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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.01.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189801236
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18980123
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18980123
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-23
- Monat1898-01
- Jahr1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.01.1898
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DK Morgen-AnSgabe erscheint um '/»? Uhr, Hk EbenH-AuSgabe Wochentag- um S Uhr. Ae-actio« «n- Expedition: JohanneSgaffe 8. DK Expedition ist WochrutagS ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr, Filialen: ktts ltlemm'S Tortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), Laut» Lösche, Katharinenstr. 14, pari, und Königsplatz 7. Bez»g-Preik Wl h« Hauptexpeditiou ob« de« im Stabt- b«irt und den Borortrn errichteten Aut- oabestellen ab geholt: vierteljährlich >14.50, vri zweimaliaer täglicher Anstellung ins Haus 5.50. Durch dir Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteyährlich . Directe tägliche Kreuzbandiendung tu- Au-land: monatlich >1 7.50. MMer Tageblatt Anzeiger. Ätnlsölatt des Kömgkichen Land- und Äinisgerichtes Leipzig, des Mathes nnd Molizei-Äiules der Stadt Leipzig. A«zeigert»Preis die 6 gespaltene Peützeile 20 Pfg. Reklamen unter dem Rrdactionsstrich (4g»> spalten) 50 »Z, vor den Familiennachrichtrn (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Aisfernsutz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbefördernng 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine kalbe Stunde früher. Anreigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. ZA. Sonntag den 28. Januar 1898. 82. Aus -er Woche. Die Reichstags-Restauration, so tönt dos von Eugen Richter wieder angestimmte Klagelied, steht leer. Das ist richtig. Bei seiner Geschmacksrichtung findet aber der Führer der Bolkspartei vielleicht einen Trost darin, daß eS im Reichstag oft genug wie in einer — Restauration zugebt. „SchinderhanneS - Brutalität" und „Hirnlosigkeit" , solche Worte wird man sogar in sehr vielen Kneipen vergebens zu hören versuchen. Der Sprachschatz des Reichstages ist in der verflossenen Woche durch socialdemokratische Redner mit ihnen bereichert worden. Dabei find es aber gerade die Mitglieder dieser Partei, die am ungehaltensten werden, Wenn festgestellt wird, wie sehr die Achtung vor der deutschen Volksvertretung im Lande gesunken ist. Sie wird auch nicht da durch wieder gehoben werden, daß ein Abgeordneter wie Herr Richter versichert, der Wirth im Parlamentsgebäude würde bessere Geschäfte machen, wenn die Reichstags mitglieder auS öffentlichen Mitteln Tagegelder erhielten. Wir gehören nickt zu den Freunden der Diätengewährung, aber wir erkennen an, daß beachtenSwerthe Gründe für sie angeführt worden sind. Das Richter'sche Argument, daß die Volksvertreter wegen der Halsstarrigkeit der Regierungen sich nicht einmal ein Frühstück gönnen können, zählt aber nicht zu den ernsthaften. Die Herren leiden durchweg keine Notb. Wenn eö in der Reichstags-Restauration trotzdem leer ist, so kommt dies natürlich vor Allein daher, daß es im Reichstag einsam ist, dann aber auch von der räumlichen Anlage. Wer wie Herr Richter von der Ansicht aus geht, daß daS Reich dem ReickStagswirth ein Einkommen zu sichern habe, der muß folgerichtig statt zur Forderung von baaren Diäten zu dem Verlangen auf Verpflegung der Ab geordneten im „Hause" und auf Reichskosten gelangen, denn daS Baargeld würde „vertragen" werden. Würdig ist es gewiß nicht, wenn Abgeordnete Erörterungen dieser Art anspinnen. Immerhin ist es in diesem Augenblicke noch weniger un geheuerlich, Diäten um deS Fortbestandes der Restauration willen zu fordern, als unter dem