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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.01.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980120029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898012002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898012002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-20
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Unzeigen-PreiS die 6 gespaltene Petitzeile LI Pf^ Reclameo unter demRedactionsstrich (4g» spalten) 50-cj, vor den Familieunachrichtr» (6 gespalten) 40 Gröbere Schriften laut unserem Preis» vrrzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz uach höherem Tarif. Extra-Vellage« (gefalzt), nur mit da Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderunz' 60.—, mit Postbesördernng 70.-. Annnhmrschlu- für Änzeizen: Ab end-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Kkorgr«»Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Del den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Erpedttis» zu richten. Duck and Verlag von L. Polz in Leipzig 82. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 20. Januar. Obgleich der Reichstag an seinem gestrigen „Schwerins tage" die Beralhung des vom Centrum eingebrachten Antrags fortsetzte, der durch Verschärfung der bezüglichen Straf paragraphen der Kuppelei und dem Zuhälterunwesen ent gegentreten und den Mißbrauch des ArbeitSverbältnisses zu unsittlichen Zwecke», die Herstellung und Verbreitung unzüchtiger Darstellungen, die durch grobe Unanständig keit das Scham- und Sittlichkeitsgefühl verletzen, sowie die öffentlichen Aufführungen und Schaustücke solcher Art strenger bestrafen will, so war das Haus doch nur sehr schwach besetzt. Nicht einmal eine solche interessante Tages ordnung hatte „gezogen". Desto mehr zog man die Dis- cussion in die Länge, obwohl unter den Zuhörern auch Damen sich befanden, obwohl von vornherein feststand, daß der An trag ohne CommissionSberathung nicht zu erledigen sein würde, obwohl kein Einziger der Redner Neues vorzutragen oder das Bekannte von einem neuen Gesichtspunkte aus zu beurtheilen wußte, und obwohl in der Commission Alles, was am letzten Donnerstag und gestern vorgebracht worden ist, nochmals erörtert werden muß. Mit derartigen Berathungen können die nach Diäten lüsternen Mitglieder des Hauses die Geneigtheit der Wähler, die Thätigkeit ihrer Abgeordneten mit klingender Münze zu belohnen, sicherlich nicht erhöhen. Es wäre auch ganz überflüssig, die gestrige Sitzung über haupt zu erwähnen, wenn nicht der Abg. Bebel zu einigen Bemerkungen herausforderte. Keinem der bürgerlichen Redner ist es an den beiden Verhandlungstagen in den Sinn ge kommen, zu leugnen, daß die Nebel, deren nachdrückliche Be kämpfung die Antragsteller verlangen, auch in bürgerlichen Kreise» herrschen; einzelne dieser Männer haben sogar aus drücklich betont, daß jene Kreise, zu denen die „Lebemänner" gehören, an den allgemeinen Sittlichkeitszuständen einen ganz besonderen Schulbantheil haben. Nur Herr Bebel stellte sicl^ auf den Standpunct des Pharisäers, der sich und Seinesgleichen für gerecht erklärt und alle Schuld aus die Häupter der „Anderen" häuft. Wer so auftritt, dem liegt sicherlich die allgemeine Besserung weniger am Herzen als die Verhetzung. Noch dazu, wenn er mit seinem „Beweismaterial" so verfährt, wie Herr Bebel es gewöhnlich thut und auch gestern wieder that. Was zu seinen Behaup tungen nicht stimmt, ist kein Beweismaterial, auch wenn es noch so gut beglaubigt ist, und was ihm in den Kram paßt, ist unwiderlegliche Wahrheit, auch wenn es der trübsten