich dieser GährungSproceß im badischen Klerus zu einem offenen Widerspruch gegen die Wacker'sche Parteileitung ver dichten werde, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Immerhin werden aber diese aus den Kreisen der katholischen Geistlich keit kommenden Proteste dazu beitragen, Vie von Wacker terroristisch zurückgedränqte, friedlicher gesinnte Unter st, ömung im badischen Centrum zu begünstigen, die durch den Reichstagsabgeordneten Lender, den Professor Kraus in Freiburg u. A. verkörpert wird und im badischen Klerus noch sehr viele Anhänger besitzt. Zu alledem kommt, daß sowohl im Bezirk Lörrach-Land als neuerdings auch im Wahlkreise Durlach-Land die Gefolgschaft des Herrn Wacker gründlich aufs Haupt geschlagen worden ist. In beiden Bezirken hat die Wahlanfechtung für die unter dem Commando deö streitbaren Pfarrers stehende demokratisch freisinnig-ultramontan-socialdemokratische Coalition keinen Gewinn gebracht, obwohl man gemeinsam die Wähler mit allen Mitteln bearbeitet hatte. In den nächsten Kammer verhandlungen wird sicher Herr Wacker die erste sich ihm darbielende Gelegenheit ergreifen, um sich aus dieser Ver legenheit mit einer flotten Attacke auf die Regierung und die gehaßten Nationalliberalen zu retten. Unter diesen Umständen darf man dem Wiederzusammentritt der zweiten badischen Kammer mit Spannung entgegensetzen. Das Ergebniß des ProcesseS Esterhazy, die Freisprechung des Majors von der Anklage des LandeSverratbs, hat Niemand überrascht, denn die Anklageschrift des Untersuchungsrichters MajorNavary war,wie man weiß, eine VertheibigungEsterhazy's und die Erhebung schwerster Beschuldigungen gegen den Oberst lieutenant Picguart, den Hauptbelastungszeugen Esterhazy'S Von irgend welcher Aufklärung der mysteriösen Angelegenheit kann in Folge dessen nicht im Entferntesten die Rede sein. Weder ist die Schuld DreyfuS', noch die Un schuld Esterhazy'S bewiesen. Jedermann fragt sich noch, wie konnte jener auf Grund deS berüchtigten Bordereaus (deS Verzeichnisses der angeblich einer fremden Macht ausgelieserten militairischen Acten) verurtheilt werden, da die Sachverständigen Uber die Identität seiner Schrift mit der des Bordereaus sehr getheilter Meinung waren, und wie konnte der Freispruch Esterhazy'S erfolgen lediglich auf Grund eines Gutachtens und zwar desselben Schreib sachverständigen, der — ausschlaggebend — die Schrift deS Bordereaus als identisch mit der DreyfuS' erklärt harte und nun sich dahin aussprach, daß die Schrift Esterhazy'S, welche der DreyfuS' sehr ähnlich ist, nicht die des Bordereaus sein könne? Wie konnte das geschehen, nach dem Esterhazy selbst zugegeben hatte, daß seine Schrift und die des Bordereaus in erschrecklicher Weise zum Verwechseln sich nahe kommen? Aber darin liegt nicht daS Hauplergebniß der beiden Processe. Dies ist vielmehr in dem Zugeständniß der Esterhazy-Anklageschrift zu suchen, daß die Verurtheilung Dreyfus' sich nickt in erster Linie aus das Bordereau, sondern auf geheime Actenstücke gründet, die der Kriegsminister erst während der Verhandlung vorlegte und in die in direktem Widerspruch mit dem klaren Wortlaut des Gesetzes weder Dreyfus noch sein Vertheidiger Einblick er hielten. Das sollen die einen fremden Staat com- promittirenden Schriftstücke sein, die angeblich auf einer Botschaft gefunden wurden. In Frankreick glaubt trotz aller officiösen Dementis auck heute noch Jedermann daran, daß es sich um einen Briefwechsel deS deutschen Kaisers mit der deutschen Botschaft über Dreyfus resp. mit diesem selbst handle. Wir sagten schon wiederholt, daß