Gesichtspunkte, daß jede Arbeit ihres Lohnes Werth sei. Der Reichstag sieht wiederum auf eine gänzlich verlorene, vertrödelte Woche zurück. Es wäre kein Grund vorhanden, aus die Verhandlungen zurückzukommen, wenn es nicht der Herr Abg. Pach nicke gewesen wäre, der sich an die Spitze Derer stellte, die mit vollkommener Ein seitigkeit den Standpunkt nicht der Arbeiter, sondern der Streikagitatoren gegenüber den Interessen der Arbeitgeber und der geordneten Arbeit überhaupt vertreten. Herr Pachnicke war dabei nicht das Opfer einer vor geschrittenen socialpolitischen Auffassung. Er ist der eifrigste Agent des „Schutzverbandes gegen agrarische Uebergriffe", der seinerseits noch etwas Anderes ist, als sein Name besagt, nämlich die unbefangenste großkapitalistische Interessen vertretung, die sich jemals in Deutschland gebildet hat. > Freilich existirt für sie nur das von Störungen f der Arbeit durch Agitation zunächst unberührt bleibende, fast ausschließlich im Handel werbende Capital. In soweit dieses Element in größerem Maßstabe Arbeit giebt, ist es weniger social als jedes andere. Das hat sich bei der Lohnbewegung in der Berliner Kleider- und Wäscheconfection nur zu deutlich gezeigt. Der Herr Abgeordnete vr. Barth kommt in einer soeben veröffentlichten Betrachtung zu demZuzeständnisse, daß die parlamentarischen Einrichtungen alle Welt enttäuscht haben. Das Parlament wäre seinem Wesen nach eigentlich mehr ein aristokratisches Institut als ein demo kratisches, es habe jenen vornehmen Charakter aber nicht erlangt oder nicht behalten. Vielleicht untersucht Herr Barth nächstens, ob ein fractionsprofitwütbiges Verhalten, wie es sein Parteigenosse Pachnicke in den Fragen der Coalition und des Schutzes der Arbeitswilligen beobachtet hat, mehr nach der aristokratischen oder mehr nach der demokratischen Seite hin gravitirt. In besserem Lichte als der Reichstag hat das preußische Abgeordnetenhaus sich gezeigt, das die erste Lesung des Etats in drei Tagen beendete, ohne daß Angelegenheiten, die in den Rahmen dieser Erörterungen fallen, vernachlässigt und Anstandspflichten verletzt worden wären. Die Debatte war die erste große politische seit der „Umbildung" der Regierung, bei der Herrn Or. v. Miquel bekanntlich das Vice präsidium deS Staatsministeriums und damit tbatsäcklick die Stellvertretung deS Fürsten Hohenlohe als Ministerpräsidenten zugefallen ist. Die Redner aus dem Hause sowohl, als der Finanzminister selbst ließen dessen nun auch formell ge steigerte politische Bedeutung stark hervortreten. Herr Vr.v. Miquel war vorzugsweise der Gegenstand der Kritik auch in Fragen, die eigentlich andere Ressorts angehen, und er stand überall Rede nicht wie ein, sondern wie der verantwortliche Staatsmann. Auch bei der Vertretung des Ansiedelungsgesetzes für die Ostmarken fiel ihm die Hauptrolle zu. ES ist gewiß erfreulich, daß sich die Sache mit der Form deckst, aber es steht zu wünschen, daß sich die Seele des preußischen Ministeriums dem Umfange ihrer Verantwortlichkeit nicht nur gegenüber dem Landtage bewußt zeige. Wie vorauSzusehen, bat Herr v. Miquel den Ruf zur Sammlung wiederholt, für deren Anbahnung daS preußische Abgeordnetenhaus jedenfalls einen günstigeren Boden bietet, als der Reichstag. Wir stellen mit Genugtbuung fest, daß es namentlich als Redner die Herren vr. Sattler und v. Eynern gewesen sind, die ein starkes Echo zurückerschallen ließen, indem sie die Bereitwilligkeit der Industrie und des Handels, der üblen Lage der Landwirthschaft Rechnung zu tragen, kräftigen Ausdruck gaben. Wie die Dinge liegen, ist dies daS einzige Mittel zum Zusammenfassen der positiven Elemente. Die jüngsten Kundgebungen der Nationalliberalen allein und sodann die der Cartellparteien Sachsens bewegen sich in derselben Richtung, während die „Nationalzeitung" einerseits