01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.01.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980119014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898011901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898011901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-19
- Monat1898-01
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Die Morgenausgabe erscheint um '/,? Uhr, dir Abend-Ausgabe Wochentags um b Uhr. VezugS.Prei- Gl der Hauptexpedition oder den im Stadt« be»irk und den Bororten errichteten AuS- aobesrellen abgebolt: vierteljährlich ^14.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus 5.vst. Durch die Post bezogen für Deutschland l»,d Oesterreich: vierreliährlich . S.—. Direct» tägliche Kreuzbandienduag las Ausland: monatlich ^li 7.50. Lrdaclion »n- Lrvediliou: Iohannesgass« 8. Di« Expedition ist Wochentag- ununterbrochen Eröffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr, Filialen: Dtts Klemm s Torttm. (Alfred Hahn), UniversitätSstraße 3 (Paulinum), LontS Lösche, Katbarineustr. 14, pari, iwd Köaigsplatz 7. Morgen-Ausgabe. N ipngcr Tagcblaü Anzeiger. Amtsblatt -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Motizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. Arrzeigeu.Prei- bie 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. 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April 1886 be stätigt haben. Es wird au-gefübrt, daß die Verschiebung des Stärkeverbältniffes zwischen den beiden Nationalitäten hum Nachlbeil der Deutschen anhalte und eine steigende Zunahme des polnischen Klringrund- besitz es auf dem platten Lande sich bemerkbar mache. Aber auch in den Städten zeige sich mehrfach eine Ucberbandnabme der polnischen Nationalität in den Mittel ständen, eine strenge Absonderung derselben von der deutschen Bevölkerung und eine Dienstbarmachung der durch deutsche Cultur erzeugten Intelligenz zu uationalpolnischen Zwecken. „Diese Sonderbestre- bungen haben zu einer Verschärfung der Gegensätze und schließlich zu einer Haltung des PolentbumS in Wort und Schrift geführt, die in einer Bedrängung der deutschen Bevölkerung in socialer und wirthschaftlicher Beziehung ihre Wirkung äußert. Einer solchen Entwickelung muß die Staats regierung zum Schutze der hierdurch bedrohten Deutschen, wie zur Erhaltung des Friedens und der Wohlfahrt der Staatsbürger mit Entschiedenheit entgegentreten." Der früher bewilligte Fonds, heißt es weiter, erweist sich nachgerade als nicht zureichend, um die Ziele des Gesetzes mit dem Nachdruck, den die Gestaltung der Verhältnisse in den Ansiedelungsprovinzen erfordert, zu betreiben und eine ausreichende und nachhaltige Stärkung des deutschen Elements zu erreichen. Ausführlich wird sodann dargelcgt, daß das Ergebniß der Wirksamkeit der Ansiedelungscommission in wirthschaftlicher und socialpolitischer Beziehung befriedigend und erfolgreich sei, einem weiteren zweck fördernden Vorgehen derselben jedoch die bisherige Bemessung des Fonds hemmend im Wege stehe; gegen 80 Millionen des letzteren werden mit Schluß des EtalSjabreS 1807/88 ver ausgabt sein, der größte Theil des Restes aber am 1. April 1898 zur Bestreitung der erstmaligen Einrichtung neuer Ansiedelungen erforderlich werken. Um die coloni- satorische Arbeit und den Schutz de- Deutschthums nicht aufhören zu lassen, die Entstehung von Zwergwirtbschaflen und bedenkliche Proletariatsbildung zu Verbindern, sei die geforderte Erhöhung des Ansiedelungsfonds geboten. Abgesehen von dem klerikal-poinisch-demokratischen Klee