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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.01.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980119025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898011902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898011902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-19
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um V,? Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentag- um b Uhr. LrLartion und LrveLMo«: Aohanne-iasie 8. Die Expedition ist Wochentag- nnnuterbroche» geöffnet von früh 8 bi- Abend» 7 Uhr. /ilialtu: k)tt» Klemni'S Sortim. tAlfre» Hahn>, Universität-strabe 3 iPaulinum), Louis Lösche. Katharinens». 14, patt und Kvnig»pU.d 7. Vezugs'PreiS L der Hmwtrxpedittlm oder den tm Stadt« bezirk ond den Vororten errichteten Aut- oabrstellen ab geholt: vierteljährlich ^l4ckV, bei zweimaliger täglicher Zustellung in- Hau- ^lt 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich S.—. Direcie tägliche Kreuzbandirndung tu» Lu»laud: monatlich 7.H0. Abend-Ausgabe. keiWgcr TaMM Anzeiger. Ämtsbkatt des H'ömgkichen Land- und Ämtssterichtes Leipzig, des Rathes und Nolizei-Ämtes der Stadt Leipzig. N»zeige«.Prei- die -gespaltene Petitzeile rO Pfg. Reklamen unter demRedaction-strich (4g» spalten) bO/^, vor den Familteanachrichte» (S gespalten) 40 Gröbere Schriften laut unserem Preis» verzeichnib. Tabellarischer und Zifferusatz nach höherem Tarif. Extra »Beilagen (gesalzt), nur mit des Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderun^ ^l vO.—, mit Postbesörderung 70.—. Ännahmeschluk fir Änzeigen: Ab end «Ausgabe: vormittag- 10 Uhr. Rtorgen-Au-gabe: Nachmittag- 4 Uhr. Sei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stunde früher. Aazetge« find stets au di» Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig .1° 32. Mittwoch den 19. Januar 1898. 82. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 19. Januar. Der Reichstag beschäftigte sich auch gestern wieder fast ausschließlich mit dem den Schutz Arbeitswilliger vor Vcr- gcwaltigungüverfnchrn Streitlustiger betreffenden Rund schreiben des Staatssecretairs des Innern. Dieser hatte vorgestern erklärt, er kenne kein größeres Unrecht, als einen Arbeitswilligen an der Arbeit zu verhindern, und die Re gierung vertheidige die bürgerliche Freiheit, wenn sie gegen socialdemokraliscken Terrorismus einschreite. Man Kälte nun meinen sollen, daß die Vertreter derjenigen bür gerlichen Parteien, die tagtäglich Schutz der bürger lichen Freiheit gegen Beamtenw illkür fordern, auch nachdrücklichen Schutz dieser Freiheit gegen social- demokratische Vcrgewaltigungsgelüste fordern und den vorgestrigen Erklärungen des Grafen Posadowsly beipflichten würden. Statt dessen erstanden gestern den über das Rundschreiben erbosten und das Vergewaltigungsrecht der Slreiker fordernden Herren Singer und Genossen auS den Reiben der bürgerlichen Linken zwei Mitstreiter. Der als Hospitant zur Freisinnigen Vereinigung gehörige Abgeordnete ör. Pachnicke brackle eine Resolution zu Gunsten der Verleihung der Rechtsfähigkeit an die Arbeitercoalitionen ein und das Mitglied der Freisinnigen Bolkspartei Or. Schneider suckle in Uebereinstimmung mit diesem feindlichen Bruder nackzuweisen, daß die Auslieferung der Arbeiter an die Macht der fast durchweg focialdemo- kratiich geleiteten Berussvereine eines der besten Mittel zur Bekämpfung der Socialdemokratie sei. Beide Herren dachten nickt einmal daran, daß die Socialdemokraken, die den An trag mit unterzeichnet hatten, dies