und die von Berlin ans bestimmte äußerste Rechte des Azrarier- tbums sich ihrer Rolle als Störer und Verderber eingedenk erweisen. Ob und wie bei nnS in Sachsen die Einigkeit er halten bleiben kann, das stebt zunächst bei den Conservativen. Daß bei den Nationalliberalen unseres Landes — Dresden vielleicht ausgenommen — die „Nationalzeitung" so wenig Eindruck macht, wie irgend einem Mitglied? der national liberalen Reichstags- und der preußischen Landtagsfraction, braucht nicht mehr gesagt zu werden. Die eben wieder zu Tage getretene Parteinahme des Frei sinns für die polnischen Bedränger des Deulschtbums muß ebenso wie seine Haltung in der Marineangelegenheit jeden Zweifel daran beseitigen, daß das Zusammensteben der ehemaligen Cartellparteien eine nationalpolitische Nolbwendiz- keit ist. Wer aus wirtbschaftS-politischen Gründen oder auch im vermeintlichen Interesse des Liberalismus diese Wahr heit zu verdunkeln sncht, der sagt dem Reichsgedanken ab. Das Zusammengehen mit den Conservativen, von Haus aus nicht jedes Gemäßigtliberalen Sache, ist ohne Frage in der letzten Zeit noch erschwert worden. Wer es, besonders in Preußen, entbehrlich macken, aber dabei die nationale Politik nicht gänzlich unterliegen lassen will, der muß sein Augenmerk auf die Zertrümmerung des Freisinns, nicht auf dessen Erstarkung richten. Die Zertrümmerung dieser, Bös willigkeit mit Unfähigkeit paarenden Clique ist eine der Vor bedingungen der Besserung unserer Parteiverhältnisse. Deutschlands Seegefahren. Capitainlieutenant a. D. Weyer, der bekannte Vorfechter in Sachen des Wiederaufbaues der deutschen Flotte, hat seine im Beginne der Preßcampagne veröffentlichten Flottentafeln jetzt am Abschlüsse derselben gewissermaßen in zweiter erweiterter Auflage herausgegeben, indem er sie einer Broschüre „Deutsch lands Seegefahren" anschloß, in welcher er alles das noch einmal zusam^enfozt was zur Begründung der Nothwendigksit von Deutsa,iai.d- Weyckrast zur See in den letzten Monaten gesagt und gedruckt worden ist. Aus diesem Gesichtspunkte erscheint die neue Veröffentlichung höchst beachtenswerth. Capitainlieutenant Weyer weist zunächst nach, wie aus dem geringen Hervortreten der Marine im letzten französischen Kriege für und wider die Verstärkung derselben nichts gefolgert werden kann und wie eine Wiederholung der artiger Ereignisse außerhalb des Bereiches jeder Wahrscheinlichkeit liegt. Angesichts der durch die starke Volksvermehrung bedingten Nothwendigkeit, den Schwerpunct wirthschaftlicher Bethätigung immer mehr auf die See und über die See hin zu verlegen, er scheint die Möglichkeit kriegerischer Verwickelungen mit anderen seefahrenden Nationen immer näher gerückt; das „Oermanirrw esso ckelouckam" der „Saturday Review" war ein vielleicht zwar voreiliger, immerhin aber höchst beherzigenswerther Mahn ruf in dieser Beziehung. Welche Gefahren uns erwachsen müssen, wenn uns ein feindlicher Angriff von der Seeseile bedroht, wenn eine effective Blockade die Häfen versperrt, wenn ein ge landete? feindliches Corps die Quais und Speicheranlagen unserer Seestädte vernichtet, der Bevölkerung derselben Contributionen auferlegt und dann im Rücken der Landarmer vordringt, wird unter Hinweis auf die Lehren französischer Flottenbefehlshaber (lirm^onuer, brülo?, pille? saus merci) in das rechte Licht gerückt, ebenso wie auch hier darauf hingewiesen wird, daß Vergleiche mit der Vergangenheit nicht mehr zutreffen, da die von Wind und Wetter unabhängigen und vom Land« her kaum verwundbaren Panzerflotten ein weit bedrohlicheres Kriegs material darstellen als hölzerne Linien-Segelschiffe. Welche Gefahren der Handelsflotte drohen, wenn in einem künftigen Kriege schnell laufende geschützte Kreuzer sich die Aufbringung der Kauffahrteischiffe zur Aufgabe machen, wird in einer unseres