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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.03.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-03-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980317010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898031701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898031701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-03
- Tag1898-03-17
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Wenn dieFreude nicht geheuchelt ist, so wird sie bald genug der entgegengesetzten Stimmung Platz machen. Wir verschmähen es, das gegen über dem ersten wirthschaftlichen Aufrufe gegebene srei- händlerische Beispiel zu befolgen und den Werth der einzelnen Unterschriften, die da» zweite trägt, an- zu,Weiseln; eS mag im Gegentbeil ausdrücklich hervor gehoben werden, daß die Namen Borsig, Heckmann und Löwe hervorragenden Industriellen angeboren. Das Forschen nach der Natur der Geschäftsinteressen, der wirth schaftlichen Bedeutung und dem Religionsbekenntnisse der Unterzeichner unterbleibt bester auch dann, wenn die Namen „aus ganz Deutschland" vorliegen und aus ihrer, die der Unterzeichner de» positiven Aufrufs übersteigenden Zahl Schlüsse gezogen werden. Bei der bekannten Emsigkeit läßt sich ein Plus voraussehen. Und dennoch wird man es bei der Erklärung vom 14. März mit nichts weiter als dem ersten Knall eines Hornberger Schießens zu thun haben. Zunächst aus sachlichen Gründen. Der Aufruf ver- räth, indem er das veraltete Lied vom Consumenten als erstes Stück und ganz in der alten Tonart ab leiert, jene Phrasenbaftigkeit und Armseligkeit» die dem Freisinn so ziemlich alle Berufsclassen entfremdet und in ihrer absoluten Leere so viel zum Erstarken extremer Richtungen auf der entgegengesetzten Seite beigetragen haben. Mit der abgebrauchten Hetzlehre von der „Lebens- mittelvertheuerung" ist kein Geschäft mehr zu macken, wenigstens nickt für bürgerliche Parteien. Kein Arbeiter läßt sich beute mehr einreden, daß möglichst billige Brod- und Fleischpreise für ihn wichtiger seien, als eine Handelspolitik, die ihm möglichst hohe Löhne sichert. Und auf die Forderung nach einer entgegengesetzten Handels politik läuft es hinaus, wenn der Aufruf „die Fortführung und den Ausbau der Handelspolitik der letzten Jahre", also den wirthsckaftlichen CapriviSmus proclamirt, der nicht großmütbig genug im Verschenken und nicht bescheiden genug im Nehmen sein konnte. Der Aufruf geht bei seinen Schlagworten „Allgemeinheit" und „Einseitigkeit", gut manchcstcrlich, von einer Gleichheit der Interessen aus. Eine solche Gleichheit, wenn sie bestände, würde allerdings mit zwingender Logik zum laisser aller führen. Statt ihrer aber be steht eine Vcrschiedenbeit der Interessen, die möglichst in Einklang zu bringen sind. Der erste wirthschaftliche Aufruf, der denAuS - gleich, den Frieden anstrebt, ist darum ein positiver, während der zweite, der weder im Allgemeinen noch im Besonderen die dock obne Zweifel entstandenen berechtigten ungleicken Berücksichtigunzsansprüche der versckiedenen Erwerbsgruppen anerkennt, den wirthsckaftlichen Krieg proclamirt und sich auf das andere Ende derselben Stufe setzt, auf der die Königsberger Rede des Herrn vr. Hahn steht. Mit ihrer wirthschaftlichen Auffassung, die sogar mit den neuerdings unter Führung von Liberalen aufgenommenen Bestrebungen der Berliner Kleinkaufleute im Widerstreit steht, würde die „Erklärung" nichts erreichen, auch wenn sie parteipolitisch eine Aenderunz herbeifübren würde. DaS ist aber ausgeschlossen. Die „Boss. Ztg." schreibt zwar: „Die Streitaxt ist begraben, der lange ersehnte Friede zwischen den freisinnigen Gruppen ist bergestellt" und es will, rein persönlich genommen, nach den Fehden des letzten Jahres gewiß etwas sagen, wenn die Namen der Herren Richter und Fischbeck neben denen eines Rickert, Barth und Schrader stehen. Allein Niemand kann es ernstlich glauben, daß der „hörbare Ruck nach links", den Richter vor nunmehr fünf Jahren nach seinen eigenen Worten mit der Trennung von den ehemaligen Secessionisten und ihren jüngeren Ge sinnungsgenossen tbat, nunmehr ungeschehen gemacht werden solle und könne. WaS die feindlichen Truppen in der Er klärung jetzt zusammenführt, daS hat sie niemals ge trennt. Wirthtchaftspolitisch sind, als sie 1893 auseinander gingen, die Rickert und Richter ein Herz und eine Seele gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben. Die Differenzen waren einmal politische, und diese haben sich verschärft, namentlich seit der Einbringung des Flotten gesetzes, dann persönliche, und die sind gerade in neuester Zeit so weit gediehen, daß die Herren Rickert und Richter auch parlamentarisch sich gegenseitig als „Luft" ansehen. Zum Ausdruck gekommen aber ist die Gegnerschaft regel mäßig bei Streitigkeiten um die Vertbeilung von Wahl kreisen, also um den Punct, in dem Friede herrschen müßte, wenn die Erklärung die geringste praktische Bedeutung er halten sollte. An einen solchen, die Wahlvorbereitungen über dauernden Frieden glauben wir aber nicht, weil die Unter schrift des Herrn Richter unter dem Wahlaufrufe daS