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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.01.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189801307
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18980130
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18980130
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-30
- Monat1898-01
- Jahr1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.01.1898
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Diejenigen Elemente, auf die eö für einen deutschen Kaiser und eine deutsche Regierung überhaupt ankommen kann, sehen ausnahmslos mit Befriedigung den unwohnlichen und gefahrdrohenden Bau des neuen CurseS allmählich abtragen. Auch der Erlaß des Kaisers über die Ruderübung der Schüler bildet einen Tbeil dieser Arbeit, deren Fortführung und Beendigung im Schulwesen Ellern und Lehrer sehnlich erwarten. Ein beachtenswerther Vorgang des 27. Januar ist es weiter gewesen, daß der Präsident des Reichstags, der bekanntlich aus dem Eentrum bervorgegangene Freih. v. Buol-Berenberg, in seinem Trinkspruch auf den Kaiser im Hinblick auf nothwendige und etwa noch nothwcndig werdende Rüstungen den Grundsatz: 8i vis pacew, para bellum einen „bewährten" genannt hat. Hoffentlich bewährt sich bei der Entscheidung über die zur Sicherung des Friedens einzebrachte Marinevorlage auch die Partei des Frhrn. v. Buol. Unerfreuliches hat der osficiöse Telegraph in die Geburtstagsfeier bineingebracht, indem er durch die Verbreitung des langatbmigen Wortlautes einer Adresse des ungarischen „Landes-Nationalverbandes" an den deutschen Kaiser behelligte. Wer dieser Verband ist und was er will, weiß man. Er dient lediglich der Magvarisirung eines Landes, in welchem die Magyaren die Minderheit bilden; sein Wesen ist also entgegen seinem Namen die Verneinung deS nationalen PrincipS. Unter seiner Thätigkeit haben namentlich unsere StammeSgenosscn in Ungarn und Sieben bürgen zu leiden, welche letzteren bekanntlich eben wieder von einer die Ausrottung des Deutschlhums fördernden Maß regel bedroht sind. Wenn ein Verband mit solchen Zwecken den deutschen Kaiser als die „Inkarnation des National gefühls" anspricht, verräth er die Tendenz, das Oberhaupt der deutschen Nation als Zeugen für die Zulässigkeit und Gerechtigkeit der Unterdrückung deS deutschen Volkstbums in Ungarn in Anspruch zu nehmen, und dagegen muß Ver wahrung eingelegt werden. Zum Wachsen der Zuversicht in Deutschland haben ohne Frage die mannigfachen Erklärungen, die der Slaalssecretair des Auswärtigen Amtes in der Budgetcommission des Reichs tages abgab, nicht wenig beigetragen. Herr v. Bülow hat sich abermals als ein Staatsmann gezeigt, von dessen unbe hinderter Wirksamkeit eine Vorsicht mit Festigkeit paarende auswärtige Politik zu erwarten ist. Das Lob jedoch, das ihm deshalb gezollt wird, weil er sich über die Dreysus- Angelegenheit ausgelassen, würde Ser StaatSsccretair selbst ablehnen, wenn eS ihm angezeigt erscheinen könnte, darüber zu sprechen. Wir haben sofort angenommen, daß der Ab geordnete Richter spontan und lediglich aus Wichtigthuerei den Namen des ebemaligeu französischen Hauptmanns in die Erörterungen eines Ausschusses der deutschen Volksvertretung gezogen babe. Zum Ueberfluß erklärt dies, wie schon berichtet, die „Freis. Ztg." nachträglich selbst. Natürlich nur hinsicht lich der Spontaneität, nicht der Wicktigtbnerei. Die