jedenfalls nicht getban haben würden, wenn sie nickt die feste Ueberzeugung begten, daß die Annabme dieses Antrags ein Mittel zur Befestigung der Herrschaft der Socialdemvkratie über die gesammte Arbeiterwelt bedeuten würde! Die Herren Pachnicke und Schneider waren aber auch die einzigen Redner, die gestern ihre Bereitwilligkeit aussprachen, statt eines ver stärkten Schutzes der Arbeitswilligen gegen Vera-waltigrmgs- versuche Streiklustiger ein Zmangsreckl der Letzteren gegen die Ersteren herbeiführen zu Helsen. Dem Abg. Singer, der nach der Stellung des Centrums zu dem Rundschreiben des Staatssecretairs gefragt hatte, gab vr. Lieber gestern eine Antwort, die trotz ihrer etwas gewundenen Form eine ent schiedene Abweisung der socialdcinokrarisckenAuffassung bedeutete. Denn der CentrumSredner mußte die Berechtigung einer solchen Umfrage durchaus anerkennen und zugeben, daß es eine Pflicht der Gesetzgebung ist, die arbeitswilligen Arbeiter gegen jeden Zwang von Seiten der streikenden Genoffen zu schützen. Wenn er hinzufügte, dies solle unter grundsätzlicher Wahrung der den Arbeitern gewährleisteten CoalitionSfreibeil geschehen, so stimmte dies mit dem Inhalte des Rundschreibens genau überein. Die Abgeordneten von Kartorff, Graf von Stolberg-Wernigerode und Or. Osann traten dem Standpuncte des Staatssecretairs vorbehaltlos bei. Das wird nun freilich die „freisinnigen" Bekämpfer dieses Standpunctes weder belehren, noch bekehren. Aber vielleicht werden sie anderen Sinnes, wenn sie ihren volksparteilichen College» vr. Lan gerhans ersuchen, einmal bei seiner Pariser Tante anzufragen, wie in der viel gepriesenen, auf breitester demokratischer Grundlage aufgebauten französischen Republik die Gerichte die Bestimmungen über den Schutz Arbeitswilliger gegen Vergewaltigungsattentate ihrer streikenden Genossen handhaben. Diese Tante sendet dann Wohl dem Herrn Neffen die „Rspubl. frantz." vom l7. d. M., worin mitgetheilt wird, daß am vergangenen Donnerstag zehn streikende Arbeiter der Gruben von Drocourt bei Bedrohung arbeitswilliger Kameraden in flagranti erwischt und schon am Sonnabend, also binnen 48 Stunden nach begangenem Delikt, vom Zuchtpolizeigericht in Arras zu Freiheits strafen von ein- bis viermonatiger Dauer ver- urt heilt wurden. Vielleicht wird das einigen Eindruck auf die Herren Pachnicke und Schneider machen. — Zur Etatsberalbung, die gestern auf der Tagesordnung stand, wird das Haus auch beute noch nicht kommen, denn eS ist „Schwerinstag". Dafür werden die Bänke wieder etwas stärker als gewöhnlich besetzt sein, denn es soll die Berathung der vom Centrum beantragten lex Heintze fortgesetzt und dabei die „deutsche Unsittlichkeil" wieder unter die Lupe ge nommen werden. Vielleicht bleibt dann noch etwas Zeit übrig, den Antrag auf Besteuerung deS Saccharins zu be sprechen. In der zweiten badis chen Kammer ist am Montag eine Erörterung über den in Art. 8 der Reichsverfassung vorgesehenen BnnVcSrathSanSschutz für die auswärtigen Angelegenheiten des Reiches berbeigeführl worden. Der Abg. Heimburger sprach die Ansicht auS, daß der Ausschuß nicht mehr zu bestehen scheine, worauf der Minister v. Brauer erwiderte: Der Ausschuß der auswärtigen Angelegenheiten bestehe und zwar aus Bayern, Sachsen und Württemberg, und er sei durch die Wahl von Baden und Schwerin verstärkt worden. Wenn der Ausschuß selten oder gar nicht von Bayern, das den Vorsitz führe, einberufen werbe, so komme Las daher, daß in der Praxis etwas wesent lich Besseres an die Stelle des Ausschusses getreten sei. Schon Anfang der 