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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.02.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-02-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980224025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898022402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898022402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-02
- Tag1898-02-24
- Monat1898-02
- Jahr1898
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Lft Morgen-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr. die Abend-Ausgabe Wochentag- um ü Uhr. Filialen: Vtt» Klemm'» bortim. (Alfred Uuivrrsitätsskrahe 3 lPauliuom), Sollt» Lösche, KoHoriumstr. 14, parL und NSnigsplLd 7. Nedaciion und Lrveditio«: Iohanne-gaffe 8. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöfiuet von früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. VezugS-PreiS ich h« Huuptrxpedttton oder den tu, Stabt« beiirk und den Bororten errichteten Ao4- oabestrllrn abgrholt: vierteljährlich ^l4.S0. vei zweimaliger täglicher Zustellung inS Hau» 0.^0. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich ^ll . Dirrcie tägliche Kreuzbandiendung tu« Ausland: monatlich 7üO- Abend-Ausgabe. UeMM Tagtblalt Anzeiger. Amtsblatt des Aoniglichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und Nolizei-Nmles der Ltadt Leipzig. AuzelgertePreiD Vr -gespaltene Pctitzeile 20 PsA Mrclamea unter demRedaction«strtch (4GM spalten) öO-H. vor den ^amiliennachrichta» (6 gespalten) 40 ch. Größere Schriften laut unsere« Preis verzeichnis. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höher»« Taris. Ertra «Beilagen lgrfalzt), nur «ft detz Morgen. Ausgabe, ohne Postbrfördern»»' SO.—, mit Postbefürderung 70.—. AnnahmeschluK str Anzeigen: Abeud-Ausgabe: Bormittag« 10 Uhr. Biorgr»«Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein, halbe Stund« früher. Anreise« sind stets an die Expeditton zu richten. Drnü »,d Verlag von L. Pol» in Leipzig 82. Jahrgang.^ Donnerstag den 24. Februar 1898. Die Verurtheilung Zola's. —l». Endlich! Das Urtbeil im Zola-Proceß ist ge sprochen und die fünfzebntägigen Verhandlungen deS Schwur gerichts, die selbst in Frankreich zu ermüden begannen, sind am Ziele. Daß dieses nur die Verurtheilung Zola's sein tonnte, sagten wir vorauS; eS lag in der Natur der Sache, da eS dem Verfasser des Artikels „z'aoonse" unmöglich war, den juristischen Beweis dafür zu erbringen, daß das Militair- gericht, welches Esterhazy freisprach, dies, beeinflußt von dem ersten Repräsentanten der Armee, gethan habe, um eine Revision des Dreyfus-ProcesseS zu verhindern. DaS war eine schwere Anklage, daß sie zu beweisen wäre, glaubte Zola wohl selber nicht, ihm kam eS nur darauf an, den Schleier von dem Geheimniß deS Dreyfus - Processes so viel wie möglich zu heben und die Revision bereits im Saale deS Schwurgerichts zu beginnen. War daher seine Verurtheilung nothwendig, so hatten die Freunde Zola's doch schwerlich vermutbet, daß daS Gericht über den heroischen selbstlosen Winkelried der Wabrhcit ob ne Zu erkennung mildernder Umstände die höchste zu lässige Strafe von einem Jahr Gefänzniß und 3000 Francs Geldbuße verbängen würde. Wie wir nicht mebr in der gesummten Auslage des heutigen Morgen blattes mittheilen konnten, wurde auch Clemenceau, der Her ausgeber ter „Aurore", in welcher der offene Brief Zola'S er schienen war, verurtheilt und zwar zu vier Monaten Ge- sängniß und gleichfalls 3000 Frs. Geldstrafe. Die Strafe ist hart für Zola, um so härter, als