blatt, wird dieser Gesetzentwurf ohne Zweifel den Schmerz eines vorübergehend als Staatsmann thätigen Generals erregen, des früheren Reichskanzlers Grafen v. Caprivi, der, wie wir durch den „Orendownik" seit zwei Tagen wissen, für seine Person anno 1893 „anerkannt" bat, daß „den Polen Unrecht geschehe". Die polnische Presse dürfte nicht verfehlen, aus der Staatsweisheit des Grasen von Caprivi gerade im Hinblick auf den oben erwähnten Gesetzentwurf Capital zu schlagen; denn die polnische Presse stebt in letzter Zeit mehr als ze unter dem Zeichen des Propheten Jeremias. Uns in der Uebersetzung vorliegende Sylvester- und Neu- jahrSbetrachlungen polnisch-preußischer Blätter ballen wider von Klagen über den Druck, unter dem „unsere Kirche" und „unsere Nationalität" angeblich seufzen. Der Zweck dieser Jeremiaden ist ebenso klar, wie sie an sich gegenstandslos sind. Die poliiisch-naiionale Propaganda soll durch das Borfüdren derartiger Schreckbilder aufs Neue angestachelt, daS siegreiche Vordringen der Polen in den Ostmarken soll um so wirk samer gesichert werben. Daß der PoloniSmuS Nicht nur in Posen und Westpreußen, sondern auch in Ostpreußen und Oberscklesien glänzende Fortschritte macht, wird — und das ist ein passendes,die einscklägigenAuSfübruagen derBegründung des Ansiedelungsgesetzentwurfs erhärtendes Gegenstück zu den erwähnten Klagen — in dem Berliner Potrnblatt „Dziennik Berlinski" ehrlicher Weise zugegeben. In Nr. 222 schreibt daS genannte Organ: „Ja einem interessanten Artikel unterzieht daS „Slowo Polskie" unsere politisch« Lage in den drei LandeSthrtlen einer Betrachtung und schreibt über die Polen de- preußischen LandestheilS wie solgt: Mit klopfendem Herzen wenden wir unser Auge auf die uralte Wiege der polnischen Nation, aus da- uralte Piastennrst im preußischen Lande-theil. Daselbst ist eine weitere Verstärkung der Fond- zur Förderung der deutschen Ansiedelung um 100 Millionen Mark angekündigt worden, jene- Fond-, der vor 12 Jahren auS- grworfrn wurde und mittel« dessen man bereits eine ziemliche Anzahl adeliger Güter aufgekauft und mit aus Deutschland her- geholten Ansiedlern besetzt hat. Doch gerade da zeigt sich eine unerwartete Widerstandskraft des polnischen Element-, eine Kraft, die sowohl bei Freunden al- auch bei Feinden Verwunderung erregt. Die au- dem Grundbesitz verdrängten Polen haben sich auf die Städte geworfen. Der polnische Mittelstand, der polnische Handel und die polnische Industrie werden m i t jedem Tage kräftiger und die Polonisirung der Städte macht schließlich Fortschritte. In Westpreußen, wo es fast gar keinen polnischen Adel mehr giebt, hält das bäuerliche Volk sich wacker, und eS tritt im gejammten preußi schen Landestheil immer mehr aus den ersten Plan als unerschütter liche Grundlage der nationalen Macht. BiSmarck hat vor noch nicht langer Zeit die polnische Sache mit der Aristokratie identificirt, und siehe, in Oberschlesten, wo es seit Jahrhunderten keinen polnischen Adel giebt, gelangt daS nach Millionen zählende Volk zu Nationalgefühl. Bi-marck identificirt» dir polnische Sach« mit den Jesuiten, und siehe da, das Notionalbewußtsrin erwacht unter den protestantischen Masuren in Ostpreußen, da- niemals un mittelbar zu Polen gehört hat. In der That, gegenüber uu- erbittlichen Thatsachen darf man sich weder dem Gefühl des Sich- brüstens, noch dem des vorzeitigen Triumphe-, noch sogar dem der Sicherheit hingeben. Sieht man aber dir unerschütterliche und standhafte Vertbeidigungdes grobpolnischen, westpreußischen und schlrsischenVolke», dann