Quelle entstammt. Gestern saß er besonders hoch zu Pferde, weil eS ihm angeblich gelungen ist, Beweise für die Berechtigung der unlängst gegen den Revaeleur Finck erhobenen Beschuldigungen zu erbringen. Damals aber, als er diese Beschuldigungen erhob, war er im Besitze solcher Beweismittel nicht, denn sonst hätte er nickt nachträglich den stenographischen Bericht seiner Rede ge ändert. Wer auf solchen Veränderungen, die das Ein- geständniß bedeuten, die ursprünglichen Behauptungen seien leichtfertig ausgestellt worden, ertappt worden ist, dem steht eS sicherlich besser an, gleich dem Zöllner an seine Brust zu schlagen, als den Pharisäer zu spielen. Von der vcutsch-ostafrikantsche« Centralbahtt ist es seit ungefähr Jahresfrist recht still geworden. In colonialpolitischen Kreisen wird zwar nach wie vor die Ausführung dieses Bahn- projectes als eine Art Lebensfrage für unser ostafrikanisches Schutzgebiet betrachtet, indessen scheinen die „Präventivmaß nahmen", welche die Abgg. Richter, Bebel und Andere in Ge stalt lebhafter Reden und Proteste gegen die Uebernahme einer Zinsgarantie bei dem Bahnbau im Reichstag einzuleiten für gut fanden, leider eine gewisse Muthlosigkeit mit Bezug auf diese Angelegenheit zur Folge gehabt zu haben. Unter diesen Umständen dürfte es angebracht sein, wieder einmal auf die Entschlossenheit und Zähigkeit hinzuweisen, mit welcher unsere colonialen Con currenten in Ostafrika, die E n g l ä n d e r, den Bau einer Bahn von der Küste zu den großen Seen ins Auge gefaßt und seither verfolgt haben. Vor etwas mehr als Jahresfrist wurde in allen national gesinnten deutschen Blättern darauf gedrungen, daß wir aus wirthschaftlichen wie politischen Gründen unter allen Umständen den Bau einer ostafrikanischen Centralbahn eher bewerkstelligen müßten, als die Engländer. In Deutschland wurde damals über das Project einer deutsch ostafrikanischen Centralbahn viel geschrieben und discutirt; in England dagegen handelte man. Nunmehr wird bekannt, daß der Bau einer Eisenbahn von Mombas nach Uganda bez. dem Victoria-Nhanza schon im August v. I. 192 Kilometer fertig gestellt war, und daß der Chefingenieur bis Ende v. I. 480 Kilometer bis Kikuyu vollendet zu sehen hoffte. Vorläufig hat man das fehlende Glied zwischen der Bahn und dem See durch eine gute Fahrstraße ersetzt, die von den Eingeborenen fleißig benutzt wird. Unter diesen Umständen wird man er warten dürfen, daß man in deutschen colonialpolitischen Kreisen die Zurückhaltung aufgeben wird, mit welcher bisher die ganze Bahnbauangelegenheit behandelt worden. Es handelt sich um nichts mehr und nichts weniger als um die Verhinderung einer verhängnißvollen Ableitung des Handels Centralafrikas mit der ostafrikanischen Küste, mit anderen Worten um die wirthschaft- liche Zukunft unserer ostafrikanischen Colonie. Die Gefahr, die von dieser Seite droht, ist um so größer, als die Engländer mit Energie gleichzeitig die Schaffung einer leistungsfähigen Flotille auf dem Victoria-Nhanza ins Auge gefaßt haben. Es ist kein Wunder, daß in dem allgemeinen Durcheinander der politischen Leidenschaften in Frankreich auch derAnarchtSmns seine Karte wieder abgegeben hat. Wo der Cbauvinismus, der Antisemitismus, der BoulangismuS und Monarchismus, der SocialiSmus uud Radikalismus, der RepublikaniSmuS und ver Religioiisfanatismus sich unter einander in den Haaren liegen, wo es zum Handgemenge, zu Straßendemonstrationen, zu Plünderung und Raub kommt, darf der Anarchismus nickt fehlen, um die Erregung aufs Höchste zu steigern, vielleicht auch, um, ohne eS zu wollen, die blindwütyigen Citoyens