70er Jahre habe BiSmarck und Staats« secretair Bülow die Einrichtung getroffen, daß die Berichte von Gesandten und Botichaftrrn, die eine Mitth ilung über die poliliicken Verhältnisse des Auslandes und unsere Stellung zu ihm enthalten, in Abschrift den Mittelstanten vertraulich uiitgeiheil! wurden. Auch seien die preußischen Gesandten beauftragt, nähere Aufklärung zu geben, was in dieser und jener auswärtigen Angelegenheit geschehen solle. Ferner stehe deu Gesandten der Mittelstaaten das Recht zu, in Berlin tm Auswärtigen Amt sich zu informiren und Instructionen zu holen. Wahrscheinlich ist die CentrumSfraction der bayerischen Abgeordnetenkammer, die ihrer Sorge vor Nichtbeachtung des berechtigten Einflusses Bayerns und der übrigen Staaten auf die auswärtige Reichspolitik durch eine Interpellation über die Wirksamkeit des Ausschusses Ausdruck zu geben gedachte, von dieser Absicht infolge gleicher Mitt Heilungen ausNegierunzS- kreisen abgekommen. Den bayerischen Klerikalen liegteben nichts an der öffentlichen Feststellung der Thatsache, daß die sämml- lichen deutschen Regierungen über alle die auswärtige Politik des Reiches betreffenden Angelegenheiten informirt werden und daß Bayern von seinem Reckte zur Einberufung deS Ausschusses nur deshalb keinen Gebrauch macht, weil die Einzelstaaten ihren berechtigten Einfluß auf diese Politik in bequemerer Weise auszuüben vermögen. Es ist daher dankenswert!), daß in Baden eine solche Feststellung erfolgt ist. Immerhin läßt diese einen Wunsch übrig, I den Wunsch nämlich, baß trotz der Ersetzung des Ausschusses I durch etwas wesentlich Besseres Bayern ad und zu eine I Ausschußsitzung herbelführen möge. Schon die Mittheilung im „Reicksanzeiger", daß der Ausschuß gelegentlich getagt, wird particularislischen Ausstreuungen wie denen, daß daS Kiaotschau - Unternehmen ein lediglich preußisches „Abenteuer" sei und ein Tbeil der deutschen Regierungen im Dunkeln über die letzten Zwecke der Flottenvorlage tappe, den Boden entziehen. Daß die Blicke Deutschlands bereits im Jahre 1870 auf Erwerbung der Kiaotschau-Bucht gerichtet waren, beweist eine Mittheilung Ferdinand v. Richthofen's, des bekannten Geographen, Geologen und ForsckungSreisenden. Ricktbvfen war mit dem Range eines LegationSsecretairS als Geologe der preußischen Sendung nach Japan, China und Siam in den sechziger Jahren beigegeben und widmete sich dann von 1868—1872 in Shanghai der besonder» Erforschung von Cbina; später war er bekanntlich von 1875—1883 Professor der Erdkunde an der Bonner Hochschule. Nach Ricktbofen bat Fürst Bismarck bereits 1870 die Besetzung der Kmotsckau-Bucht beabsichtigt, deren große Vorzüge dem deutschen Gelehrten sofort in die Augen gefallen waren, während die Gefahr einer Versandung durch den Fluß Ku-bo durch nur in sehr weiter Ferne liege und vorläufig ganz außer Betracht bleiben dürfe. Die deutschen Pläne gerielhen doch den Ausbruch des Krieges von 1870 in den Hintergrund, indessen war aufgeschoben nicht aufgehoben. Professor Alfred Kirchhof in Halle a. S. war es, der jüngst im dortigen Verein für Erdkunde auf diese Vielen gewiß neue Mittheilung auf merksam machte und der großen allgemeinen Freude unter vielem Beifall Ausdruck verlieb, daß die letzt zur Tbatsache gewordene Erwerbung insofern auch ein im Fahrwasser des weilaus- schauenden Altreichskanzlers erreichter großer Erfolg sei, dessen ganze Tragweite sich zur Stunde noch gar nickt übersehen ließe. Die letztere Thatsacke ist es auch, welche die englisch en Diplo maten nickt rubig schlafen läßt. Kein Minister