Anfrage des Herrn Richter war nicht nur überflüssig, sondern würde los. Nachdem, wie bekannt war, die deutsche Regierung in Paris amtlich die Versicherung abgegeben hatte, daß Deutsch land nichts mit einem verübten oder angeblichen Landes- verratbe des DreyfuS zu thun gehabt, hätte es dem nationalen Selbstgefühl besser angestanden, nicht nochmals eine Erklärung eben dieser Regierung zu provociren. Ta aber die Frage gestellt war, war ihre Nichtbeachtung eine Unmöglichkeit, und die Art, wie sie Herr v. Bülow beantwortete, verdient allerdings Anerkennung. Eine rückhaltlose Wirkung in der französischen Presse Hal er sich wobl selbst nicht davon versprochen, viel mehr wird er vorauSgesebeu haben, daß seine Erklärung dort zu chauvinistischen Zwecken mißbraucht werden würde. Das geschieht denn auch im reichsten Maße, was nns Deutsche natürlich aber nicht im Mindesten berührt. Sachlich wichtiger als die nolhzedrungene Wiederholung einer älteren Abfertigung war die Ankündigung des Herrn v. Bülow, daß in Prag ein deutsches Eonsulat er richtet werden wird. Wir erblicken auch in diesem Entschlüsse der Regierung ein Zeichen der Rückkehr zu der vom Fürsten Bismarck stets befolgten Politik, auch dem besten auswärtigen Freunde kein wichtiges inneres Interesse zu opfern. Und der Schutz von Reichsangehörigen, die sich zufällig im Auslande aushalten, ist ein inneres Interesse. Wie übrigens als sicher angenommen werden darf, bat die österreichisch-ungarische Ne gierung gegen die Errichtung eines deutschen Eonsulats in der großen Stadl Prag ernstliche Bedenken keinen Augenblick gehegt. Wenn, wie wir mittheilten, das „Wiener Vaterland" schrieb, die geplante deuische Maßregel könnte „leicht politisch avfzesaßk werden", d?« guten Beziehungen der beiden Regierungen würde ein Aufschub bis zur Rückkehr ruhiger Zeiten (in Prag) besser entsprechen, so muß man sich erinnern, daß das genannte Blatt ein Organ der Jesuiten ist, deren wichtigste politische Aufgabe es ist, den Drei bund zu sprengen. Das Wiener „Vaterland" darf nicht schreiben, wie die „Civillü cattolica", die offen einen Krieg Oesterreichs gegen Deutschland predigt; baß cS aber dasselbe wie das vatikanische Organ bezweckt, verräth es, ungeschickt genug, indem cs sagt, Oesterreich muffe in der etwaigen Be stallung eines deutschen Großindustriellen zum Consul in Prag eine Etablirung der Berliner Politik aus österreichischem Boden erblicken. Auf solche Hetzereien wird man selbstver ständlich in Berlin keine Rücksicht nehmen. Während das Plenum des Reichstags nickt vom Flecke kommt und auch die Budgelcommission — vielleicht um nicht zu früh beim Marine-Etat anzulangen'? — sich nicht beeilt, schreiten die Arbeiten der Commission für die Militair- strafproceßordnung verbältnißmäßig rüstig vorwärts. Allerdings werden diese Arbeiten einer Penelope in die Hände fallen, die nicht wenig von dem auftrennen muß, was die Commission gewebt. Ohne der Regierung das Recht zu einem sit ut est, aut von sit für ihre verbesserungsfähige Vorlage zuzuerkennen, muß man doch sagen, daß die Commission mehr Zurückhaltung beobachten und etwas weniger Principienreiterei treiben könnte. Oder auch Principienverrath. Während sich die Demokratie nicht genug darüber entrüsten kann, daß die Vorlage den Juristen beim Gerichtsverfahren hinter daS Laienelement zurücktreten läßt, hält gleichzeitig das Hauplorgan eben dieser Demo kraten, die „Frankfurter