sie einen der ersten Vertreter des geistigen Frankreichs, einen hochbegabten, einst von den Fran zosen vergötterten Dichter und den mutbigen Anwalt der Wahrheit in einer Sache trifft, die, wie die Verhandlungen unumstößlich ergeben haben, die MilitairgerichtSbarkeit der französischen Republik unter dem wohlbegründeten, bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit gesteigerten Verdacht zeigt, einen vielleicht Schuldigen in ungesetzlicher Weise verurtheilt, also das Recht gebeugt zu haben. Von rein juristischem Standpunkt hätte daS Schwurgericht sehr Wohl zu einem milderen Strafmaß gelangen können, aber eS war, wie alle Welt in Frankreich — ausgenommen die Freunde des ExhauptmannS DreyfuS — unter dem Banne deS Losungswortes: „Keine Revision, sonst kommt die Republik in Gefahr, die Revision bedeutet den Krieg." Die Revision des DreyfuS-ProcesseS wäre aber un umgänglich gewesen, wenn das Schwurgericht Zola nur gleichfalls pro korma verurtheilt und damit anerkannt hätte, daß er nicht blos guten Glaubens gewesen sei, sondern auch, daß bei der Verurtheilung des DrehfuS nicht Alles zugegangen sei, wie es Rechtens ist. Das ist der Fluch deS TrpSrop yiküäo? der prim» culpa deS ganzen DrehfuS-HandelS. Die Folge eines Freispruchs oder eines gnam-Frei- spruchs mit der Revision im Gefolge hätte allerdings unter Umständen von verhängnißvollen Folgen für Frank reich sein können, wenn wirklich die an die Herausgabe deS geheimen Schriftstückes geknüpften Befürchtungen eine reale Basis haben und nicht vielmehr das ängstliche Be streben, eine Ungerechtigkeit nicht ans Licht kommen zu lassen, die Decke über dem Geheimnisse des Processes vom Jahre 1894 krampfhaft festhält. Aber welches werben die Folgen der Verurtheilung Zola's sein? Hören wir zunächst, welchen Eindruck die Verkündigung deS UrtheilSspruches gemacht. Man berichtet uns darüber: * Pari-, 23. Februar. Die Berathung der Geschworenen dauerte eine halbe Stunde. Als verkündet wurde, daß sie die Schuld« fragen ohne Zubilligung mildernder Umstände bejaht hatten, ries Zola: „Das sind EannibalenI" Das Publicum klatschte frenetisch Beifall und rief: „Hoch die Armee, Nieder mit den JudenI" Der Beifall wiederholte sich, als der Gerichtshof die Strafabmessung bekannt gab. Mehrere Personen, darunter Labori und der Herausgeber der „Aurore", umarmten Zola. Im Saale, der sich nur langsam leerte, aus den Gängen und vor dem Justizpalast kam es zu stürmischen Kund« gedungen. Hochrufe auf die Armee durchbrausten die Luft untermischt mit Rufen: „Tod den Juden!" Die Ofsickere wurden jubelnd begrüßt, einzelne wurden wie im Triumphe von der Menge empfangen. An einzelnen Stellen kam es zwischen den Anhängern der beiden Parteien zu Prügeleien. Der Secretair des Leiters der städtischen Polizei wurde leicht verwundet. Zwei Personen wurden verhaftet. Als die Menge vor dem Justizpalast gegen 7 Uhr erfuhr, daß die Jury alle Schuldsragen bejaht habe, und dann, als das Urtheil bekannt wurde, wurde sie von einem wahren Taumel ergriffen. Immer wieder er schollen Hochrufe auf die Armee, sie übertönten die Rufe: „Nieder mit Zola!" Um 7 Uhr bOMin. verließ Zola den Justiz palast. Ein gewaltiges Getöse erhob sich; durchdringendes Pfeifen und der Nus: „Nieder mit Zola!" empfing ihn. Man wollte hinter seinem Wagen herlaufen, aber die in großer Menge ausgestellten Polizeimannschaften schützten Zola. Als die Zeitungen auf den Straßen ausgerufen wurden, fiel die Menge, die alle Wege zum Justizpalaste füllte, im Sturm darüber her. In der Rue de Bruxelles und in