die französische Regierung zweifellos etwas zu ver bergen habe, das, wenn es bekannt würde, die inter nationalen Beziehungen der Republik schwer schädigen müßte. DaS gebt, wir aus dem Gange der ganzen Esterhazy - Angelegenheit, unzweideutig aus den Aeuße- rungen Möline's hervor, welche dieser vor einiger Zeil in der französischen Kammer gethan hat. Von einer Schädigung könnte aber dann nicht die Rede sein, wenn ein Spionage-Versuch Deutschlands im Spiel wäre. Ganz im Gezentheil! Es muß sich also um eine andere Nation handeln. Wir theilten schon im heutigen Morgenblatte mit, baß der Verdacht neuerdings auf die russische Botschaft gelenkt worden ist. Rußland, so wirb gesagt, habe genaue Kenntniß über die französische Kriegsbereitschaft erlangen wollen; da die Auskünfte hierüber durch die Botschaft in Paris nicht zu bekommen waren, habe sie sie erkauft. Tas „Bordereau" sei in der russischen Botschaft gestohlen morden. Um nicht eineu Stimmungsumschwung gegen Rußland, mit dem damals noch über daS inzwischen zu Stande ge kommene Bünbniß unterhandelt wurde, herbei- zusühren, habe die französische Negierung es geschehen lassen unv mittelbar unterstütz«, daß der Verdacht sich auf Deutsch land lenkte. Ist dies richtig, so kann man sich die Grheim- thuerer im Proceß Esterhazy unschwer erklären, und dann versteht man auch, weshalb der Wortlaut der Schuldfrage gegen Esterhazy nickt unbeträchtlich von dem der Schulbfrage abweicht, die am 22. December 1894 dem Kriegsgericht über DreyfuS vorgelegt wurde. Damals wurde gefragt: „Ist der Hauptmann Dreyfus schuldig, im Jahre 1894 einer fremden Macht oder deren Vertretern eine gewisse Anzahl geheimer Documente ausgeliefert zu haben, die dieser Macht ein Mittel zur Kriegführung gegen Frankreich gegeben haben?" In dieser Frage war nicht die Rede von „Machenschaften" im Allgemeinen, durch die eine fremde Macht „veranlaßt" werden sollte, Frankreich zu bekriegen. Diese vage Fassung der Schuldfrage kann nur den Glauben bestärken, daß man Rücksichten auf eine andere Macht, d. b. auf Rußland habe nehmen wollen. Wie dem aber auch sei, zu Ende ist die DreyfuS-Campagne noch nicht. Darüber liegen uns folgende Nachrichten vor: * Pari», 12. Januar. Der frühere Justizminister Senator Trarieux beabsichtigt, den Kriegsminifter darüber zu inte» pellireu, ob das Kriegsgericht in dem Proceß Dreyfus von Thatsachen oder Documenten Kenntniß erhalten habe, welche dem Angeklagten nicht mitgetbeilt worden sind und ob der Minister ein Mitglied jenes Krieg-gerickts ermächtigen wolle, in dieser Beziehung eine eidliche Erklärung abzugeben. * Paris, 12. Januar. „L'Aurore" veröffentlicht einen offenen Brief Zola's an den Präsidenten der Republik, überschrieben: ..ck'accusk", in welchem der ganze Proceß, der sich soeben abgespielt hat, noch einmal vorgeführt wird. Zola hebt aus der Unter- juchungsiührung und den Verhandlungen des Kriegsgerichts Un regelmäßigkeiten und Ungesetzlichkeiten ohne Zahl hervor und beschuldigt du Paty, de Clam, Ravary, Billot und Mercier formell der Pflichtvergessenheit. Zola fordert schließlich die Regierung geradezu heraus, ihn vor «in Schwurgericht zu stellen. Bezeichnend für die Parteileidensckaften, welche die Sache DreyfuS-Esterhazy aufgeregt bat, ist die Thatsache, daß gestern auf dem Montmartre die Pariser Maler ein Auto da F6 veranstalteten, indem sie Puppen verbrannten, welche Vie Mitglieder des DreyfuS-Comil6s darslellen. Noch charakteristischer aber ist die Erscheinung, daß derselbe Esterhazy, der erklärt hatte, seine größte Lust sei es, an der Spitze eines