Zeitung", eine geharnischte Philippika gegen den beim Verfahren in Gewerbegerichts- und in „bürgerlichen" Strafsachen dem Juristenelement gewährten Einfluß. Wie man's eben braucht. Mit der Demokratie ist ohnehin nickt zu rechnen, wer aber eine wesentliche Verbesse rung des militairischen Gerichtsverfahrens wünscht und einer gewissen Gruppe nicht den Triumph eines durch den Reicks tag verschuldeten Fiascos der seit dreißig Jahren angestrebten Reform bereiten will, der muß sich in Fragen der juristischen Doctrin bescheiden und auck vor einer Neberschätzung der Frage eines besonderen bayerischen obersten Gerichts sich hüten. Die Dinge liegen hier nicht so, wie sie bei der gesammten übrigen Juskizgesctzgebung der letzten dreißig Jabre gelegen haben. Bei dieser war die Triebfeder der Gesetzgebung der Wunsch nach deutscher Nechtseinbeit, der Mancher manches Bessere einzelner Bundesstaaten sehenden Auges geopfert hat. Beim Miliiaiistrafverfahren handelt eS sich hingegen in erster Linie um die Beseitigung eines unerträglich gewordenen Rechlszustandcs, welche erreicht wird, auch wenn Bayern eine gewisse Sonderstellung behält. DaS Urthcil in dem Majestätsbeleidigungsprocesse gegen den „Kladderadatsch", der zwei Tage vor dem Geburts lage des Kaisers nicht gerade freudiges Aufsehen erregte, soll hier nicht disculirt werden. Aber der fungirende Staats anwalt wird es hoffentlich nicht übel nehmen, wenn man be merkt, daß er etwas ganz Unhaltbares sagte, als er zur Be lastung des Angeklagten bemerkte, der Kaiser habe die Worte, b i deren, Comnientirung das Witzblatt verunglückt ist, in seiner Eic.enjchaft als >ui nmu-> episeoprw der evangelischen Kirche gesprochen. Wir sehen ganz davon ab — der Staatsanwalt hätte es nicht gesollt —, daß nicht nur evangelische Christen, sondern auch zahlreiche Katholiken unter den Angeredetcn ge wesen sind und daß der Kaiser auch nicht das kirchliche Ober haupt aller Evangelischen in Preußen, sondern nur das der evangelischen Landeskirche ist, zu der die Protestanten der Provinz Hannover nicht gehören. Aber wohin müßte eine Vermengung staatlicher und kirchlicher Gewalt führen, die der Berliner Staatsanwalt als etwas hinstellt, was ruhig bingenommen werden müßte? Zieht der Kaiser im Augenblicke der Gefahr etwa als gnmmu? opiscopus in den Krieg? Der „ReichSbote" schreibt über den Proceß: „Vorläufig hat der Teufel des Herrn Trojan, von dem eS (auf dem ver brecherischen Bilde des „Kladderadatsch") zweifelhaft sein sollte, ob er den alten Fritz oder die Zeloten oder noch sonst Jemanden holen sollte, nun ihn selbst geholt." Der Redacteur des „flteichsboien" ist ein Pastor. Eingabe des Lörsenvereins-Vorstandes an den Reichstag zu dem Antrag Arenberg, Gröber und Genossen auf Abänderung und Ergänzung de» Strafgesetzbuchs. An den Deutschen Reichstag zu Berlin. Dem hohen Reichstag beehrt sich der unterzeichnete Vor stand deS Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig als der berufene Vertreter der Interessen de- gesammten deutschen Buch- und KunstbandelS bezüglich deS von den Herren Abgeordneten Prinz von Arenberg und Genossen ein gebrachten Antrags aus Abänderung und Ergänzung des Strafgesetzbuches folgendes ehrerbietigst zu unterbreiten. Mil der Tendenz des Antrages, die Verbreitung und Ausstellung unzüchtiger und das SittlichkeitS- und Scham gefühl durch grobe Unanständigkeit verletzender Schriften und Darstellungen zu