der Umgebung der Wohnung Zola's hatte die Polizei umfassende Sicherheitsmaßregeln getroffen. Als dort Las Berdict der Geschworenen bekannt wurde, fanden sich viele Besucher iu der Wohnung Zola's ein; die Dienerschaft theilte aber Allen mit, daß Zola heute bei einem Freunde dinire. WaS wird auS diesem ChaoS werden? Wird der Taumel, der ganz Paris erfaßt hat, sich wieder geben? Frankreich ist daS Land der schroffen Gegensätze. Mit der böchsten Erregung der Gemüther wechselt rasch die Ernüchterung, und so werden auch die hochgebcnden Wogen des Zola-ProcesscS sich zunächst beruhigen. Aber sie werden mancherlei am Strande zurücklassen. Zunächst einen in bedrohlichen Dimensionen gesteigerten Judenhaß, der sich nicht bloS auf Paris beschränken, sondern den Ruf: „Nieder mit den Juden!" auch in die Provinzen tragen und vor Allem iu Algerien die Brandfackel von Neuem entzünden dürfte. Kommt eS zu fortgesetzten Judentumulten, Verfolgungen, Plünderungen und Brandstiftungen, dann ist eS Zeit für die Elemente des Umsturzes. Sie warten nur aufi ein allgemeines Durch einander, aus dem aber aller Voraussicht nach nicht sie, sondern die Diktatur siegreich hervorgeben wird. DaS wird ja die andere Folge des Zolaprocefses sein: ein mächtig steigender Einfluß der Armee und des MilitariS- muS in Frankreich, den die Republik nicht mit Unreckt bisher als ihren Todfeind angesehen hatte und der um so bedenklicher sein wird, als er sich nicht auf neue Beweise von der „un befleckten Ehre" der Armee und ihrer Führer stützen kann, I sondern hingenommen wird trotz deS geminderten Prestiges derselben und trotz der Gefahren, deren man sich von ihnen versehen muß, hingenommen lediglich dem Abgott Chauvinis mus zu Liebe. Auch dieser, der glühende Haß gegen Deutschland, bat aus der Erregung der letzten Monate, der Action der DreyfuSfreunde und der Gegenaction ibrer Widersacher, dem Esterhazy- und dem Zola-Proceß neue Nahrung gezogen. Ja, er ist — daS drängt sich Einem unabweislich auf — das eigentliche Agens in dem ganzen Taumel, der die Mehrzahl der Franzosen erfaßt und in daS Lager der recklsbeugenden Staats- und Militairgewalt getrieben hat und darin festhält. Wir sahen ja, wie dieser Thatsacke selbst der Ver- lheidiger Zola's Rechnung zu tragen genöthigt war. „Hoch die Armee!" ist in Frankreich heute mehr denn je synonym mit „Nieder Deutschland!" und „ä Berlin !" Der große Tag der Gefahr, der Tag der Rache ist nicht fern, daS schreiben nicht blos mehr die von den Leidenschaften deS Publicums der Gasse und der Kneipe lebenden Revanche- Blätter, Vas hört man aus dem Munde der Generale und GerichtSherren in einer Verhandlung, auf welche die Augen der halben Welt gerichtet waren! Alle diese treibenden Elemente, die an Kraft und Actions lust bedeutend gewonnen haben, zusammen genommen, werden dafür sorgen, daß, wie Clemenceau in seinem überzeugenden Plaidoyer sagt, das Uebel verlängert wird, unter dem Frankreich leidet. Sie werden die Republik nicht zur Ruhe kommen lassen und dies umsoweniger, als man voraussehen darf, daß die Dreysus-Partei und mit ihr die Elite Frank reichs sich nicht geschlagen geben, sondern das Recht weiter verfolgen wird, selbst wenn die Familie Dreyfus die Hoffnung aufgeben sollte, den Deportirten nach Frankreich zurückkehren zu sehen. Die Namen Dreyfus und Zola sind zu Partei- SchidbolethS geworden. Alle werden sie auf ihre Fahne schreiben, die mit der Regierung unzufrieden sind und ein Interesse an ihrem Sturze haben. Jetzt, wo man das Vaterland in Gefahr glaubt, ruft es aus allen