schwillt jedem Polen das Herz; denn er sieht heut in denselben Sitzen, wo vor 1000 Jahren das polnische Reich erstand, die nicht aus der Art geschlagenen Nachkommen der polnischen Ritter, die wie einst dem germanischen Andrang die Stirn bieten/ Hiermit vergleiche man die nachstehenden Betrachtungen deS „Orendownik" und deS „Goniec WielkopolS ki" zur Jahreswende. Der „Oredownik" schreibt in Nr. 298: „DaS laufende Jahr geht zu Ende und macht seinem Nachfolger Platz. DaS verflossene Jahr ist ein Jahr des LiquidirenS aller Widersprüche in unseren politischen Verhältnissen und des Ein- registrirenS derselben unter ihr eigentliches Conto. Erbärmlich hat es für uns aogrfangen, damit nämlich, daß unsere unglückselige Fraktion im Reichstage die Liquidation der Versöhnungspolitik ein- reichte. ES endet mit der Ankündigung neuer, zweiter hundert Millionen zum Ankäufen polnischen Bodens und der Cassirung der polnischen Sprache in den öffentlichen Versammlungen. Ein erbärmliches, elende- Jahr war es, sowohl für unsere Kirche als auch für unsere Nationalität. Die Annahme, die bei uns mit so rücksichtsloser Reclame colportirt wurde, daß der Landsmann- Erzbischof viel, sehr viel für unsere Kirche sowohl al- auch für die polnische Nationalität erwirken werde, ist zu einem wahrhaften öffentlichen Spott geworden. Und das Traurigste ist dabei, daß nicht Alle bei uns verstehen, daß das in der Thai — ein öffent licher Spott ist. Es war dies ein gräßlicher politischer Fehler, daß eS unter uns große Schaaren Solcher gab, die mit Gewalt in dem Erzbischos-Landsmann auch — einen Hetman der Nation haben wollten und dies össrotlich erklärten. Dadurch, daß man dem Oberhirten in unserer Kirche in Großpolen weltliche, nationale Aufgaben zudachte, hat man seine öffentliche Stellung in kirchlichen Angelegenheiten untergraben. Der Erzbischof-Land-mann dars sich mit der breiteren Politik befassen, Nachforschungen anstellen, Einfluß ausüben und einwirken, wenn er damit einverstanden ist, als Germa- nisirungSwerkzeug zu dienen; wenn nicht, dann kann er ebenso deS Gefängnisse- gewärtig sein wie seine beiden Vorgänger. Erbärmlich war da- verflossene Jahr auch für unsere Pfarrer. Es begann mit der bekannten Angelegenheit des Propstes Szadzinski aus Wytaszyce aus Anlaß Les polnischen Vaterunsers in der Schule und endete mit der Bestrafung des Pfarrers Laskowski, Vicars aus Filehne, wegen privaten Unterrichts im polnischen Lesen und Schreiben. DaS ist ein Fingerzeig für die polnischen Pröpste und Vicare, was sie zu erwarten haben, wenn sie für das polniiche Vaterunser in der Schule eintreten oder sich der polnischen Kinder erbarmen und sich die Mühe nicht verdrießen lassen, dieselben polnisch lesen zu lehren. Solcher Fingerzeige gab es in diesem Jahre niehr, und Alle arbeiten daran, daß baldmöglichst der polnische Pfarrer auSgerottet (!) werde, der noch bi- in die letzte Zeit hinein namentlich mit Rücksicht auf die Mittelklassen und das Volk die Seele unserer bürgerlichen Arbeiten gewesen (?) ist, daß der polnischen Geistlichkeit nur eine Wahl gelassen werde, entweder der Germanisirung als Werkzeug zu dienen oder sich von Allem fern zu halten, was dem Polenthume zum Nutzen gereichen konnte. Hinzugrsügt muß werden, daß wir unS ein Tdeilchen dessen wissen, was unsere Pfarrer aus Anlaß deS Polenthums leiden müssen uud was über ihnen schwebt." Und der „Goniec WielkopolSki" schreibt in Nr. 1: „Durch Gottes unerforschlichrn Rathfchluß an einen fremden Organismus festgekrttet und gezwungen, auf dieser Grundlage für den größten