Erachtens auch für verstockte Flottengegncr überzeugenden Weise erörtert und im Zusammenhang damit dargethan, daß Improvisationen zum Schutze derselben durch die Armirung von Hilfskreuzern nur sehr bedingten Werth haben. Daß Berufungen auf völkerrechtliche Abmachungen den man gelnden effectiven Schutz nicht ersetzen können, wird unter Hin weis auf historische Beispiele und das muthmaßliche Verhalten unserer künftigen Gegner nachgewiesen und dabei besprochen, daß nicht eine „Convoyirung" im Sinne früherer Seekrieg führung den Schutz der Handelsflotte bewerkstelligen würde, sondern die Deckung besonders bedrohter Puncte, welche eine auf die Basis der Schlachtflotte sich stützende Kreuzerslotte zu be werkstelligen haben würde. Welche Wirkungen die Behinderung oder gar die Unter bindung der Aus- und Einfuhr für das wirthschaftliche Gedeihen der ganzen Nation hervorbringen würde, ist zwar schon oft erörtert, erscheint aber in diesem Zusammenhang? ganz besonders klar, und mit Recht betont Capitainlieutenant Weyer, daß hieran Bremen und Hamburg ebenso sehr betheiligt sind, wie Baden, Bayern und Württemberg. Unter Hinweis auf die Seerüstungen unserer Nachbarn im Osten, Westen und jenseits des Canals schließt Weyer feine ein leitende Besprechung mit dem Satze: „Das deutsche Volk braucht zu seiner Sicherheit und Wohl fahrt Beides, eine starke Schlachtflotte und eine starke Kreuzer flotte" — den Beweis des Gegentheils dürfte auch die „un entwegteste" Flottenopposition kaum erbringen können. Es darf als ein eigenthümlicher Zufall bezeichnet werden, daß gleichzeitig mit dieser Broschüre Herr Eugen Richter sein „Politisches A-B-C-Buch" in neuer Auflage hat erscheinen lassen und daß er die Flottenfrage für wichtig genug gehalten hat, ihr einen besonderen Anhang „in systematisch ge ordneter Form" zu widmen. Es giebt Leute, welche dieses A-B-C-Buch für ein höchst brauchbares Compendium halten, auch wir wollen zugestehen, daß dasselbe einem fleißigen Re gistrator alle Ehre machen würde, aber Fleiß und Talent für Fererllrtsir. Verloben und Heirathen an ver Grenze VeS Urwaldes. Eine Plauderei au» dem Tolonistenleben in der deutsch-brasilianischen Colonie Dona Francisca von Wilhelm Rau. Nachdruck verboten. Unter dem Namen „Süd-Brasilien" begreift man die drei in der südlich gemäßigten Zone liegenden brasilianischen Pro vinzen oder Staaten ParanL, Santa Catharina und Rio Grande do Sul. Santa Catharina ist der kleinste dieser drei Staaten, etwas kleiner als das Königreich Bayern. Während aber Bayern trotz seiner zahlreichen Gebirgslandschaften mehr als 5 Mill. Einwohner zählt, hat Sa. Catharina trotz sehr großer Fruchtbar keit erst vielleicht etwas mehr als 230 000 Einwohner, darunter etwa 75 000 Deutsche. Dieselben bewohnen hauptsächlich das Flußgebiet des Jtajahy, wo die fast ganz deutschen Städte Blumenau, Badenfurt und Brusque als Mittelpunkte der Colo nisation entstanden sind, und dann besonders die Flußthäler des Cubatao, des Cachoeira und des Jtapocü, wo das freundliche Städtchen Joinville und das 800 Meter höher liegende Sao Bento die Hauptcentren bilden. Die Gesammtheit der letztge nannten Ansiedlungen begreift man unter den Namen Colonia de Dona Francisco, diese liegt im nordöstlichen Theil der Provinz unter dem 26. Grade südlicher Breite. Der Name „Dona Fran cisca" stammt von dem Namen der Schwester des Kaisers Dom Pedro II., die bei ihrer Vermählung mit dem Prinzen von Join ville diese Ländereien als Hochzeitsgeschenk erhielt. Diese, mit dichtem Urwald bedeckten Gebiete, wurden dann seit dem Jahre 1851 von Hamburg aus besiedelt, nnd so kann man jetzt meilen weit die mehr oder weniger guten Coloniestraßen, zu deren beiden Seiten die einzelnen Besitzungen immer einzeln neben einander liegen, entlang reiten oder gehen, und ist sicher, überall