Lagern: „Ocmgpuer Avis!" und „Nieder mit den Juden!" Wenn aber die Gefahr wieder verflogen ist, die Parteileiden schaften ihr? entzweiend: Arbeit wieder beginnen und der Sturmlauf gegen die Regierung wieder anhebt, bann werden dieselben Rufer die Namen Zola und Dreyfus der Regierung als Menetekel an die Wand schreiben und aus ihnen eme schwere Anklage zusammenschmieden. Paris ist heute ruhig, aber wenn nicht Alles trügt, ist es die Ruhe nach dem Sturm, der nur Athem holt, um mit verstärkter Gewalt ein zusetzen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 24. Februar. Von der Redaction der „Deutschen Tageszeitung" in Berlin geht unS folgende Zuschrift zu: „Hochverekrte Redaction! Im Leitartikel Ihrer Sonntagsnummer findet sich folgende Stelle: „Die „Deutsche Tageszeitung", das Organ Les Bundes, hat noch am 7. December vorigen Jahres die conservative Partei als unter der Führung von Partei- Mitgliedern stehend geschildert, die „mittelstandSfeindlich seien und Antisemiten wie Conservative für die Bekämpfung mancheslerlicher und kommunistischer Candidaturen unschädlich zu machen" trachteten." Wir erklären, daß wir weder am 7. December vorigen Jahres, noch an irgend einem anderen Tage diese oder irgend eine ähnliche Aeußerung veröffentlicht haben. Sie haben wodl die Freundlichkeit, Ihre Leser über den Jrrthum und seine Entstehung auszuklären, so Laß wir auf die Forderung einer preßgesetzlicheir Berichtigung verzichten können. Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst die Leitung der „Deutschen Tageszeitung" vr. Georg Oer tri." In dieser „Berichtigung" ist nur ein Punct nicht unrichtig: nicht am 7. December v. I., wie uns ein Versehen sagen ließ, sondern am 4. December desselben MonatS und Jahres bat die „Deutsche Tageszeitung" Conservative als Gegner der mittelstandsreundlichcn conservativen Politik und, wie wir ergänzen, als Gegner deS conservativen Parteiprogramms denuncirt. Es geschah in einer Polemik gegen die „Cons. Corr.", die nickt genannt war, die aber der Zusammenhang unverkennbar als gemeint zeigte und die unmittelbar vorher die Leitung des Bundes aufgefordert hatte, mit der mittel baren oder unmittelbaren Unterstützung antisemitischer Sonder- candidaturen in conservativen Wahlkreisen innezuhalten und insbesondere gegen die „Deutsche Tageszeitung" einzuschreiten, weil diese die Antisemiten gegen die Conservativen begünstige. Die „Cons. Corr." und ihre Inspiratoren gehören bekanntlich dem conservativen Lager an. Die „Deutsche Tageszeitung" hat auch, als wir und andere Blätter ihre Angriffe als gegen Conservative gerichtet erwähnten, wohlweislich geschwiegen; sie hat nicht mit einer Silbe Einspruch erhoben, als wir im Leitartikel unserer Morgenausgabe vom 7. December sagten: Das direct von Herrn v. Ploetz abhängige Blatt schildert die Erklärung der „Cons. Corr." als daS Werk von conservativen Parteimitgliedern, die Gegner des conservativen (Tivoli-)Programms seien und beabsichtigten, für die nächsten Reichstagswahlen die Kräfte der „deutschsocialen" und der conservativen Partei zu einem guten Theile gegen einander zu rngagiren und somit für die Bekämpfung manchesterlicher Candidaturen unschädlich zu machen. Jetzt — nach zehn Wochen — hat die „Deutsche Tages zeitung" entweder vergessen, wa» sie am 4. December schrieb, oder sie glaubt aus unsere Vergeßlichten und auf die der Conservativen rechnen und nach dem Satze „si koeisti', ucxa" handeln zu können. Jedenfalls müssen wir jetzt von der Freundlichkeit des Blattes, das seinen Lesern den Inhalt des an