Ulanenregiments die Franzosen zusammenzuhauen, die weiter nichts verdienten, nach seiner Freisprechung auf der Straße al« „Märtyrer Frankreichs" begrüßt und bejubelt wurde, lediglich weil in den Augen der Franzosen der Aus ganz seine« Proceffrs nickt daS Märchen von der deutschen Spionage zerstört hat. L'est In krnncsl Das Interesse an der ostasiatischen Frage concentrirt sich im Augenblick ganz auf die chinesische Anleihe. Bis jetzt stand die Angelegenheit bekanntlich so, daß man jeden Augen blick ihren Abschluß in London erwarten konnte. Nun meldet aber nach einem Londoner Telegramm der „Fkf. Ztg." der „Manchester Guardian", angeblich auf Grund, einer In formation aus authentischer Ouelle, die Frage habe seit dem letzten Freitag eine sehr schnelle Wandlung durchgemacht. Bis dahin wäre die englische Regierung völlig abgeneigt gewesen, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen unv noch viel weniger geneigt, den Vorschlag einer Garantie der Anleihe in Erwägung zu ziehen. Telegraphische Informationen von der englischen Botschaft in Berlin, sowie vom englischen Gesandten in Peking hatten nicht nur den Zusammentritt deS CabinetSrathe« am letzten Sonnabend zur Folge, sondern führten auch eine Entschei dung Kerbei, zusammen mit der deutschen Regierung eine Ausgabe der Anleihe vorzunehmen. Die gegenwärtige Lage sei also die, daß zwischen London und Berlin eine Verständigung erreicht sei, wonach die englische und deutsche Regierung gewissen Financiers behilflich Lamps und Entsagen. sj Roman von M. von Eichen. Nachdruck »erboten. Der Mann in dem vertragenen Rock lächelt bitter. Er fährt mit der Hand durch das Haar, das merklich dünner geworden scheint in der kurzen Zeit, wie er selbst auch viel schmäler und blasser geworden ist, seit ihm vor Weihnachten noch eine böse Grippe zu schaffen gemacht hat. Ob auch die Kritik an seiner Farbengebung, seiner Gestaltung sich nachgerade die Zähne zu wetzen beginnt: Niemand versteht, was er gerade so und nur so sagen kann und will, wie auch Niemand diese seine neuesten Bilder kauft. Er aber wird, er muß sich treu bleiben. Hastig tritt er zu der nächsten Staffelei, und mit einem kräftigen Pinselstrich fährt er von oben bis unten über das hier begonnene Werk. „Lorenz, um Gotteswillen, was fängst Du an?" Die Thür hinter Kirchner's Rücken hat sich geöffnet; Frau Anna ist herein getreten und ergeht sich nun in Jammer und Schelte über den Schaden. „Es war so hübsch, das Hübscheste, was Du überhaupt ge macht hast!" bleibt der Schluß ihres Klageliedes. „Anna!" Es klingt fast wie der Schrei eines zu Tode ge troffenen Thieres; dann lacht er auf, kurz und hart mit der Miene eines Menschen, der sich wieder in das gewohnte Gleich gewicht bringen will, indem er sich an die Natur der Dinge er innert. „Doch", fährt Frau Anna diesmal unentwegt fort, „Schmutz, Hunger und Kummer — die hat's im Leben genug. Ich sehe auch lieber ein hübsches Gesicht und runde, satte, reinliche Kinder an der Wand." „Damit aber schafft man den Schmutz, die Noth nicht aus der Welt" — ruft er dagegen und seine Nasenflügel zittern, seine Augen brennen. „Das hier hätte sich verkauft" — Frau Anna weist auf das durchstrichene Bild: Zwei Kinder spielend im Sonnenschein auf der Wiese, Kinder armer Leute, in dürftigen Röckchen, aber mit Gliedern wie ein Rafaeli'scher Bambino, rosig und zart, als würden sie täglich mit Lilienmilchscife gewaschen, rund, als würden sie mit Hähnchen und Tauben gefüttert — und rein, als lebten sie wie die Engel im Himmelsgarten ohne Straßenstaub und Erdenschmutz. Alles so hübsch