unterdrücken und so daS deutsche Volk, ins besondere die deutsche Jugend vor Verführung und vor den durch unzüchtige und unanständige Schriften und Dar stellungen herbeigeführlen geistigen und leiblichen Schädigungen zu bewahren, stimmt wohl jeder gutgesinnte Deutsche überein. Auch der deutsche Buchhandel, der es für eine seiner ersten und wichtigsten Pflichten hält, Bildung und Zucht unter dem deutschen Volke zu erhalten und weiter zu verbreiten, ist mit dieser Tendenz vollkommen einverstanden. Er bat dies schon seither dadurch bethätigt, daß er in K 8 seiner Satzungen die ausdrückliche Bestimmung aufge nommen hat, daß die Ausschließung eines Mitgliedes aus dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler dann erfolgen kann, wenn eS fortgesetzt unzüchtige Schriften, Abbildungen und Ankündigungen veröffentlicht und verbreitet. Wenn wir trotzdem hiermit bitten, dem Antrag der Herren Abgeordneten Prinzen von Arenberg und Genossen dis auf Weiteres die Zustimmung zu versagen, so geschieht das lediglich, weil wir fürchten, daß das Gesetz, wenn es in der beantragten Fassung angenommen würde, wegen der zu großen Unbestimmtheit der im Entwurf gebrauchten Ausdrücke in der Praxis die größten Unzuträglichkeiten herbeiführen müßte. 8 184 deS Strafgesetzbuches stellt schon jetzt daS Verkaufen, Vcrtkeilen oder Verbreiten, Ausstellen und Anschlägen un züchtiger Schriften unter Strafe. Es Kat sich in der langen Zeit der Geltung des Straf gesetzbuches in der Judicatur und in der Wissenschaft eine ziemlich feststehende Interpretation des Ausdruckes „unzüchtig" gebildet. Man erklärt als unzüchtig im Sinne des 8 184: „Schriftwerke und Darstellungen, die absolut un züchtig sind, d. h. bei denen offensichtlich der Hauptzweck oder der einzige Zweck ist, auf di« geschlechtliche Sinn lichkeit einzuwirken." Man erklärt aber als unzüchtig auch solche Schriften und Darstellungen, die relativ unzüchtig sind, d. h. solche, die an sich bestimmt oder ihrer Fassung oder ihrem Inhalte Feuilleton. „Was ist Kunst?" Aus Gras Tolstoi s Abhandlung. Nachdruck verboten. Der berühmte russische Romanschriftsteller Graf Leo Tolstoi hat sich bei seiner ganz eigenartigen Geistesveranla gung, die ihm den Beinamen des „wunderlichen Weisen von Jas- naja Poljana" eingetragen hat, auch veranlaßt gefühlt, eine Reihe von Betrachtungen auf moralphilosophischem, pädagogischem und philanthropischem Gebiete zu veröffentlichen. Daß er schließlich auch das Gebiet der Kunstphilosophie in den Kreis seiner Betrach tungen zu ziehen unternimmt, wird daher Niemanden überraschen. In dem letzten Heft der angesehenen Moskauer Zeitschrift „Fragen der Philosophie und Psychologie" findet sich eine Abhandlung Tolstoi's, in der er die Frage: „Was ist Kunst?" in einer recht drastischen und dennoch feinsinnigen Formulirung zu beant worten sucht. Die ersten fünf Capitel, die die genannte Zeit schrift zum Abdruck bringt, bilden den Anfang einer größeren Abhandlung. Im ersten Capitel sucht Tolstoi zu erweisen, daß eine enorme Menge von Geld und Menschenleben zur Befriedigung der For derungen der Künste geopfert wird. Man sehe sich doch nur die Zeitungen an. Fast in jeder Zeitungsnummer stößt man auf eine Beschreibung der einen oder anderen Ausstellung, eines einzelnen Bildes, auf Berichte über erscheinende neue Bücher künstlerischen Inhalts mit Gedichten, Novellen und Romanen. Die Zeitungen halten es ferner für ihre