unS gerichteten Briefes unter der Ueberschrist „Wieder ein Stückchen des Leipziger Tageblattes" mittbeilt, erwarten, daß eS diese Leser über seinen eigenen Jrrthum und dessen Entstehung aufklärt, so daß wir auf die Forderung einer preßgesetzlichen Berichtigung verzichten können. Während,wie auS dem Vorstehenden sich ergiebt,die„D rutsche Tageszeitung" und ihr Leiter auS naheliegenden Gründen mit den dem Sammelrufe der Regierung folgenden Conser vativen wieder auf guten Fuß zu kommen sich bemühen, hält die „Korrespondenz des Bunde» der Landwirthe" eS für zweck mäßiger, den Conservativen klar zn machen, daß sie bei der Bundesleitung auf Unterstützung und Freundschaft nur dann zu rechnen haben, wenn sie sich der BundeSleitung und ihren Forderungen völlig unterwerfen. Die BundeScorrespondenz stellt nämlich fest, daß das vsficiöse „W. T.-B." bei seiner Berichterstattung über die letzte Generalversammlung des FerrZHetsn. Durch eigene Kraft. 10j Roman von Alexander Römer. Nachdruck verboten. Später entdeckte sie, daß sie schon recht vertraulich mit dem Sohn des Krugwirths stehe, und fragte sich ernsthaft, wie sie ihn eigentlich fände. Sie hatte es nicht lasten können, ihm noch nachzublicken, heute Morgen, so lange sie seine Gestalt erblicken konnte, er war ein sehr stattlicher Mensch. Er hatte Etwas — ja. Etwas, was ihn heraushob aus der Menge. War es seine Stimme, welche so weich und voll klang, waren es seine klugen, guten Augen? Seit ihrem gestrigen Zusammentreffen mit ihm war sie inner lich nicht gang zur Ruhe gekommen. Die todte Einförmigkeit war unterbrochen, und jetzt gab ihr das Gespräch mit Fräulein von Eichsfeld wieder neuen Stoff zum Denken. Sie saß mit heißen Wangen beim Abendbrod und lauschte Mariannens kurzen Bemerkungen über den Besuch, wie: „Ja, reden kann sie, sie kann überhaupt Vielerlei, und vielleicht kapert sie sich den Vetter Baron, obgleich der auf beiden Ohren gebrannt ist. Die Mannsleute wissen Heuer auch bald, waS solch «in Mädel wiegt." „Ist Fräulein von Eichsfeld nicht nett, Tante?" fragte Ottilie schüchtern. „Ach, Kind, Du brauchst noch nicht hinzuhören, wenn wir so etwas unter uns sagen. Das gnädige Fräulein gehört zu der Herrschaft, und wir kümmern unS nicht um deren An gelegenheiten." In Ottiliens jungem Hirn tummelte sich viel buntes Zeug durcheinander. Sie träumte in dieser Nacht von einem un garischen Magnaten in Nationalcostüm, vor dem si« einen Tanz aufführen sollte, bis Claus Hartwig, der Maler, in seinem langen Nock und seinen weiten, aufgerempelten Hosen sie im Arm hielt und sich mit ihr drehte, und Ludwig Herdemann'« strenges, «rnsteS Gesicht auf sie niederblickte. Zehntes Capitel. Das Herrenhaus lag wieder öd«, die Fenster waren verhangen, die Läden geschlossen. Die kurzen Wochen, während welcher di« Herrschaft anwesend gewesen war, hatten nur Unruhe und Wirrwarr und die Wirtschaft aus dem Gl«s« gebracht. Jetzt führte der Inspektor wieder unumschränkt sein Regiment und klagte nach wie vor, daß das nach den Anforderungen der Neuzeit zum B«triebe nothwendige Geld niemals vorhanden, daß die Ernte wieder auf dem Halm ver kauft worden wäre, und der Berliner Haushalt unglaubliche Summen verschlänge. D«r Baron hoffte auf neue Gesetze, Kornzölle, Erfolg« der landwirthschaftlichen Vereinigungen, welche die Preise in die Höhe treiben und ihm reichere Erträge aus .dem Familiengute schaffen sollten. Die Regierung konnte ihre Großgrundbesitzer in so schweren Zeiten nicht im Stiche lasten. „Ja, schwere Zeiten", wiederholt« der alte Heidemann dann