zur Besinnung zu bringen. Bis jetzt hat nur das Messer und der Revolver eine Nolle gespielt, aber morgen kann der Telegraph schon von einem neuen Dynamitattentat berichten. Wie wir schon kurz meldeten, erschien gestern Nach mittag vor dem Polizeiposten von Montmartre ein Mann, der den an der Thür als Wache stehenden Schutzmann gröblich beschimpfte und sich dabei immer mehr ereiferte, bis er zuletzt den Schutzmann überfiel und ihm mit einem Messer acht schwere Stiche an verschiedenen Theilen des Körpers beibrachte. Nach einer anderen Version soll der Anarchist den Schutzmann plötzlich von hinten überfallen und ihm die Messerstiche versetzt haben. Ein Wachtmeister und ein Schutzmann stürzten hinaus und versuchten vergebens, den Rasenden zu bewältigen, der über dem Ringen auch diesem Schutzmann mit demselben Messer vier böse Stiche bei brachte, so daß der Getroffene blutend neben seinen Genossen siel. Andere Schutzleute, die herbeieilten, erhielten zum Theil auch noch Stichwunden, konnten den Verbrecher jedoch be mustern und in das Arrestlocal abfübren. Gleich nachdem er untergebracht war, zog der Verhaftete, den man noch nicht batte durchsuchen können, einen Armcerc volver auS der Tasche und gab damit einen Schuß auf einen Schutzmann, der gerade vorbeiging, um Wasser zu holen, damit die Wunden seiner Genossen auszuwaschen. Der Schuß traf in die Wange, und der Getroffene fiel zu Boden. Der Verbrecher gab noch sieben Fehlschüsse auf die inzwischen herbeigerufenen Schutzleute ab und schrie dabei: „Ich werde euch alle tödten, ihr Räubergesindel. ES lebe die Anarchie!" Die Schutzleute suchten hinter einer Säule Deckung. Mittlerweile kam der Polizeicommissar zur Stelle, befahl seinen Leuten, die Gewehre zu laden und sich vor die Zelle zu stellen. Dann sagte er zu dem Anarchisten: „Wenn Sie sich nicht sofort^ ergeben, werde ich Sie durch den Kopf schießen lassen." „Sind Sie der Com- missar?" entgegnete der Verbrecher; „wenn ich um Ihren Besuch gewußt hätte, so hätte ich eine Kugelfür Sie bereit gehalten." „Darum bandelt eS sich nicht", sagte der Commissar, „geben Sie den Revolver heraus." „So geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß ich nicht miß handelt werde." Da der Commissar sich dazu verstand, reichte der Verbrecher den Revolver durch die halb geöffnete Thür, worauf er festgebunden und verhört werden konnte. Mau fand bei ihm noch eine Schachtel mit etwa 30 Patronen. Der Mann heißt, wie berichtet, Francois Etievant und ist 32 Jahre alt. Auf die Frage nach der Ursache seiner Ver brecken erwiderte er mit einem Bekenntniß deS An archismus. Er habe keinen persönlichen Grund gehabt, die Schutzleute anzufallen, und beklage sogar, daß diese seine Opfer geworden seien, aber er sei ein Feind der Gesellschaft, er sei „Libertär" und Gegner jeder öffentlichen Behörde. „Lesen Sie meine Broschüren, und Sie werden über meine Denkart unterrichtet sein. Etievant, dessen Bruder ebenfalls Anarchist ist, gehört seit Jahren dieser Richtung von Umstürzlern an und war in den Versammlungen seiner Gesinnungsgenossen einer der ge suchtesten und wildesten Redner. Vor fünf Jahren war er wegen Dynamit-Diebstahls zu fünf Jahren Gefängniß ver- urtheilt worden. Nachdem er im Juli aus dem Gefängniß von Clairvaux entlassen worden war, begann er wieder eine heftige anarchistische Propaganda und schrieb u. A. eine Broschüre gegen den Präsidenten der Republik. Er trat als Geschäftsführer in das Anarchistenblalt „Le Libertaire" ein und veröffentlichte sehr heftige Artikel, die eine gerichtliche Verfolgung veranlaßten. Alsdann floh er nach Belgien und wurde