Ihrer Britischen Majestät läßt ein Festmahl vorübergchen, ohne eine Rete über die Lage in Ostasien zu halten. Nach einigen dieser Speachs könnte es scheinen. Englands Absichten seien die unschuldigsten von der Welt, es wolle auch nicht eine Quadratmcilc Landes besetzen, sondern nur dem Handel aller Nationen freie Bahn macken. Gestern bat nun wieder der Colonialminister Chamberlain in Liverpool auf einem Festmahl der Handels kammer gesprochen, worüber uns berichtet wird: Der Minister führte aus, es würde sehr erwünscht sein, wenn es möglich wäre, Laß die fortdauernde Erwerbung großen Land gebiets zu einem Ende käme. England habe genug Land und genug barbarisches Volk zu regieren und zu erobern. Wenn es aber seinen Handel bewahren und heben wolle, jo müsse es den anderen Mächten folgen und Acht baden, daß es nicht ausge schlossen wäre. Die Politik der Regierung sei nicht die Er werbung neuen Landgebiets, sondern die Aufrecht erhaltung freier Märkte, felbst wo dies die Erwerbung neuen Gebiets involvire, und die Einnahme einer sehr festen Haltung gegenüber jedem Versuche, der gemacht werden möge, England des Gebiets, das es bereits besitze, zu berauben. „Wenn wir unseren Besitz festhalten wollen", sagte Chamberlain im weiteren Verlause seiner Rede, „io müssen wir unS auf unsere eigene Stärke und unsere eigenen Rüstungen verlassen und nicht auf die Gunst Jener, die wir vergeblich gesucht haben, zu unseren Freunden zu machen. W-r müssen uns enger an unsere Colonien an schließen und bei ihnen die Stärke und die Stütze zu erlangen suchen, die wir nie bei fremden Nationen finden werden." Diese Rede ist außerordentlich charakteristisch. Auf der einen Seite gesteht Chamberlain zu, daß England bereits zum Ersticken genug Land geschluckt hat, und nun meint, weil England satt sein könnte, möchten die anderen mit ibm concurrirenden Nationen sich nun auch den Mund wischen und nicht weiter zulangen. Auf der andern Seite aber macht er das — übrigens für unS nicht überraschende — Zugeständniß, daß England, obwohl schon satt, dock noch schlucken müsse, auS Neid auf die Anderen, damit diese keinen Bissen bekommen. Landerwerb freilich nur zur Aufrechterhaltung freier Märkte, aber doch Landerwerb und immer wieder Landerwerb! Für diese Offenheit kann man Herrn Chamberlain ebenso dankbar fern wie für das Zugeständniß, daß das Suchen der englischen Regierung nach Freunden und Bundesgenossen völlig resultatlos geblieben ist. Freilich wenn man von London aus mit der Begründung nm Freunde wirbt, es würden Versuche gemacht, England des Gebietes zu berauben, das es bereits besitzt, so muß man schlechte Gejchäfle machen, denn so etwas glaubt man an der Themse selber nickt, geschweige denn anderswo. Unter so gethanen Umständen bleibt unseren Nachbarn allerdings nichts weiter übrig, als sich auf fick und ihre Colonien zu verlassen. Wie weit sie damit kommen, werden sie ja bald sehen, wenn sie dem Rathe des Schatz- kanzlers Hicks Beach'S folgen, zu Säbel und Flinte zu greifen, ein Rath, der den Beifall der gejammten Londoner Presse findet. In Oesterreich ist die Sprachenfrage abermals in ein neues Stadium getreten, aber trotzdem noch weitvon ihrer Lösung entfernt. Nack den Erklärungen des Statthalters Coudenhove im böhmischen Landtag beabsichtigt die Negierung des Herrn von Gautsch die Sprackenverorknungen des Grafen Badeni nicht formell zurückzuziehen, sondern nur in mehreren, allerdings wesentlichen Punkten, abzuänbern. Daß bei diesen Ab änderungen viel für die Deutschen berauskommen wird, ist noch sehr zweifelhaft, denn