und zwinkerte mit den Augen, was seinem faltig«n Gesicht ein pfiffiges Aussehen gab. Der abgewirthschaftete Gutsbesitzer von Erlenmoor, Herr Fritz Röpke, hatte feine Abschiedsbesuche bei seinen früheren Nachbarn gemacht und kehrt« nun als einfacher Rentner ohne Renten bei seinen Schwestern in Heßbach ein — auf unbestimmt« Zeit. Er sah nicht gerade kummervoll und verfallen aus. Er kam des Morgens spät herunter und frühstückte ausgiebig; die gute, von Frau Heidemann bezogen« Buttrr mundete ihm, und sie war das Einzige, waS er an der Kost, welche die Schwestern ihm vor setzten, rühmte, daher der Consum derselben auch auf das Drei fache des bisherigen wuchs. Auch Mittag? entwickelte er einen gesunden Appetit, hatte aber täglich allerlei auSzusehen. Er konnte das viele Schweinefleisch nicht vertragen, und die zusammen gekochten Gerichte gehörten auf einen Leute-, nicht auf den Herrentisch. Brummend und halblaut wurden diese Bemerkungen gegeben, welche Liesa unruhig machten. Sie stand oft auf dem Sprunge, etwa» Anderes, besonders für den Bruder, zu holen, aber ein finsterer Blick aus Mariannens Augen wehrte ihr. „Ich würde an Deiner Stell« hier auch nicht vorlieb nehmen", meinte diese trocken, „ich wußte von vornherein, daß Du es nicht lange bei uns aushalten würdest." Er sah sie dann schielend von der Seite an, pustete, trank sein Bier und leerte feinen Teller. „ES steht ja bei Euch, mich bald los zu werden", bemerkte er nach längerer Pause. Solche und ähnlich« Reden, wie sie sich mit geringer Ab wechslung wicherholten, blieben stets unbeantwortet. Für Ottilie waren diese häuslich« Scenen eine große Qual. Ihr feines Gefühl ward täglich verletzt, und, herauSgerissen au« der Gedankensphäre, die ihrem Alter angemessen gewesen wäre, lernte sie früh reifer urtheilen. Sie schämte sich des Vater», und Tante Marianne, so fern sie ihr auch blieb, fing an, ihr zu im- poniren. Die feste, steife Ruhe derselben hatte etwas Großartiges. Den größten Theil des Tages verbrachte der alte Röpke im Krug oder bei dem Jnspector des Gutes, mit dem er auf dem Feld« umhertrabt«, ungeheuer klug redete und Rathschläge für eine Musterwirtschaft, wie er sie einrichten würde, ertheilt«. Die Tag« wurden immer kürzer und rauher, der Winter rückte ein. Marianne und Liesa waren sehr beschäftigt, die Winter- vorräthe zu bergen, die großen Herbstwäschen zu halten, und hatten den ganzen Tag zu thun. Vergebens bat Ottilie, mit helfen zu dürfen. Liesa sah mitleidig auf ihre feinen Hände und er klärte, die würden beim Schälen des Obstes, das zum Dörren in den Ofen gebracht wurde, gründlich verdorben, und der Vater, der zufällig zugegen war, dictirt« mit Entschiedenheit: „Da bleibst Du hübsch davon, das ist nichts für Dich, Hände wie eine Magd sollst Du Dir hier nicht holen." So war sie ganz auf sich allein angewiesen, wußte oft nicht, was beginnen, und fühlte sich sehr elend. Sie sah zum Er schrecken blaß aus, ihr Magen vertrug auf die Länge die derbe, ungewohnte Kost nicht und körperliche und seelische Leiden ver einigten sich, ihr das Dasein unerträglich zu machen. Ludwig Heidemann war sie s«it jenem Nachmittage, d«r nun schon Wochen hinter ihr lag, nicht wieder begegnet. Es schien ihr, als wiche er ihr aus, und in ihrer Einsamkeit, wo ihr so viel Zeit zum Grübeln blieb, nagte es an ihr, daß sie den guten Menschen, den Einzigen, der warme Theilnahme für sie gehabt hatte, vielleicht verletzt habe. Dennoch vermochte sie es nicht über sich zu bringen, in den Krug zu gehen und sein« Mutter aufzusuchen. So lange das