in Paris während seiner Abwesenheit zu zwei Jahren Gefängniß verurtheilt. Auf die Anzeige, daß die cnglis he« Maschtnenbauarbeiter die Forderung des AchtstundenrageS zurücknehmen, theilte der Verein der Arbeitgeber den Ersteren mit, daß alle Werk stätten am 24. d.Mts. wieder geöffnet werden würden, vorausgesetzt, daß die verbündeten Trave-UnionS die Bedingungen in Betreff der Handhabung des WerkstältenbetriebeS annähmen, über welche in der Conferenz im December v. I. eine Einigung stattgefundcn hat. Es handelt sich bei diesem Punct um die grundsätzliche Frage, um derentwillen der Streik eigentlich in der Hauptsache begonnen wurde, wer Herr in den Betrieben sein soll, die Arbeitgeber oder die Arbeiter. Die Einigung war auf Anregung des Handelsamtes unter Mit wirkung der Arbeiter zu Stande gekommen, von den Mitgliedern der auSgesperrten Gewerkvereine nachher aber nicht anerkannt worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Unter werfung der Trade-Unions auch in diesem Punct nickt lange auf sich warten lassen, denn die Arbeiter sind, da die Streikfonds ausgebraucht sind, einfach nicht in der Lage, den AuSstauv auch nur noch eine Woche fortzusetzen. Den gänzliche:! Zusammenbruch desselben giebt auch die socialdemokratiss e deutsche Presse wehklagend zu. So schreibt die „Sack'. Arbeiterztg.": Tie Niederlage der englischen Maschinenbauer wird die capiia listiscke Presse mit Jabel erfüllen, und allerdings wird sie diesmal Grund dazu haben, denn die Trade-Nnion der Maschinenbau : ist die stärkste Gewerkschaft Englands, folglich der Well' Die Arbeiter haben deshalb alle Veranlassung; den Fall äiiße: . ernst zu nehmen. Es handelt sich nicht nm einen zufällige:: Massenstreik, wie etwa der Hamburger und wie alle Massenstreit.- in Deutschland biS jetzt waren, sondern um einen wohlbedachte:, und zielbewußt durchgeführtea Streik der bestorganisirtc Gewerkschaft der Welt — und doch müssen dir Maschinenbauer den Rückzug autreten. Die materiellen Verwüstungen, die der Ausstand au- gerichtet hat, sind ungeheuer, einen Begriff davon giebt d: Angabe in der amtlichen AuSstandSstatistik für 1897, nach welche, von den durch Ausstände und Arbeitssperren verloren g gangenen 10400 000 Arbeitstagen über die Hälfte aus den Aue stand im Maschinenbaugewerbe entfallen. Voraussichtlich wire ja die englische Maschinenbauindustrie rasch wieder in Gan.', kommen, denn eS sind große Bestellungen zu erledigen: namentlich sind von der Admiralität an die Werke am Clyde und in Nordostengland bedeutende Aufträge gc geben worden. Daß die Arbeiter sich aber noch einmal eine solche Kraftprobe leisten können, ist sehr zu bezweifeln, denn sie müssen sich sagen, daß die Zeiten vorbei sind, wo England allein den Maschinenmarkt beherrschte. Die Arbeiter werden, wie der verstorbene englische Maschinen fabrikant Sir I. Whiteworth einmal sagte, cinsehen müssen, daß sie mit Arbeitern anderer Länder zu concurriren haben, die nicht schlechter, aber billiger als sie arbeiten. Zum Beweis schreibt der frühere Overconstructeur der englischen Marine Sir E. I. Reed in der „Times": „Vor Kurzem war ich in einer Fabrik am Clyde. Die Werk statten waren voll neuer Maschinen. Alle Werkzeugs maschinen waren von Amerika importirt, obgleich sie ebenso aut z. B. in LeedS hätte« angefertigt werden können . . . . Ich ging kürzlich durch eine englische Maschinenfabrik, be gleitet von dem betreffende» Fabrikanten. Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf zwei prächtige neue Stahlschmieden. Sie waren in Deutschland gemacht und batten, obwohl sick die Fabrik wenige Meilen von Sheffield befand, an Ort und Stelle geschafft 1—200 Lstrl. weniger gekostet, als wenn man sie iu Sheffield selber bestellt hätte." Die C an didatur deS Prinzen Georg von Griechen land für den Gouverneurposten von Kreta wird augenblicklich viel erörtert. Dabei ist eS charakteristisch, daß man, wie die „Times" sich berichten lassen, in Athen keineswegs über die Meldung von der Wahrscheinlichkeit der Ernennung des Prinzen Georg entzückt sei, weil man nicht zu hoffen wage, daß eine so glückliche Fügung für Griechenland cintreten könne. Man kann daraus entnehmen, als ein wie großcc- Entgegenkommen gegen Griechenland die Griechen selbst die Ernennung deS Prinzen Georg zum Gouverneur von Kreta ansehen würden. In der That wüdde auch die Ernennung deS Prinzen nichts Anderes bedeuten, als die Errichtung einer griechischen Secundogenitnr. Wollte man das, so hätte man un vergangenen Jahre nicht nöthig gehabt, gegen die Landung der grieckischen Truppen auf Kreta zu protestiren. Denn die Oberhoheit der Türkei würde, wenn ein griechischer Prinz Gouverneur wäre, in jeder Hinsicht nur eine formelle sein. Kampf und Entsagen. lös Roman von M. von Eschen. Nachdruck verboten. Und Lorenz Kirchner findet schnell in unbewußter Freudigkeit seine Fassung wieder. Noch einige verbindliche Worte hinüber und herüber, und souverain, wie immer, hat Lilian Herrn Kirchner dargclegt, wie sie sich die Sache gedacht hat. Freilicht soll er haben. Unten im Garten will sie ihm sitzen. Sie hat schon mit Tante Weilar gesprochen. Die freut sich riesig darauf. Auch Wolf soll ihnen Gesellschaft leisten. Lilian vergißt den Vetter nicht. Es scheint, als sucht sie immer wieder bei ihm nach einem Halt. Gegen was, gegen wen? — Dann kommt die Toilettenfrage an die Reihe. Wolf ist für rosa, Lorenz für weiß. Lächelnd stimmt Lilian dem Letz teren bei. „In live »iguü. >— Weiß und grün, das sind einmal die Zeichen dieser Neuen. Das Einzige, was nicht in den Kram paßt, bin am Ende ich." „Lilian, ich kenne Sie noch gar nicht von der Seite", meint Wolf, dem die so natürlich heitere Laune an der Cousine fremd ist. „Dann müssen wir uns immer noch besser kennen lernen, lieber Wolf", giebt sie, die Stimmung wechselnd, weich zurück. — Und die Sitzungen beginnen. Jeden Morgen findet sich Lorenz ein. Frau Anna fragt nicht, wohin er geht. Er hat übernommen, eine Dame zu portraitiren. Anna fragt nicht, ist sie jung, schön instinctio wehrt sich das arme Geschöpf gegen eine Antwort, die sie beunruhigen würde, gegen Empfin dungen, die ihr früher so unbekannt gewesen sind, und hält es in diesem Falle lieber mit dem Nichtwissen. Geld ist nun einmal der mächtigste Factor. Anna will zufrieden sein, daß der Mann sich endlich mal an eine Arbeit gemacht hat, die etwas einbringt. Die Tage sind wunderschön. Es ist ein Frühling, wie er selten unserm Klima beschieden ist. Ungehindert durch eine noch offen gebliebene Stelle in dem Häusermeer, fluthet die Sonne in den kleinen Garten über den großen Fliederstrauch. Hell in dem Hellen Lichte glänzen die grünen Blätter, nicken dir matt farbenen Blüthcntrauben. Leuchtend, schillernd wogt es um Lilian, die in einem weißen Kleide, einen blauen Fliederzweig in dem goldenen Gürtel als einzigen Schmuck, in einer Schaukel hin und her schwingend gedacht ist und selbst gleich einem Sonnen strahl wirkt. Lilian selbst hat auch diese Situation geplant. Sie kann die Paradeportraits, die Posen ncht ausstehen und hält darin, wie ihr Maler, zu Wahrheit und Natur, d. h. hier dem alltäg lichen Leben. Wobei sich allerdings der Unterschied geltend macht, daß ihr Begriff von Alltäglichkeit