Pflicht, ihren Lesern mit ausführlichen Berichten über theatralische und musikalische Aufführungen, besseren oder geringeren Genres, aufzuwarten. Beim Durchlesen der Rubriken für Theater und Musik, Kunst und Wissenschaft kann man nach Tolstoi's Meinung den Gedanken nicht los werden, daß erstens Hunderttausende von Handwerkern, unter diesen insbesondere die die langathmigen Berichte im Satz fertig stellenden Seher, eine enorme Mühe, die Leistungskraft ihres ganzen Lebens, in den Dienst der Ausführbarkeit künstlerischer Thätigkeit stellen; zweitens, daß die Berüber künstlerischer Thätig- keit zu Hunderttausenden von Individuen sich ihr Lebe lang ab mühen, die Zunge, die Finger oder die Beine außergewöhnlich schnell zu bewegen und bei diesen eintönigen Beschäftigungen gegen ernstere, viel wichtigere Erscheinungen des Lebens ab stumpfen und zu einseitigen, selbstzufriedenen Specialisten werden. Dazu komme, daß häufig Leute im Dienst der Kunst auf das Aeußerste maltraitirt werden. So habe er einmal in einem Theater im Verlauf einer Probe zu einer ganz gewöhnlichen Oper eS erleben müssen, wie Sänger, Choristen und Musiker unmenschlich gequält und für ihre Fehler mit den gemeinsten Schimpfwörter, feiten» del vrchesterdk<-«nt«n überhäuft worden seien. Er sei, so schließt Tolstoi diesen Passus, des Oefteren Zeuge gewesen, wie beim Abladen von Frachten ein Arbeiter den anderen aus schimpft, oder wie beim Heueinfahren der Dorfschulze die Arbeiter maltraitirte, weil sie das Heu nicht ordentlich aufgeladen; mit diesem groben Benehmen könne man sich allenfalls versöhnen, weil es im Dienst einer wirklch nöthigen und wichtigen Sache ge schehen sei. Doch das Maltraitiren der Künstler und Künst lerinnen ist durch nichts begründet; die Kunst ist keine so wichtige Sache, daß ihr die Arbeit von Millionen Menschen, sogar Mensck^n- leben und dann noch gar die Menschlichkeit zum Opfer gebracht wird. Schließlich, wenn man beobachtet, wie die Künstler ver schiedener Richtungen, mögen sie nun auf dem Gebiete des Romans, des Dramas, der Musik oder bildenden Kunst thätig sein, sich gegenseitig negiren und noch ärger als die Theologen bekämpfen, so muß man doch cinsehen, daß die Kunst, die so viel Volkskraft und so viel Menschenleben verschlingt und die Liebe unter den Menschen vernichtet, nicht nur an sich ein unklarer und unbestimmter Begriff ist, sondern daß sie selbst von ihren Anhängern so widersprechend aufgefaßt wird, daß man schwer sagen kann, was überhaupt unter Kunst, unter nützlicher, guter Kunst, zu verstehen ist und insbesondere unter solcher Kunst, in deren Namen man jene Opfer bringen kann und darf. Mit diesen Ausführungen schließt das erste Capitel; im zweiten sucht Tolstoi nachzuweisen, daß der Durchschnittsmensch gar nicht ahnt, was Kunst ist. Wenige nur können beurtheilen, ob wirklich Alles Kunst ist, was dafür ausgegeben wird, und ob Alles das gut ist, was Kunst heißt; die Allerwenigsten aber wissen, ob die Kunst auch so wichtig ist und die Opfer verdient, die man ihretwegen bringt. Für jede Circusvorstellung, jedes Ballet und Concert, jede Operette, Oper, Ausstellung bedarf man der angestrengten Mühe von Tausenden von Menschen, die häufig eine verderbliche und demüthigende Arbeit unfreiwillig verrichten. Die Künstler ihrerseits, di« solche Kunstveranstal tungen in Scene setzen, bedürfen meist der Unterstützung seitens reicher Leute in Form von Bezahlungen