die auf die künftigen Ersatzvcr- ordnungen sich beziehende Erklärung deS Statthalters trägt einen zwiespältigen Charakter. Der erste Theil derselben wird den Forderungen der Tschechen nach Untheildar- keil des Landes und voller „Gleichberechtigung" beider Volksstämme im Lande, insbesondere in sprachlicher Beziehung, vollauf gereckt. Jedem böhmischen Unterthan des Kaisers, heißt es in der Erklärung, muß zuslehen, sein Recht bei allen landesfürstlichen Behörden, sei es in tschechischer oder in deutscher Sprache, zu suchen und zu finden. Also trotz des Bestehens gesonderter rein deutscher und rein tschechischer Sprachgebiete! Im zweiten Tbeil der Erklärung dagegen wird der Len gemäßigten Deutschen acceptable Pfersche Lippert'sche Vorschlag nach Treitbeilung des Landes in ein rein deutsches, ein rein tjckcchisches und ein gemischtes Sprachgebiet wieder ausgenommen, also doch die Unlheilbarkeit des Landes und die Gleichberechtigung in Frage gestellt. Was soll man daraus machen? Was denkt sich die Regierung dabei? Aus dieser Unaufrichtigkeit auf einen ehrlichen Willen deS Ministerums Gautsch, den Forderungen der Deutschen gerecht zu werden, wird Niemand schließen können, und zwar um so weniger, alS Graf Couden- Hove am Schluffe seiner Erklärung ankünbigt, die Regierung bereue einen Gsetzentwurf vor, welcher Aenderuugen an der Einrichtung der Mittelschulen behufs praktischer Erlernung der zweiten Landessprache, Ferrrlletoir. Kampf und Entsagen. 14j Roman von M. von Eschen. Nachdruck verbot«». Wieder zog ein Schatten über Frau Anna's Gesicht. Sie sagte jedoch nichts. Wieder, wie gewöhnlich nach dergleichen Scenen, blieb es still zwischen ihnen Beiden. Endlich — griff Frau Anna nach dem Schüsselchen. Erst zaghaft, langsam, dann schnell, immer schneller spießte sie die kleinen braunen Fleischstückchen auf die Zinken und atz sie hastig hinunter. Mit heiligem Entsetzen packt es ihn. „Anna, Du hast ge hungert — um mich!" „Nein, nein, gewiß nicht", schluchzte das arme gute Geschöpf, „ich nasche nur so ein bischen nach!" Pah, hast Du Mutter etwas übrig gelassen?" ruft Willi plötz lich aus der Kammer dazwischen. „Hsch —", die Mutter fliegt zu dem Kinde. „Mir auch, mir auch!" fuhr aber der Junge in seinem harm los gesunden Kindersinne fort. „Mutter hat gesagt, was Vater übrig läßt, gehört unS!" Und Lorenz Kirchner schlug die Hände vor das Gesicht; er sprang auf, machte ein paar Schritte hin zu der anderen Seite in sein Atelier. Hier brach er zusammen. Das war zu viel! Dahin hätte es nie kommen dürfen! Wie ein gefällter Baum stöhnt, wenn er sich von seiner Wurzel, seinem Leben trennt, so stöhnte Lorenz Kirchner in seiner Noth. Die Zeit war da: Auch der Mensch mutz sich bewähren in seiner Menschenpflicht, will er seine Hand heilig halten für das heilige Werl der Kunst. Darum, wie auch sein Genius rebellirt, ob es ihm eine Er niedrigung dünkt in dem Besten, was sein eigen — er ringt eS sich ab: er mutz schaffen, was Geld einbringt — so viel wenigstens, datz er Weib und Kind, sich selbst erhalten kann — für sein Werk! Das bleibt dennoch, trotz alledem, der Punct, um den sich seine Gedanken zuerst wieder sammeln, und zugleich die Abso lution für sein Apostatenthum. Wäre er denn sonst ein Künstler? — Und, als seien sie Blut, fühlt er die Thränen brennen in seinen Augen, in seinen Schläfen sticht es wie die Dornen einer unsicht baren Krone. Es ist eine unvollkommene Welt. Nur durch das Unvoll kommene hindurch kann das Bessere, das Vollkommenere, werden. XV. „Lou ML)- ds trappt', rief Fiffi der