dem seinen wie eine Ironie dem Leben gegenübersteht. „Ein gelecktes Genrebild", hatte denn auch Lorenz Kirchner im Anfang gebrummt. Er hatte in dem Moment beinahe Lilian gehaßt, daß sie ihn dafür gepreßt. Er hätte aber doch kein Künstler sein müssen, wenn er nicht sehr bald eingesehen hätte, daß das, was er im vorgefaßten Grimm „geleckt" genannt, hier doch nur natürlich und charakteristisch war. Mit der Spitze des Fußes kaum den Boden berührend, mit der einen Hand das Tau umspannend, während die andere lose im Schooß liegt, lehnt Lilian da, leicht, anmuthig, jedem Spiel der Bewegung hingegeben. Das Gesicht über die Schulter ge wandt, läßt dem Maler kaum mehr, als die Profillinien. In entzückender Reinheit kommen die stolzen Linien ihres Nackens, die weichen ihrer Wangen zur Geltung; ebenso gelangen in der ungesuchtcn Haltung der Adel, die Energie und Unabhängigkeit ihres Wesens erst recht zum Ausdruck, diesmal "durch die Anmuth der Situation schmeichlerisch umflossen. Und Lorenz Kirchner hätte kein Künstler sein müssen, wenn ihn dies Bild nicht gefesselt hätte. Es waren nur wenige Farben, dafür eine große Mannig faltigkeit in den Tönen und Lichtern, reicher, zarter, feiner, als alle, die er bisher auf die Leinwand gebannt. Sie waren nicht leicht zu treffen und reizten sein Können. Mama Weilar ging ab und zu. Wolf erschien wechselnd zum anregenden Geplauder, auch Fiffi steckte mal ihr Näschen unter den Fliederstrauch. Ob sic auch seit jenem denkwürdigen Abend auf gespanntem Fuß mit der Schwester stand, so war das kleine Ding doch viel zu gutmüthig. Jemandem die Laune zu verderben, und außerdem viel zu neugierig. Und Lorenz Kirchner hätte zuletzt doch nicht er selbst sein müssen, als daß ihn diese Umgebung, die ganze geistige Atmo sphäre nicht wohlthuend berührt haben sollte! Je nachdem, wenn der Tag besonders günstig für das Malen oder Lilian unermüd lich war, btteb er zu Tisch. Zuweilen waren sich der Maler und sein Modell für Augen blicke allein überlassen. Unwillkürlich nahm die Unterhaltung dann einen persönlichen Charakter an. Lorenz begann einmal wieder an sich selbst zu denken, was er lange nicht gethan. Er er zählte von seinen Studien, seinen Kämpfen, seinem Ziel — nur yon Anna und pem Kinde sprach ex mA. K.x pachte einfach nicht daran, Lilian hörte ihm zu, wie man einem Märchen horcht. Zuweilen auch schwiegen sie Beide. Lilian wurde nicht müde, ihr Gegenüber im Stillen anzuschauen. Die prächtige Stirn, der mächtig gewölbte Kopf gaben dem Mädchen zu denken. Es trieb sie mit nie empfundenem, aber seltsam bestrickendem Weh, die edlen Linien aus seinen verfallenen Zügen herauszulcsen. Wenn dann, während der Pinsel lautlos sein Werk verrichtete, der Künstle^selbst nur seinem Schaffen hingegeben schien, eine leise Röthe langsam die hageren Wangen zu färben begann, der mächtige Kopf sich hob auf dem schlanken Hals: dann freute sich Lilian, wie der ganze Mensch ein Anderer ward, frei von Allem, was seine Stimmung, sein Leben bedrückt haben mochte. Dann schaute wohl auch Lorenz auf und wieder zu ihr hin über. Und ohne daß er dessen inne ward, erstrahlten die traurig ernsten Augen unter den stark gewölbten Brauen, groß, leuchtend, in entzückter Begeisterung. Der herbe Zug um den guten, einst so heiteren Mund wich einem Lächeln, das immer verklärter um die feinen Lippen spielte und leichte Schatten um den dunkel blonden Bart zog. Aber auch Lilians Augen vergaßen ihren gewohnten kühlen, forschenden Blick. Der warme Sammetton der dunklen Sterne ein Verräther innerlichen Feuers, leuchtete durch Vie dunklen Wimpern hindurch. In