Welter irgend erträglich war, streifte sie viel draußen umher. Das Terrain war jetzt frei für sie, in den Parkanlagen wandelte es sich schön, und oft wagte sie sich weit in den dahinterlieg«nden Wald hinein, wo eS auch bei stürmischem Wetter still war, wie in einer Kirch«. Freiheit ließ man ihr, man beschränkte sie in keiner Weise. Es war schon im November, im Hause war großer Waschtag, ein schauerlicher Seifendunst verbreitete sich durch alle Räume und erregte Ottilien, welch« sich schon lange nicht mehr recht wohl gefühlt hatte, Uebelkeit. Obgleich der Himnwl sehr grau und düster aussah, lief sie gleich nach dem Mittagessen hinaus, und da es in den Tagen vorher geregnet hatte, so fürchtete sie mit Recht, daß die Waldweg« unpassirbar sein würden. Sie blieb also auf der Fahrstraße und eilte im Geschwindschritt vorwärts, vom Wind« umbraust und des Wetters kaum achtend. Ihr Kopf war heiß und zermartert von wirren Gedanken. Si« mußte einen Entschluß fasten, irgend etwas beginnen, sagte sie sich. Das lebensprühende Gesicht des Fräulein von Eichseld mit den strahlenden, ihr in der Erinnerung oft dä monisch vorschwsbenden Augen verfolgte sie. „Dreist Mieten und fordern, was uns«r Recht ist", klang es vor ihren Ohren. Ach, die hatte es verstanden, das war eine andere Natur, — überdies, ihr war Erlösung gekommen durch die Tante Baronin, aber wie sollte sie es cmfangen, diesen Ver hältnissen zu entfliehen? Mit dem Vater war darüber nicht zu roden, sie hatte es versucht. „Bist verrückt", war seine Antwort gewesen, „Erzieherin werden, Stelle suchen, dummes Zeug. Einstweilen bist Du hier gut aufgehoben, warte ab, was die Zeit bringt. Du hübsches Ding wirst hier nicht ewig bleiben. Ich muß nur erst meine Angelegenheiten ordnen, — für mich findet sich ja Hunderterlei — wollen schon wieder obenauf kommen — Geduld, nur Geduld!" Sie schwieg dann natürlich, aber sie glaubte nicht an die hunderterlei Ding«, di« kommen sollten für ihn und für sie. Der Wind war schneidend, und si« fühlte sich plötzlich sehr müde. Zum Ueberfluß sing es auch an zu schneien. Sie kehrte um und ging den Weg zurück. Aber nun blies der Sturm ihr doll ins Angesicht und das Schneien nahm zu. Jmmrr dichter fielen die Flocken auf ihr dünnes Jäckchen — sie hatte das wärmere für dm Winter nicht einmal angezogen, weil es ihr für den Alltag hier, wo Niemand sie sah, zu gut gedünkt. Es fing sie an zu fri«ren, ihre Glieder erstarrten förmlich, der Wind zerschnitt trotz des Schleiers ihr Gesicht, und ihre Füße waren wie Bl«. Der Schnee zerschmolz rasch auf der nassen Straße, der Boden wurde immer schlüpfriger, sie hatte «s gar nicht bemerkt, daß sie sich so weit vom Hause entfernt«. Endlich — waren das nicht die Linden vor dem Kruge, deren kahle Aeste da schwarz emporragten? Gottlob! Sic fühlte, daß ihre Kräfte zu Ende gingen. Ja, es waren di« Linden, aber di« Strecke bis dahin dehnte sich endlos, sie keuchte und schlich nur noch, vollständig erschöpft lehnt« sie sich an den Stamm des Baumes, als sie ihn endlich erreicht hatte. Es war stockfinster, sehnsüchtig sah sie «mpor und versuchte daS Dunkel zu durchdringen, um zu entdecken, ob die Bank da oben vor der Thür noch stand. Sie fühlte sich so schwindlig — lvenn sie nur einen Augenblick ruhen könnte! Da öfftnete sich über ihr die Hausthür des Kruges, ein Lichtschein fiel herunter, sie gab einen schwachen Laut kund. „Ist da Jemand?" rief «in« Stimme. „Ich bin eS —" Ottilie schleppte sich die Stufen hinauf, sie hatte nur einen
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