deutsche Ansiedler zu treffen, die in unermüdlicher Arbeit den einst diese Strecken bedeckenden Urwald meistentheils abgeschlagen haben und Wiesen, Felder, Gärten und Aecker dort entstehen ließen, wo noch vor zwei Menschenaltern flüchtige Indianer horden jagend umherschweiften. Hier wohnen sie, freie Herren auf eigenem Grund und Boden, die in keiner Weise belästigt werden, wenn sie sich nicht in die gefährliche Politik einstweilen einlaflen und klug jede Beleidigung deS leicht erregten Brasilianers vermeiden. Reich sind diese Ansiedler freilich nicht, aber sie be sitzen genug zum Leben bei fleißigem Regen ihrer Hände, treu ihr Deutschthum bewahrend und im Anschluß daran hier und dort eine eigenthümliche Sitte, einen besonderen Gebrauch pflegend. Nicht uninteressant aber möchte es für diejenigen sein, die noch etwas Zuneigung für ihre Landsleute in weiter Ferne besitzen, von deren Leben und Treiben dies und jenes zu erfahren, und so will ich heute einmal ein wenig vom „Verloben und Heirathen" plau dern, wie es hier an der Grenz« des Urwalde- bei den Colonisten getrieben und gehalten wird. Ehe sich „Zwei" verloben, verlieben sie sich natürlich, daS ist hüben, wie drüben. Sie lernen sich bei den Eltern oder Ver wandten, bei Taufen und Hochzeiten, bei Tanz und Spiel oder bei sonst einer Gelegenheit kennen, schauen sich in die blauen oder braunen Augen, finden aneinander Gefallen, bekommen sich immer lieber, bis „er" sich dann eines Tages erklärt und „ihr" Herz und Hand anbietet. Stammen sie Beide aus derselben Coloniestraße, dann haben sie zusammen schon auf den Bänken des kleinen Schulhauses gesessen, wie ein solches fast jede einiger maßen in Ordnung gekommene Coloniestraße besitzt, nennen sich seit frühester Kindheit „Du", und haben also nicht nöthig, diese erste Klippe im Meer der Liebe mit mehr oder weniger Anstand zu umschiffen. Nach manchem Schwanken und Gedanken, nach manchem Zö gern und Bedenken hält rr endlich bei den gestrengen Herrn Eltern um die Hand der „blondhaarigen Dirn" an. Jst's ein freund licher, fleißiger Bursch, der nicht Händel sucht und rauft, nicht trinkt und spielt, nicht den ganzen lieben, langen Tag fischt und jagt, dann hat es mit der Erlangung des Jaworts meistens keine Schwierigkeit. Die Vermögensfrage spielt dabei keine oder doch eine sehr nebensächliche Rolle. Die Colonisten sind alle keine reichen Bauern, obwohl es recht wohlhabende darunter giebt, und was sie geworden sind, sind sie durch harte Arbeit, durch redlichen, eisernen Fleiß geworden. Die Meisten haben viel Kinder, sechs, acht, zehn trifft man in den meisten Häusern, wie sich nach Pro fessor von Jhering's Berechnung überhaupt das Sterbe-zum Ge- burtsverhältniß fast 1:4 bis 1:6 für die hiesigen Colonien stellt. Da ist denn von „mitbekommen" auch nicht viel die Rede. „Fangt selber an", heißt es, „verdient euch etwas, dann habt ihr Etwas!" Man verlobt sich gewöhnlich gern an einem Festtage, grade wie drüben, oder am Geburtstag. Jeder Geburtstag wird über haupt möglichst gefeiert; die Geburtstage der Kleinen freilich nur in der Familie. Hat aber ein erwachsenes Familienmitglied seinen Geburtstag, dann werden Palmen an der Hausthür und an der Pforte, die in das rings umzäunte Grundstück führt, auf gerichtet, es wird Kuchen gebacken, gebraten und geschmort und am Abend kommen fast alle Nachbarn der gesummten Colonie- straße zusammen zur Feier, und da läßt sich denn bei Schmaus und Tanz so eine Verlobung am besten proclamiren. Die Brautpaare sind selten alt; „er" vielleicht 21—23 Jahr, das Mädchen 17 oder 18. Da die allgemeine Wehrpflicht in Brasilien nur auf dem Papier steht, ein thätiger Mann, der sich vor keiner Arbeit freilich scheuen darf (und jede Arbeit ist hier ehrenvoll) immer Beschäftigung findet, oder zu jeder Zeit sich leicht selbstständig