Schatz, den der Glaube unserer Vorfahren und die Muttersprache bilden, in die Schranken zu treten, richten wir uns nach den Anordnungen und Gesetzen des Staates, trotzdem ober werden wir beschuldigt, daß wir uns von demselben losmachen wollen. An dl« Beschuldigungen glauben selbst Diejenigen nicht, die sie gegen uns erheben; und wenn auch unsere Ab geordneten von der Rednertribüne der Parlamente aus und unsere Presse dieselbe bekämpfen und ihre Grundlosigkeit nach weisen (?), so werden die Schläge, die gegen uns geführt werden, immer zahlreicher und heftiger und sind geradezu gegen das Herz unsere» Leben-, gegen unsere Muttersprache, gerichtet, die ja doch da« äußerliche Merkmal unserer nationalen Seele bildet. Es würde zu weit führen, wollten wir hier die ganze Reihe dieser Schläge auf- zählen, es genügt, an die verfassung-widrige Störung und Auflösung unserer öffentlichen Versammlungen in Westpreußen und in Oberschlesien zu erinnern. Diese Schläge, diese mörderischen Wurfspieße werden in einer wahrhaft unchrist- lichrn Schmiede, nämlich in der Schmiede des Hasses, lediglich aus dem Grunde geschmiedet, weil die göttliche Vorsehung unS hat Polen werden lassen. Wer hätte nichts von der Bruder schaft der drei Buchstaben gehört, die zu erwähnen genügt, um das ganze, mit kalter Ueberlegung zum Zwecke unserer Ausrottung — als eine Sondernationalität — ersonnene Verdeutschungssystem zu begreifen. Die H. K. Tisten, das sind gleichsam die wiederaus gestandenen Kreuzritter, dir, angethan mit dem weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuz, dem Zeichen der Demuth und der Nächsten liebe, die Seelen der bekehrten Preußen und Litthauer anscheinend für den Himmel gewannen, dabei aber sich der Habe und des Gutes derselben in räuberischer Weise bemächtigten. Indem der H. K. TismuS verkündet, er greife uns nicht als Polen an, sondern er wolle unS für LaS große deutsche Vaterland gewinnen, unter gräbt derselbe unsere materielle Existenz in der Annahme, daß. wenn er uns die letzte Handvoll des hemiatdlichen Grunde- und Bodens abgenommen, unser Handwerk und unsere Industrie unterdrückt, die Elle und dir Waage unseren Händen entrissen haben wird, er dann die Verarmten in eine Bande Bettler verwandeln, uns zu Deutschen machen und auf diese Weise das göttliche Werk verrichten werde. Der in Friedrichsruh empfangene und auf grobpolnischem Boden geborene, mit dem Chauvinismus nahe verwandte H. K. Tismus war im abgelaufenen Jahre für die innere Politik Deutsch lands tonangebend, er versuchte sogar manchmal, auch auf die äußeren Angelegenheiten, durch Angriffe gegen das deutsch-österrei chische Bündniß, einen Einfluß auszuüben." Dann heißt es weiter: „Unsere geliebte, schöne, reiche Sprache ist, mit Ausnahme Les Religionsunterrichts, in allen Unterrichts, gegenständen gestrichen worden und hat in der Familie Zuflucht ge sucht. Stöhnend unter dem nationalen Drucke, wollen wir nicht vergessen, daß wir auch auf religiösem Gebiete nicht ganz frei athmen können. Das regierungsseitige Recht, nämlich das „Veto", hängt über unseren Häuptern wie rin Schwert nur an einem Haar, welches leicht zerreißen und einen neuen Culturkampf Hervorrufen kann. Sollen wir da angesichts einer so traurigen Lage der Dinge uns der Verzweiflung bingeben und mit verschränkten Armen, mit dem Auge eines gefühllosen Indianers stumpfsinnig dem in rasender Eile dahinrollenden Wagen zusehen ? Nie und nimmermehr! „Fallen kann auch ein großes Volk, unter gehen aber nur ein elende-", sagte einer unserer größten Staats