oder seitens der Re gierungen in Form von Subsidien, die im Großen und Ganzen das Volk liefert, das jene ästhetischen Genüsse nie ausnutzt. Die gemeinigliche Antwort höher Gebildeter auf die Frage, was Kunst ist, daß sie nämlich diejenige Thätigkeit sei, welche Schönheit in die Erscheinung bringt, veranlaßt Tolstoi im dritten Capitel zu der Untersuchung, was denn eigentlich Schönheit sei. Mit dem Hinweis darauf beginnend, daß im westeuropäischen Sprachgebrauch das Wort „schön" auch im Sinne von „gut" angewendet wird, im Russischen „schön" nur das heißt, was dem Gesichtssinn gefällt, und daß der gebildete Russe erst mit der Aneignung der westeuropäischen Ansichten über Schönheit, seit etwa fünfzig Jahren, angefangen habe, „schön" für „gut" zu gebrauchen, führt Tolstoi in Kürze die Ansichten der be deutendsten westeuropäischen Gelehrten an, die über Aesthetik geschrieben haben, um damit zu beweisen, daß die Anschauungen Uber Schönheit und Kunst sehr widersprechend und unklar sind. Da» Wesen der Schönheit wird bald in ihrer Zweckmäßigkeit, bald in der Symmetrie, bald in der Anmuth, bald in der Harmonie der Theile, bald in der Einheit des Mannigfaltigen gesucht. Sieht man jedoch von diesen ungenauen, den Begriff der Kunst nicht völlig deckenden Definitionen der Schönheit ab, so können, wie Tolstoi im vierten Capitel folgert, alle ästhetischen Definitionen der Schönheit aus zwei Grundansichten zurück geführt werden: die erste, daß die Schönheit etwas für sich Seiendes ist, eine der Erscheinungen des objectiv Vollkommenen, der Idee, des Geistes, des Willens, Gottes; und die zweite, daß die Schönheit ein gewisser, von uns empfundener Genuß ist, der persönlichen Nutzen nicht zum Zweck hat. „Man sieht also", so fährt Tolstoi am Schlüsse dieses Capitels fort, „eine objektive Definition des Begriffs der Schönheit giebt es nicht. Die bestehenden Definition, sowohl die metaphysische wie die praktische, gelangen zu einer subjektiven Bestimmung und, so sonderbar es auch erscheinen mag, auch noch dazu, daß die Kunst das ist, was Schönheit erzeugt; Schönheit ist aber das, was gefällt (ohne Begierde zu erwecken). Und somit ist — so seltsam es auch klingen mag — trotz der Berge von Büchern, welche über die Kunst geschrieben worden sind, eine zutref fende präcise Definition der Kun st bis jetzt nicht gegeben worden, und zwar, weil als GrundlagedesBegriffsderKunstderBegriff derSchönheitgenommenist." Im fünften und letzten Capitel versucht Tolstoi selbst eine Difimtion des Kunstbegriffs zu geben. Er glaubt die Frage: „Was ist Kunst?" am leichtesten und zutreffendsten dadurch beantworten zu können, daß er bei der Untersuchung den die ganze Sache verwirrenden Begriff der Schönheit außer Betracht läßt. Die Kunst, so meint Tolstoi seinerseits, darf man vor allen Dingen nicht als Genußmittel betrachten, sondern muß in ihr eine der Bedingungen des menschlichen Lebens sehen, d. h. eines der Mittel zum Verkehr der Menschen untereinander. Wie durch das Wort ein Mensch dem anderen seine Gedanken und Erfahrungen wiedergiebt, so theilen sich durch die Kunst die Menschen ihre Empfindungen und Gefühle mit. Darauf, daß der Mensch im Stande ist, durch das Ohr oder das Aug« den Ausdruck der Gefühle eines Anderen wahrzunehmen und diese Gefühle nachzuempfinden, beruht auch die Thätigkeit der Kunst. Die Kunst fängt dann an, wenn ein Mensch, um anderen Men schen das von ihm erfahrene