Schwester zu, als sie von ihrem Gange zurück in den Salon trat und hielt ihr einen Brief entgegen. Papa hat die fünftausend Mark für Pall und Mall bewilligt. Er billigt eben Alles, wa» Dir Freude mach:." „Danke, Wildfang!" Lilian nahm den Brief, und nachdem sie Tante Weilar eine entsprechende Verbeugung gemacht, er laubte sich die junge Dame, die väterlichen Zeilen zu lesen. Es war eine reizend« Gruppe, wie sie da von der Lampe, deren breiter rosenfarbener Seidenschirm in einem märchen haften Gegensatz zu ihrer mächtigen Säule von dunkelblauem l-apis laruli stand, bestrahlt ward: Die kleine alte Dame mit den immer noch rosigen Zügen voll Freundlichkeit, Würde und Behagen, neben ihr in einem kleinen Sessel Lilian, vornehm und elegant, eine Aristokratin vom reinsten Blut; zu ihren Fützen Fiffi auf einem Schemel, ein Packet Briefe im Schootz. Frisch, lebendig und lustig, war die Kleine eben dabei, ihrem herzaller liebsten Tantchen die Abendpost vorzulesen. „Nun, werden Pall und Mall gekauft?" Der Wildfang hob den Kopf nach der Schwester hin. Melleicht, vielleicht auch nicht — vielleicht habe ich eine andere Verwendung für meinen Wechsel gefunden." „WaS?" schrie Fiffi erstaunt. -Ist Ihnen nicht wohl, liebste Lilian?" fragte Frau von Weilar besorgt. Fräulein von Dernburg sah etwas blasser noch aus als gewöhnlich; auch schien ihr Lächeln so anders wie sonst. „Weil ich einmal nicht brenne auf ein Pferd?" Lilian lachte jetzt glockenhell. Wolf trat eben ein. Er hatte die letzten Worte gehört. „Neugierig wäre ich allerdings, Cousine Lilian, was —" „Lies, lies, mein Kind", unterbrach Mama Weilar und deutete auf den Brief in Fiffi'» Hand, als den letzten der Mo hikaner für heute. Die kluge kleine Frau vermeinte zu sehen, datz ein Schatten Lilian's Züge überflog. Wolf sollte dem Mädchen mit keinem Mitzton eine etwaige weiche Stimmung verderben. Und Fiffi begann: „Meine hochverehrte, gnädigste Frauk Sie werden verzeihen, wenn ich eS wage, Sie mit diesen Zeilen zu bemühen. Ihre große, allbekannte Güte aber girbt mir den Muth, Ihnen meine Lage zu offenbaren, und lätzt mich hoffen, datz, wenn Sie Alles wissen. Sie, hochverehrte gnädige Frau, es nicht verschmähen werden, mir beizustehen mit Rath und That." „Na, für 'nm Bettelbrief ein reicher Stil; famoses Papier —" Fiffi schwenkt das Blatt in der Hand — „dick wie Pergament und resedagrün. Fehlt nur rin Wappen noch, um Pique feudal zu sein. Tantchen, so nöthig hat der's nicht." „Bitte, weiter." „Sie werden es längst bemerkt haben", nimmt Fiffi auf, „mich dünkt, ein Jeder mützte es mir ablesen vom Gesicht, wie ich sie liebe, als mein Glück und meinen Stern." „Holla!" Der Irrwisch stützt den Ellbogen auf das Knie und das Köpfchen in die Hand, „das wird interessant." „Denn, meine hochverehrte gnädige Frau, ich liebe —" „Gieb", sagt Tante Weilar, der vielleicht eine Ahnung von dem Inhalt kommt, „der Brief scheint nicht für Jedermann be stimmt." „Erst recht!" Lächelnd springt der Wildfang auf: „Hört nur: „Ich liebe Fräulein Fiffi." „Das ist indiskret", erklärt Wolf. Lilian macht Miene, der Schwester dm Brief fortzunehmen. „Ach wo!" Und aalglatt, aalflink entwischt die Kleine den Händen, die da nach ihr oder dem Papiere greifen. In einer Nische des Salons befindet sich ein Postament von schwarzlackirtem Holz, bestimmt, die milrsische Venus zu tragen, welch letztere, da auch Göttinnen in dem Zeitalter der Kohlen unter dem Staub und dem Schmutz der Welt leiden, gerade in die Wäsche gewandert ist. Vor dem Postament hält eine Lampe auf hohem, schlankem Säulenstiel. Der