männer. Setzen wir daher, soweit unsere Kräfte reichen, dem Druck einen Widerstand entgegen, indem wir mit Ausdauer und erfolgreich, ohne Lärm und Geschrei, in Eintracht und brüder licher Liebe arbeiten. Es fehlt uns auch nicht an Trost. Galizien befand sich vor 46 Jahren in einer viel schlimmeren Lage und doch bat die gute und heilige Sache dort den Sieg davon- getragen. Trösten wir uns damit, daß auch wir noch eine bessere Zukunft erleben werden. Leider werden die materiellen Unterlagen, auf die sich unsere Hoffnungen stützen, nicht stärker, nicht mächtiger, im Gegelltheil, sie werden immer dürftiger. Unser Vaterland schrumpfte wieder zusammen; im Jahre 1897 büßten wir Tausende von Morgen deS heimatdlichen Grundes und Bodens rin. Fremde, dir sich theils schon früher hier niederließen, theilS neuerdings aus dem Herzen Deutschland- hier einwanderten, haben sich desselben bemächtigt. Diese Verluste werden sich zweifellos bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körpern fühlbar machen. Unsere Industrie hat sich in dem abgelaufenen Jahre etwas gehoben, doch die kleinen Industriellen sind nach wie vor im Dienste der Fremden, und der jetzt allmächtige H. K. Tismus will sie vollends zu Grunde richten. Der Kleingrundbesitz unterliegt, trotz der den Wucher einschränkenden Gesetzgebung, meist der Zwangsversteigerung, das Volk wandert nach den ferneren Gegenden Deutschlands, ja Feuilleton. Hermann LuLermann's „Johannes". Siachdruck v> rbotrn. Die Tragödie „Jobannes", deren Ausführung anfänglich in Preußen verboten, nachher erlaubt wurde, bat schon vor ihrem Erscheinen viel von sich sprechen gemacht, und die Blätter wurden nicht müde, Notizen über diese neue Dichtung Sudermann - zu bringen. Jetzt endlich ist sie anS Licht ge treten: sie ist am 15. Januar am Deutschen Tbeater in Berlin und am Dresdner Hoftbeater gegeben worden, und gleichzeitig bat auch der Cotta'scke Verlag in Stuttgart die Buckausgabe! „Johannes", Tragödie von Hermann Suder mann (elfte Auflage, Stuttgart 1898), erscheinen lassen. AuS den Berliner Zeitungsberichten, die sich in mancher Hinsicht widersprechen, ist eS schwer, den Gcsammteindruck der Ausführung berauSzulesen; in Dresden aber soll Vieser Eindruck ein geringer gewesen sein. In Berlin wurde daS Vorspiel und der erste Act ziemlich kühl ausgenommen. Die Scklußscene be- zweiten Actes schlug durch und verschaffte dem Dichter mehrfachen Hervorruf. Der dritte und vierte Act mußte sich mit einem Achtungserfolg begnügen. Da gegen sickerte die effektvolle letzte Scene de- Stücke- den Scklußerfolg, der in zahlreichen Hervorrufen deS Dichters bestand. Dir Titelrolle spielte in Berlin I o s e p H Kainz, die Salome Frau Sorma, die Herodia- Fräulein Dumont, die erste tragische Liebhaberin de- Slutgarter Hoftbeater-. Zn Dresden gab Herr Wien« de» Johanne-, Charlotte Bast« die Salome, Pauline Ulrick die HerodiaS. Bei den ersten Ausführungen de- Schauspiel- an der Spree und an der Elbe waren also die Hauptrollen in den Händen tüchtiger und hervorragender Künstler und Künstlerinnen Da- Vorspiel der Dichtung führt uns i» die Wüst«, wo Jobannes weilt, ein „Lickt von Israel", zu dem st« wall fahrten von nah und fern, selbst die Mädchen und Mägde au« dem KönigSschloß, die Unglücklichen, um getröstet, die Kranken und Gichtdrückiaen, um geheilt zu werde«. Doch Johannes verwrist alle auf den kommenden Messias; er hat Jesu im Jordan „mit bebender Hand" getauft; da sah er in Tauben gestalt den Geist Gottes hernirberfchwebra; ein Licht vom Himmel verhüllte fast ganz den Täufling