machen kann, so hat dies frühe Heirathen keine allzugroßen Gefahren. Mit den Kindern werden nach unseren Begriffen herzlich wenig Umstände gemacht. Ein Hemdchen und Röckchen ist ihr Hauptanzug, Schuhe und Strümpfe spielen bis zum 14. Jahr selbst in Joinville fast gar keine Rolle, auch bei den besten Stadtleuten, und bei dem milden, freundlichen Klima sind bösartige Kinderkrankheiten fast ganz unbekannt. Die Impfung ist eine unbekannte Einrichtung, ebenso wie jede Verzärte lung. Das Kind muß frühzeitig arbeiten lernen und ersetzt Knecht und Magd in den meisten Fällen. Nach der Verlobung geht es mit schnelleren oder langsameren Schritten der Hochzeit entgegen. Der junge Mann zieht gewöhn lich die Coloniestraßen entlang bis dahin, wo der „echte" Urwald noch dicht an die letzten, vorgeschobenen Hütten heranreicht. WaS dem neuen Colonisten von drüben Rufe des Schreckens abnöthigt, wenn er diese Waldüppigkeit vor sich sieht, wo nur mühsam der Fuß Vordringen kann, das ist dem Colonistensohn nichts Neues; er weiß, daß dem hartnäckigen Fleiß kein Wald zu dicht ist, er weiß, daß rr Zeit, viel Zeit brauchen wird, ehe er den Pflug einmal anwenden kann, daß er manchmal mit karger Kost vorlieb nehmen muß, aber so ist es Vater und Großvater auch gegangen, warum soll es ihm besser gehen? Von der Regierung, falls diese, oder von einer Colonisationsgesellschaft, falls jene die noch Hunderte von Quadratkilometern betragenden Urwaldsländereien besitzt, erwirbt er nun ein eigenes Grundstück, 50 bis 100 Morgen groß, den Morgen mit 4 bis 6 Mark bezahlend. Die Kaufsumme kann in monatlichen, ja jährlichen Raten nach und nach abge tragen werden, und die Eltern geben nichts oder nicht viel dazu, weil sie meinen, es sei besser für die jungen Leute, es gründlich zu lernen, wie schwer Geld und Eigenthum sich verdient, damit sie es dann um so höher schätzen. Allein oder mit Hilfe von ein paar Freunden, oder falls er es kann, mit Hilfe weniger, sehr schwer zu bekommender Arbeiter, schlägt der Anfänger nun wochenlang Wald, um eine Lichtung zu schaffen für eine Hütte, eine Viehweide und für eine Roqa (Rosse), d. h. Pflanzstätte. Mancher freilich kauft auch schon ein bearbeitetes „Colonielos", wo sich Haus, Weide und Pflanzstätte darauf befindet und er hat es dann freilich leichter, aber auch theurer. Das können natürlich nur die „Reichen", und selbst diese haben cS schwer, etwas zu bekommen, denn Jeder sitzt auf seinem Lande fest bis zu seinem Tod. Wer nicht in die Stadt zieht als Handwerker, der wird wieder ein freier Grundbesitzer, denn Landes giebt es noch genug für Tausende und Abertausende, und von Jahr zu Jahr schiebt sich die Cultur vor, den Urwald lichtend und vernichtend. Eine der ersten Aufgaben des jungen Anfängers ist es nun, sich eine Hütte zu bauen aus Balken, Bret tern und Stangen, einfach und schmucklos, mit den Blättern einer Palmart gedeckt, eine primitive Küche daran und ein kleiner Back ofen. Kaffeebäume und Orangenbäume werden gepflanzt und in den noch mit Baumstümpfen bedeckten Boden Kartoffeln, Mais, Reis und Gartengemüse zur ersten Nahrung gesteckt und ge pflanzt. Hühner und Enten werden angeschafft, ein Hund, der den Beutelratten auf die Pfoten sieht, eine Katze und eine pri mitive Büchse zur Jagd von Waidwild und Ungeziefer. So haben die ersten Colonisten angefangen, so fahren die Söhne fort. Heiße, harte Arbeit wird es die ersten Jahre kosten, ehe ein ordentliches Stück Pflugland geschaffen ist, ehe etwas erübrigt wird, aber die Colonistenkinder sind von Jugend auf an uner müdliche Arbeit gewöhnt, ungehalten worden, sich Stuhl und Tisch selbst zu zimmern, barfuß über Steine und Dornen zu laufen, und dann geht's schließlich doch vorwärts; aus der Hütte wird ein Haus, aus der Roca Pflugland, und nun hat der Mann erreicht, was er