Gefühl mitzutheilen, dasselbe wieder in sich erzeugt und es durch gewisse äußere Zeichen zum Ausdruck bringt. „In sich das einmal erfahrene Gefühl wieder Hervor rufen und, nachdem man es in sich hervorgerufen hat, es mit Hilfe von Bewegungen, Linien, Farben, Tönen oder in Worten so wiederzugeben, daß Andere dasselbe Gefühl ebenfalls erfahren — darin besteht die Thätigkeit der Kunst. Die Kunst ist eine Thätigkeit des Menschen, die darin besteht, daß ein Mensch durch gewisse äußere Zeichen den Anderen bewußt di« von ihm erfahr«»» Gefühle mittheilt, wobei di» andere» Menschen von diesen Gefühlen angesteckt weiden und sie ebenfalls empfinden. Alle Gefühle, die schwächsten und stärksten, die guten und die schlechten bilden den Gegenstand der Kunst, sobald sie sich dem Zuhörer, dem Leser oder Zuschauer mittheilen. Das Gefühl der Selbstverleugnung und der Ergebenheit in sein Schick sal oder in Gott, welches im Drama dargestellt ist, oder das Gefühl des Entzückens der sich Liebenden, welches im Roman be schrieben wird, oder das Gefühl der Wollust, auf einem Bilde dargestellt, oder das Gefühl von Frohsinn, welches durch einen feierlichen Marsch in der Musik mitgetheilt wird, oder der Lustig keit, durch den Tanz hervorgerufen, oder das Gefühl der Stille, welches durch eine Abendlandschaft oder durch ein einschläferndes Lied hervorgerufen wird — das Alles ist Kunst." Fehlte den Menschen die Fähigkeit, sich durch Kunst anzu stecken, so wären dieselben noch weit ungesitteter und verthierter, als wenn ihnen die Fähigkeit abginge, durch Worte ihre Gedanken verständlich zu machen. Aus diesem Grunde ist die Thätigkeit der Kunst wichtig und nothwcndig. Man darf allerdings, so schließt Tolstoi das fünfte Capitel, unter Kunst nicht blos Das verstehen, was man in Theatern, Concerten, in Museen und auf Ausstellungen, in Romanen, Gedichten zu sehen, hören und lesen bekommt, sondern — und das zeigt einen gewissen Idealismus des sonst pessimistisch gestimmten Philosophen in der Betrachtung des menschlichen Daseins — das ganze Menschenleben ist von Erzeugnissen der Kunst erfüllt. Mit anderen Worten, jeder auch noch so niedrige Stand der Cultur eines Volkes beweist dessen Fähigkeit, sich künstlerisch zu äußern. Daher waren diejenigen im Unrecht, welche, wie die Revolu tionäre, der Kunst jeden Werth absprachen; denn einerseits der warfen sie eines der wichtigsten Verkehrsmittel, ohne welches die Menschheit gar nicht leben könnte, andererseits wären sie Veran lassung geworden, daß die ibrer Willensmeinung sich fügenden Völkerschaften von der Höhe einer Culturstufe herabsanken, die sie in Jahrtausende langem Ringen, besonders durch das Auf treten künstlerisch sich bethätigender Individuen, erreicht hatten. Ja, diejenigen befinden sich schon in einem Jrrthum, die jede Kunst für zulässig halten, falls sie nur der Schönheit dient. Kunst ist kein Mittel zum Genuß, sondern ein Hebel zur Cultur! Eigenartig sind diese kunstphilosophischen Betrachtungen des berühmten Russen, insofern als er das Wesen der Kunst nickt rein ideell, sondern in einer gewissen praktischen Beziehung zu der ganzen Culturmenschheit und jedes Einzelnen desselben faßt. Sie bilden einen neuen Beweis für den echt philanthropische», geradezu idealen Kern, den man in des Grasen Tolstoi sonstigen Schriften nicht so leicht herauszufühlen vermochte. F. Gaurrhering.
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