und eine Stimmei vom Himmel herab sprach: DaS ist mein Sobn,I an dem ich Wohlgefallen habe. Und mit visionärer Verzückung > siebt er diesen Messia» erscheinen als König der Heerschaaren, vier Cherubim vor ihm brr, mit gepanzerten Rossen, mit flammenden Sickeln, zu mähen und zu zerstampfen. Zugleich erfährt JobanneS, daß der Bierfürst Herodes mit seiner Geliebten, der HerodiaS, der Gemahlin seine- Stiefbruder- Philippos und deren Tochter Salome, am ersten Passabtage den Tempel betreten will, bis in den Vorhof der Weiber, um sich dem Volke zu zeigen. Da entbrennt Johanne- in heiligem Zorn und erklärt, er werde selbst nach Jerusalem kommen und seinen Feinden dort Trotz bieten. Das sind die Keimzellen, aus denen da- ganze Drama mit Blatt und Blülhe sich entfaltet; doch die- Wachsthum ist anfangs rin sehr langsame«; der erste Act bringt eine große Zahl von Geiiresceuen, die mit dem Einzug de- Herodes in Jerusalem abschließen. Die Hauptscene spielt sich ab zwischen Johanne« und den Pharisäern, die ihn über seine Stellung zum Gesetz befragen. Da erscheint rin Galiläer, Simon, mit anderen Pilgern, und als ein kranke- Weib dem einen Pharisäer nabekommt, ruft dieser auS: „Rühr' mich nicht an, auf daß ich nicht unrein werde." Simon aber sagt: „Rühr' ihn nicht au, auf daß du nickt unrein wirst," und al- sie auf den Gotteslästerer eintrinzen, da ruft er auS: „Höher denn Gesetz und Opfer ist die Liebe." Dies Wort macht einen tiefen Eindruck auf Johanne-; er bittet die Jünger, diesen Simon aufzusuchen, der beim Einzug de» König- verschwunden ist. Der zweite Act sübrt un- in den Palast de- HerodeS. Die Gespielinnen der Salome erblicken denselben Mann auf der Gasse, den bereits gestern HerodiaS und Salome be merkten. HerodiaS kommt dazu: es folgt eine Scene zwischen Mutter und Tochter, nachdem Herodia- den Volk»mann hat beraufholrn lassen. „Wir sind nickt wie die andern", sagt Salome, „wir stecken, wenn wir lieben." „Und wenn wir hassen?" fragt Herodia», „dann küssen wir." To ver ständigen sich die Abkömmlinge de- großen KinderschläckterS von Jerusalem. Diese Epigramme sind wie Unterschriften zu ihren Portraits. Dann zeigt sich HerodiaS in einer Scene mit Lerobe« al« das gebieterisch« Weib, da- deu schwanken- den Vierfürsten beherrscht; sie verhandrlt ohne sein Wissen mit den Priestern über den Einlaß in den Tempel; st« verspricht ihnen dafür, daß Herodes nie wieder in Rom nach dem Königthum in Judäa trachten würde, und als der König sie darüber erzürnt zur Rede stellt, sagt sie ihm: „Wenn du König sein wirst, dann tobtest du alle, denen du versprachest, es nicht zu sein. DaS ist so gut, aiS bättest du eS Niemandem versprochen." Hierauf folgt die nach unserer Ansicht wirksamste Scene deS SiückeS: Johanne- schleudert sein verdammende- Urtbeil auf die Buhlerin HerodiaS und sein feuriges Wort entzündet in der jungen Salome glühende Liebe. DaS ist der Höbepunct der KrisiS; er gehört an den Schluß deS dritten AcieS, und daß er in den beiden nächsten Acten nickt Überboten wird, darin liegt eine Schwäche der dramatischen Composiiion. E- handelt sich keineswegs um «in nichtssagende- ästhetische- Recept, da- man zerknüllen und in den Winkel werfen kann; jene Regel ist nie ungestraft ohne Beeinträchtigung der dramatischen und theatralischen Wirkung verletzt worden, die erste Hälfte deS dritten Acte» zersplittert sich in Genrebildern: Jobannes sucht, nachdem Simon der Galiläer getödtet worden, andere Galiläer auf, um Kunde zu erhalten von den Lehren deS Meister-. In der zweiten Hälfte de- ActeS findet