will; er nennt ein Grundstück sein eigen, auf dem er es zu behäbigem Wohlstand bringen kann durch unermüdlichen Fleiß, Nüchternheit und Sparsamkeit. Nun kann die Hochzeit vor sich gehen. Schon wochenlang vorher reitet ein Bruder, ein Verwandter oder ein guter Freund auf mit bunten Bändern und Blumenguirlanden geschmücktem Pferd von Hau» Hu Hau» und ladet zu Gaste. Und auch die Aermeren können eine große Hochzeit machen, denn jeder Geladene ist verpflichtet, dazu beizusteuern, so will es die Sitte. Der eine schickt Hühner, der Andere Eier, der ein Schweinchen, der Mehl und Butter, der Schmalz und Speck, der Oorangenwein und Zucker schnaps. Noch findet man wenig von Stolz und Absonderung, sie Alle erinnern sich, daß sie einst als Tagelöhner, als bescheidene Handwerker, als Knechte und kleine Bauern hierhergekommen sind und zusammengehören. Auf der Hochebene, wo ebenfalls Tausende von Deutschen wohnen, steuern die Gäste anstatt der Eßwaaren oft Geld bei, und bei der Einladung heißt es gleich, es kostet so und so viel. Das ist freilich nur draußen auf der Colonie so Sitte, nicht in der Stadt, wie Joinville selbst, doch ist es hier vielfach noch üblich, daß zum Polterabend Jeder kommen darf, der will, nur muß er ein Geschenk mitbringen, und so kommt es, daß oft Hunderte von Personen zum „Gratuliren" kommen, dann freilich mitcssend, mittrinkend und mittanzend. Doch verschwindet diese Sitte mehr und mehr, die noch aus vergangener Zeit stammt, wo sich auch die Stadtleute noch als eine große Familie betrachteten und sich noch nicht so große Verschiebungen in den Vermögensver- hältnisscn herauSgebildet hatten. Am Hochzeitstag nach der standesamtlichen und allgemein üblichen kirchlichen Trauung geht dann ein buntes Durcheinander im Brauthaus an. Von der kleinen Kirche oder dem als Beelsaal dienenden Schulhaus bezieht sich das Brautpaar auf reich geschmücktem Wagen nach Hause. Junge Burschen mit Bändern und Blumensträußchen an Hut und Stock jagen auf ihren Pfe: den vorn und hinten mit schrillen Juchzern herum, brennen knallende Raketen ab, schießen mit Büchsen und Pistolen. An der Thür des Brauthauses empfängt der Brautvater das junge Paar und kredenzt ihnen Brod, Salz und ein Glas Orangen wein. Die Braut nimmt von Allem zuerst, tritt auch als Erste in das Haus, denn „sonst bekommt sie es schlecht in der Ehe". Dann wird das Paar an den Ehrenplatz geführt, der mit Rosen, Palmenwedeln und allerlei Blumen geschmückt ist, ebenso wie das ganze Haus, besonders Thür und Grundstückspforte. Nun geht es ans Schmausen und Trinken, und da viel mehr Gäste gewöhnlich da sind, als Raum vorhanden ist, so wird „kolonnenweise" Hochzeitsmahl gehalten. Nach dem Essen wird dann ausgeräumt und zu den Klängen einer Harmonika, des hier weitverbreiteten Instruments, getanzt, trotz der oft großen Hitze und der Anstrengung mit bewunderungswürdiger Ausdauer und mit ungezügelter Seelenfreude. Die Braut muß mit jedem der leichtbeschwingten Göttin huldigenden Gast einmal tanzen, ebenso der Bräutigam mit jeder anwesenden Frau und jedem Mädchen. Dazwischen wird wieder Kaffee getrunken und von Neuem ge- gegessen und so geht es gewöhnlich zwei, drei Tage hintereinander fort, bis Alles verzehrt ist, was an Essen, Trinken und Rauchwerk vorhanden war. Das junge Paar bleibt noch mehrere Tage im Elternhaus, packt dann die oft recht kleine Ausstattung auf Wagen, die Brant bekommt gewöhnlich eine frischmelkende Kuh, der Bräutigam ein Pferd geschenkt, und dann ziehen sie hinaus an die Grenze drs Urwaldes, nun zusammenschaffend, arbeitend, entbehrend mit deutscher Hartnäckigkeit und Ausdauer, ihre Kinder groß ziehend, bis auch sie die erste Tochter verheirathen, in gleicher Weise Hochzeit fiiernd, wie sie selbst einst Hochzeit feierten.
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