Raum zwischen ihr und der Wand reicht just noch aus, datz ein so zierliches Geschöpfchen wie Fiffi hindurchschlüpfen kann. Anderthalb Meter Höhe bedeutet nichts für die Elasticität ihrer Glieder. Sin Augenblick, und ehe es Jemand nur denkt, mit Blitzesschnelle über einen Stuhl hinweg, sitzt der Irrwisch hoch oben auf dem Sockel der Venus. „Bleibt mir vom Hals oder e- giebt ein Unglück!" ruft Fiffi triumphirend den Umstehenden zu. Und gegenüber der schwan kenden Höhe, dem brennenden Licht und seinem bis zum Rande gefüllten Bassin mit Petroleum auf dem zitternden Ständer, bleibt der Irrwisch Herrin der Situation. „Latz", meint Wolf's kleine Mama, im Stillen lächelnd über des Mädchens Streiche. „Abscheulich!" Lilian wendet sich unmuthig ab. „Nun denn, Diskretion. Geben wir uns da» Wort, datz Niemand davon erfährt", erklärt Wolf, „da in der That nichts Anderes übrig bleibt." „Ja, gebt Euch das Wort!" lacht Fiffi wohlgemuth und be ginnt von Neuem: „Also ich liebe Fräulein Fiffi. — Ihre Schönheit, ihre Anmuth" — „o, ciear I am mucü vbligsck tu )vu' — der Wildfang macht seinen schönsten Knix trotz der zitternden Höhe — „ihre Herzensgüte" — nun macht Fiffi doch ein etwas überraschtes Gesicht, „ihre Herzensgüte haben mir es angethan." Wolf ist ernstlich böse; aber gegenüber dem Mienenspiel der Kleinen kann man nicht ernsthaft bleiben. „Amor ist blind", neckt er sie. „Wohl weiß ich", fährt die Leserin launig fort, „daß ich meine Blicke noch nicht zu diesem Stern erheben sollte. Meine Jugend" — Fiffi stutzt — „meine Verhältnisse, meine Stellung. — Wohl sehe ich ein, daß Fräulein von Dernburg ganz andere Ansprüche machen kann, als meine einfache Persönlichkeit bietet, doch wenn sie mich liebte, wenn sie mich lieben könnte: ich würde streben und ringen, ihrer würdig zu sein, wie Jakob um Rahel —" „So alt sollt' ich werden!" lacht der Schelm, und lachend wiederholt sie es noch einmal: „Wie Jakob um Rahel" — „gälte es nur den hundertsten Theil der Liebe zu empfangen, die ich für das holde Geschöpf empfinde." Sehr erstaunt, doch sehr vergnügt reckt jetzt Fiffi das Köpfchen auf dem feinen Hals, just, als wollte sie sagen: Wie stehe ich nun da? Dann aber, als ein echter Kinderkopf noch, steckt sie das Näschen wieder in den Brief: „Zuweilen lächelt sie mich an, mein Herz schlägt hoffnungsfroh, dann treten Andere dazwischen, auch mit ihnen lächelt sie. Für wen aber hätte das holde Mädchen kein Lächeln in ihrem harmlosen Frohsinn, in ihrer unschuldvollen Herzlichkeit!" „Hm, hm", — einen Moment hält das junge Ding ein wie befangen, dann treibt es sie weiter: „Ein andermal auch schaut sie mich an, als wollte sie sagen: Habe doch Muth! — — wieder treten Andere dazwischen Und, mein gnädige Frau, einer feindlichen Batterie würde ich nicht Weichen aber ich bin nun einmal scheu und schüchtern gegenüber den Frauen, in der großen Welt. Und in diesem meinem nichts durch bohrenden Gefühle schleiche ich mich weg, auch wenn mir ihr Lächeln zu winken scheint und schäme mich über mich selbst. So habe ich auch eine Weile schon Ihr liebes Haus gemieden." — Ein staunender Laut dringt über die frischen Lippen, ein Hauch von Ernst huscht über das Kindrrgesichtchen: „So habe ich auch — eine Weile schon — Ihr liebes Haus gemieden. — Dennoch, die Erfahrung hat meine Liebe nicht geringer werden lassen, mich vielmehr überzeugt, datz sie für immer mit mir verwachsen ist. In wenig Zeit, so hörte ich, geht Fräulein von Dernburg zurück nach Amerika. Ich will und darf Sie mit
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