und angenehm, wie der wohlsituirte Mann derlei Kinder an den Wänden seiner Zimmer liebt. Dazu ist das Bild hübsch und glatt gemalt, so wie man es gewohnt ist aus der guten alten Zeit; das GraS nicht zu grün, die Sonne nicht zu weiß, Farben und Töne, in denen sich jedes Auge zurecht finden kann, — kurz, ein Bild, das Jedermann gefällt, wie es der Händler wünscht, und wie es schließlich auch Lorenz Kirchner, wenn er will, malen kann. Und daß er das kann, so gut kann, das wurmt vielleicht Frau Anna eben noch am meisten! „Es hätte sich verkauft", wiederholte sie immer von Neuem. Er stöhnt, aber er zwingt sich zur Ruhe. „Anna", beginnt er sanft, doch eindringlich ernst, „Du weißt nicht, wie das ist. Mir ist, als beging' ich eine Sünde, wollte ich meine Kraft an solchen Trödel verschwenden. Frau Anna schüttelt den Kopf. Nein, sie versteht ihn einmal wieder nicht. Sie kann nicht begreifen, wie Einer auf Etwas durchaus beharren will, das ihm nichts einbringt, von dem sie auch sonst keinen Nutzen sieht; warum man sich schinden, placken soll, wenn man es so gut habe» könnte! Und sie setzt ihm das auseinander mit wachsender Erregung. „Schau mich nur an!" erklärt sie zum Schluß. „Ich habe den Wandel Deiner Modelle mitgemacht — ich bin nur noch die richtige Proletarierfrau!" Als habe er einen Schlag empfangen, prallt Lorenz zurück. Auch die Frau steht lautlos da und wagt nicht, sich zu rühren. Er aber hat die Hände ineinander geschlungen auf das Fensterbrett gelehnt und preßt die Stirn gegen die Scheiben. Wenn es außer dem Kampf um seine Kunst Etwas gab, das Lorenzens Seele bedrückte, zuweilen schmerzlicher noch als jener, dann war es der Kummer um die Frau und das Kind. Auch eben krampft sich sein Herz zusammen; seine Stirn brennt und wärmt dir Scheiben mit ihrem fieberischen Feuer. Und doch, bei Gott, er kann, er darf nicht ander», will er nicht den Geist verleugnen, der ihn treibt! Er kann nicht anders, kann das Opfer nicht von ihnen nehmen, sie müssen mit ihm aushalten, wollen sie zu ihm gehören. Dir Aufgabe, die er sich gesetzt, wiegt jedes persönliche Schicksal auf. Damit ist wieder Frieden geworden in seiner Künstlerseele. „Anna" — er tritt zu der Frau, er schlingt den Arm um ihre Gestalt, drückt den Kopf an seine Brust. Und nun klingt eS doch schluchzend fast: „Anna, ja e« ist Alle« anders geworden, als wir gedacht — sonst, bei Gott —" Es scheint ihm in der Kehle zu stecken, wo» er hat sagen wollen. „Nur eine Weile noch habe Geduld bis zur Ausstellung — bis nach der Ausstellung", sagt er nun. „Dafür", seine Hand weist aus das durchstrichene Bild — „dafür verkaufe ich meinen Schrank." „Ich glaube gar!" wehrt sie da schon — „Nix —" „Doch. Du kannst es nicht mehr, und sollst es nicht länger. Der Winter war schwer —" Sic schluchzt auf; er schweigt eine Weile, seine Augen werden dunkel. Einmal aber muß es doch durchdacht werden. „Und dann, und wenn —" Er löst sich los von der Frau und hebt die Hand: „Und wenn — Anna, ich weiß, was ich Dir schulde und dem Kind, mein armes, liebes Weib!" „Sag' das noch einmal, nenne mich noch einmal so!" jauchzt sie auf, und stürmisch umhalst sie den Mann. „Nix sollst Du thun, als glücklich sein, dummer Renzo, Du. Nix sollst Du thun, was Du nit willst, als mich ein bischen lieb haben!" „Hab' ich denn das nicht?" fragt er und streicht mild über ihre erglühende Wange. Sie reibt das Gesicht an seiner Hand. „Doch, doch, es mag schon sein, 's is nur so Manches anders, als, als — war das eine Herrlichkeit —" sie stockt. „Wir sind älter, die Zeiten sind ernster geworden", fällt er