des Mädchens Seele begann es sich zu regen, wie die wunderbare Gewißheit von etwas, das höher, viel höher stand, als all der verfeinerte Luxus, die verfeinerten Ge nüsse, als Alles, was sie bisher einzig als des Lebens Güter hatte preisen hören und erstreben sehen, als Alles, um was sie sich selber bisher bemüht hatte. Es kam eine Ahnung über ihre Seele von einem Sichselbstverlieren, das nur ein Sicherstgewinnen, von einem Hingeben, das nur eine Erhöhung des eigenen Selbst in schrankenloser Seligkeit bedeutet. Und der Maienhimmel blaute hernieder, die Sonne webte ihre Ringe zu zauberischen Kreisen über den grünen Blättern, den mattfarbenen Blüthentrauben, zwischen dem Mann und dem Mädchen hin — der Duft des Flieders zog um und wirkte süßen Rausch. „Das ist Frühling!" sagte Lilian in einem solchen Moment plötzlich in die tiefe Stille ihres Schweigens hinein. Er sah sie an. War es der Ausdruck in ihrem Gesicht, der ihn befremdete? War es das Wort, welches ihm jenes Werk ins Ge- dächtniß rief, das er gleichfalls in einem Lenz geschaffen und „Frühling" genannt? Wollte sie sagen, daß er im Unrecht damit gewesen, wollte sie ihn lehren, was Frühling sei? — Oder — seine Hände zitterten plötzlich, daß die weiße Paste für Lilians Kleid den Fliederbaum trifft und ein lächerlich ungehöriger Strich die blauen knospenden Zweige durchschneidet. Lorenz Kirchner hat die Herrschaft über sich verloren, er lehnt den Kopf wie be wußtlos zurück. „Um Gottes willen!" Lilian, die sich gewöhnt hat, niemals die Haltung zu verlieren, steht fassungslos neben dem Künstler, sie legt die Hand auf seine Schulter und sieht ihm bang in das Gesicht. „Mir ist nicht Wohl", stammelt er endlich. „Ich glaube, wir werden ein Gewitter haben" — und mit gewollter Derbheit fügt er hinzu: „Ich spüre es schon den ganzen Tag in den Knochen." In der That, es waren Wolken vor die Sonne getreten, ein Windstoß fuhr durch die Blätter. „Entschuldigen Sic mich für heute", bat Lorenz. „Die Be leuchtung ist doch ganz anders geworden." Lilian nickte. Als er gegangen war, sank sie auf einen Stuhl, stützte die Arme auf den Tisch und grub das Gesicht in die Hände. Eine lange Weile saß sie so und merkte es gar nicht, daß die schlanken Finger feucht wurden, wie von Thränen. Da schlugen die ersten Tropfen durch das Fliederdach. „Das Wetter ist da", murmelte sie, und sie eilte in das Haus. XVII. Zum ersten Male, seit sie bei den Weilar'« wohnte, ließ sich Fräulein von Dernburg für den Abend entschuldigen. „Das Sitzen greift doch wohl an", meinte die Hauptmännin, da sie, gleichfalls zum ersten Mal seit lange, mit dem Sohne allein zusammentraf. Helja fand sich in letzter Zeit so selten als möglich zu diesem Familienstündchen ein; Fiffi glänzte heute eben falls durch Abwesenheit, was übrigens seit jenem denkwürdigen Abend oft geschah. „Ich meine, das Sitzen greift an", wiederholte Frau von Weilar, da Wolf, mit einer Photographie spielend, die Bemer kung nicht gehört zu haben schien. „Möglich", gab er nun zurück in einem Ton, der noch immer recht zweifelhaft ließ, ob er bei der Sache war. Die kleine Dame rückte an den Spitzen auf ihrem Haar, strich an den Falten ihres Kleides — augenscheinlich beunruhigt von irgend Etwas. „Wie stehst Du mit Lilian?" fragte sie endlich. „Wollt Ihr denn immer noch nicht —" „Es ist doch ein Jammer", unterbrach Wolf, ehe noch, was ihr auf der Seele brannte, über die Lippen gekommen — „ein Jammer, daß solch ein Mädchen ohne Liebe durchs Leben gehen soll! Nur, weil sie einmal das nothwendige infame Geld nicht hat."
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