er neben den anderen Pilgern aus den Stufen deS Tempel» Männer auS Galiläa und sie verkünden ihm da- große Work, da- jener gesprochen: „Liebet eure Feindei" Und al- nun HerodrS und die Herodia- erscheinen, um in den Tempel ein- zuziehen, al» deS Johanne- Anhänger erwarten, daß er den ersten Stein erbeben wird, um die Frevler zu steinigen, in dem er allem Volk mit diesem Strafgericht vorausgeht, da laßt er den Stein fallen, eingedenk des Worte»: „Liebet eure Feinde!" Er wird verbaftet. Der vierte Act bringt drei große Scenen: Hrrode» em pfindet für Salome eine mehr als natürliche Zuneigung und will ihrem Wunsch, gegen Johanne- mit Milde zu Ver fahren, nachkommen; er läßt ihn rufen, er bietet ihm seine Freundschaft an, doch Johannes weist die- Anerbieten zu rück. Nock verlockender tritt die Versuchung an ibn heran, denn Salome bietet ihm ihre Liebt an; er verwirft da- An- erbieten und sie stürzt fort in voller Entrüstung. Damit ist der letzte Act eingrleitet, der un» die Bilder vorführt, di«, wenn von Jobannes, der Herodia» und der Salome di« Rede ist, dem großen Publicum vorzusckwrben pflegen: Der Tanz der Salome vor dem römischen Legaten Bitellius, dem schwelgerischen Gast de« Herodes; dafür ge» währt ihr der Dierfürst eine Bitte — da« Haupt deS Jo hanne«. Und sie tanzt am Schluß mit ibm hinter der Scene und wird halb ohnmächtig hereingetragen, nachdem das Haupt der Schüssel entrollt ist. Der Einzug Jesu in Jerusalem schließt nach dieser Grauenscene das Stück ab. Die Dichtung hat viele geniale Züge, wie man es von Sudermann erwarten durfte, doch überwiegt bei der Durch führung daS Epigrammatische, die skizzenhafte Andeutung, die schlagbafte Wendung, ganz im Styl der kraftgenialen Schule und im Gegensatz zu der Dramatik aller großen Meister deS AltertbumS und Shakespeare'S, Schillers, Goetbe'S, auS deren Werken Hegel in seiner Aesthetik daS Axiom mitnehmen konnte, daß der Dramatiker sein „Pathos voll expliciren müsse." DaS aber gerade ist gegen den Kamm der Modernen, nach dem sich auch Sudermann durchweg richtet, so daß er auch im „Johannes" den Monolog anwendet, der ja von den Dramaturgen an der Spree in Acht uud Bann gethan ist. Dies erscheint un» spaßhaft genug, so lange noch die Werke der großen Dichter mit allen ihren Monologen über die Bühne geben. Bei Sudermann rächt sich diese Kniebeugung vor dem ästhetischen Pagodentbum der Jüngstdeutschen. Gewiß kann eS auch Dramen ohne Mono loge geben, welche dem Zweck der dramatischen Dichtung ent sprechen und ihre höchsten Wirkungen erreichen; doch gerade der Stoff deS Jobannes wie« auf den Monolog bin, und während Sudermann jedes Selbstgespräch vermied, kann er da- Eine nicht vermeiden,daß mit Ausnahme von zwei bi- drei Scenen die ganz« Rolle deS Johannes ein großer Monolog ist, der in vieler Hinsicht, wie auch die Berliner Blätter bervorheben, eintönig wirkt; denn seine Gedanken, durch die Reporter aus Galiläa, angeregt, beschäftigen sich ja fortwährend mit dem Einen, der kommen wird, mit Visionen der Vergangenheit und der Zukunft, ganz mit innerlichen Vorgängen und ob da no« einige auf der Bühne zubören, das ändert nicht« an dem Charakter des Monolog-, Die fortwährenden Herold-- rufe beeinträchtigen aber die Bedeutung des dramatischen Helden selbst, dessen visionären Andachten sonst mit er habener Poesie dargestellt sind. Sehr interessant ist der Charakter der Salome, so genial wie Klinger'» Bild, die vornehme Zeichnung eine« „perversen Backfisches". Rudolf von Gottschall.
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