ein. Sie nickt und schluckt rin paar wieder aufquellende Thränen hinunter. Jnstinctiv fühlt sie wohl, wie sie sich Beide verändert haben. Aber gerade, daß sie ihm nicht mehr gefallen, daß er sich von ihr wenden könne, ist seit länger schon die heimliche, sich fast krankhaft steigernde Angst ihres Herzens. „Renzo", beginnt sie zaghaft leise, „'s is wahr, ich verstehe nit immer, was Du eigentlich willst —" Nein. Er sagt es nicht, aber er denkt es mit Schmerzen. „Aber ich habe Dich lieb. Gelt, wenn ich auch mal so heraus fahre?" Er nickt. „Küsse mich noch einmal", bittet sie nun kindlich fast. Und er küßt sie auf das Haar; er streicht ihr die Wange; er küßt die blasse, dünne Hand. Sie lacht und schüttelt sich vor Glück! Taktvoll entwindet sie sich seinem Arm. „Ich muß mal ein wenig Ordnung machen hier —" Flink ging es ihr von statten. Das große Bild wandte das Gesicht von der Wand, freundlich versprechend seinem Meister entgegen. Die Pinsel und die Tuben kamen an ihren Platz; das Brod und der Käserest verschwanden. „Und jetzt kommst herüber zu uns? Es ist doch kalt ge worden. — Oder soll ich von Neuem feuern?" fragt sie sorglich. „Wenn Du lieber lesen willst hier?" „Nein, Anna, danke, ich bleibe bei Dir und dem Kind —" Die Lampe brannte auf dem Tisch. Ein weißes Tuch war darunter gebreitet, die Stärke deö Lichtes zu erhöhen, wenigstens für die nächste Nähe — denn für den ganzen Raum reichte die bescheidene Leuchtkraft nicht aus. Lorenz saß auf dem Sopha, seinen Knaben zwischen den Knien. Der Knabe baute seltsame Gebäude mit hölzernen Klötzchen. Er jauchzte und sah mit großen Kinderaugen den Vater an, ebenso glückselig, wenn er ein Haus zu Stande gebracht, wie wenn er eins wieder um geworfen hatte. „Wir bleiben alle Kinder. Schaffen, daß es zu Grunde geht", meinte der Vater gedankenvoll. Frau Anna schwieg. Natürlich hatte sie wieder einmal seinen Gedankengang nicht begriffen. Vielleicht hatte sie auch keine Zeit, sich in ihn zu vertiefen. Sie sortirte die Fäden zu dem Wappen auf dem Fries in ihrer Hand, was gar nicht so leicht war, da die Farben von dem hellsten Stahlgrau des Helmes und der Silberschattirung an dem Wappenmantel hier sich so ähnlich sahen. Der Knabe wollte Märchen hören, schöne, wie sie nur der Vater erzählen konnte. Mit seinen großen Augen sah er zu diesem empor. Wir ihn des Kindes Blick an die Mutter erinnerte, an jene Zeit, wo sie Beide in frohem Muth der Jugend und der Leiden schaft in das Leben sahen! Ohne daß er es wußte und wollte, drängte sich ein Seufzer über seine Lippen. „Du langweilst Dich?" — Anna riß ärgerlich an einem Faden, der sich verknotet hatte. „Ich dachte an Deine guten Augen" — Lorenz schraubte an dem Dochte der Lampe — „daß Du sie schonen möchtest. Brennt es besser so?" „O —" Ein dankbares Lächeln verklärte das verblichene Gesicht. — „Wundervoll!" Sorgsam glätteten eben die Finger die Fäden. Um einen kleinen Knoten die Geduld zu verlieren! Frau Anna schalt mit sich selbst. Ein Mädchen, erbärmlich in Aussehen, erbärmlich in Haltung und Kleidern und ungeschickt, wie all diese noch unausgewachsenen Geschöpfe, die von einem Haushalt in den anderen gestoßen werden, die Niemand nur eine Minute länger behält, als er sie gerade braucht, trat, einige Teller im Arm, herein. „Essen!" rief Willi, fröhlich zog er das Näschen kraus, dem Duft entgegen, der mit der kleinen Aufwärterin durch die offene Thüre einströmte. „Pellkartoffeln und Hering! Ach! —" „DaS ißt Du gern, mein Junge?" Lorenz beugte sich zu dem Knaben nieder.
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