Er- gebniß einer ihm von den Rickert und Barth gemeinsam mit dem Schutzverbande gegen agrarische Uebergriffe bereiteten schweren Niederlage und der volksparteiliche Führer nicht der Mann dazu ist, seinen bisher von oben berab be handelten Gegnern den Stoß unter das caudinische Joch zu verzeihen resp. ihn für ein politisch neutrales Ereigniß an- zusrhen. Wir fürchten, die Decke über der „begravenen Streit axt" wird sich als Flugsand erweisen. Wenn aber auch nicht, die Einigung — das bat Herr Richter oft genug und mir Recht betont — kann höchstens in drei Viertel Dutzend Wahlkreisen eine Bedeutung beanspruchen. Die machen „den Kohl nicht fett", und so wird auch im besten Falle von der Action nichts Greifbares übrig bleiben. Das Vorstehende war geschrieben, als eine besondere Er klärung des Herrn Richter uns darüber belehrte, daß wir Zeitvergeudung getrieben. Denn bis auf einen Punct, der zu erörtern sein wird, sagt der volksparteiliche Führer das selbe, nur mit etwas — schärferen Worten. Man lese: „Die erste Anregung zu obiger Erklärung ist von nativ- naltiberalen Industriellen und Kaufleuten ausgegangen, welche wünschten, ihren handelspolitischen Ueberzeugungen im Gegenlatz zu anderen Kundgebungen einen klaren Ausdruck vor der Oefsent- lickkeit zu geben. Angesichts der Herausforderungen aus der Gegenseite haben die Fraktionen der freisinnigen Volks- Partei am Sonnabend beschlossen, die Erklärung, welche sich in- haltltch durchaus deckt mit dem bisherigen handelspoli tischen Stanbpuncte der Partei, mit zu unterzeichnen. Die Er klärung berührt nur eine, allerdings wichtige Frage für die Neu wahlen. Daneben aber kommen für dieselben auch andere, nicht minder wichtige Fragen in Betracht. Die Gesamrntheit aller solcher Fragen muh nach wir vor maßgebend bleiben für die Candidaturfragen auch in de» wenigen Wahlkreisen, wo, abgesehen von Zählcandidaturen, die Candidaturen der freisinnigen Volkspartei endgiltig noch nicht aufgestellt find. Die obige Erklärung ist auch nicht dazu bestimmt, einen Wahlaufruf zu er- setzen. Der letztere wird seitens der freisinnigen Volkspartei nach Bekanntgabe des Wahltermins rechtzeitig erfolgen und alle für die Partei bei den Neuwahlen maßgebenden Fragen zusammenfassen. Die Betheiligung an obiger Erklärung entspricht derjenigen Wahl- Politik, welche die freisinnige Volkspartei folgerichtig seither stets besolgt hat. Die Partei lehnt es nach wie vor ab, unter dem Sammelnamen gegen das Junkerthum in ein Wahlkuddelmuvdel sich aufzulösen, welches unter ver- waschenem, verblaßtem Banner eine gemischte, in sich haltlose, deshalb nicht actions kräftige Gesellschaft zu- sammenfassen würde. Im Kampfe gegen das Junkerthum und für den Liberalismus wird die freisinnige Volkspartei nach ihrer Stärke und Geschlossenheit immer das Hauptconti ngent und die eigentliche Kerntruppe zu stellen haben. Im Interesse des Gesammtliberalismus war es von Beginn der Wahlbewegung an unsere Ausgabe, die Partei überall in sich zu festigen, kampfbereit zu machen und unter der Fühlung bestimmter Candidaten zum Aufmarsch für den Wahl- kamps zu bringen. In dem Maße, wie nun dieser Aufmarsch seiner Vollendung entgegengeht und die Hauptfragen für den Wahlkampf bestimmter hervortreten, vollziehen sich mit der weiteren Annäherung an den Wahltermin im Interesse der eigenen Verstärkung nach der einen oder anderen Seite Annäherungen, wie solches auch schon in dem im Februar vorigen Jahres vor der Oessentlichkeit geführte» Schriftwechsel des geschüstsführenden Aus schusses mit der freisinnigen Vereinigung für die Zeit unmittelbar vor den Wahlen in Aussicht genommen war." Die „Anregung" seitens nationalliberaler Indu strieller und Kaufleute ist, politisch angesehen, eine Fabel, die uuS nöthigt, wenigstens über einige der Unter zeichner ein kurzes Wort zu sagen. Es ist richtig, daß der unterzeichnete Commerzienralh R. Henneberg 1893 im 2. Berliner Wahlkreise als Candidat auf gestellt war und in diesem zu den größten Wahlkreisen deS Reichstags zählenden Bezirke 3000 Stimmen, sogar etwas darüber, auf sich vereinigt hat. Von einer Initiative deS Herrn Henneberg, so wird bestimmt versichert, kann aber nickt die Rede sein; er ist mitgegangen. Die Persönlichkeit, die Herr Richter uu Auge bat — die Nationalliberalen im Plural dürften sein geistiges Eigenthum sein —, ist der Geheime Eommerzienrath Goldberger in Berlin, weiteren Kreisen bekannt als das am stärksten hervorgetretene Mitglied des Aus schusses der der Reichshauptstadt zur Beschämung gereichenden letzten Berliner Gewerbe-AuSstellung. Dieser Herr liebt es, sich nationalliberal zu nennen, vermuthlich weil er die Zu gehörigkeit zu dieser Partei für „feiner" hält, als die zum Freisinn, eine Bevorzugung, auf die man sich in diesem Falle nickls einbilden darf. Der Herr Gehrimrath bat sich auch, wenn wir nicht sehr irren, schon sehr häufig um eine nationalliberale Candidat ur bemüht, ohne jemals zur Bewerbung um ein Mandat dieser Partei vor dringen zu können. Zwölf Stunden vor der Veröffentlichung des Aufrufes hörten wir: „Herr Goldberger beabsichtige mit den Herren Isidor Löwe und Rösicke dem ersten Aufruf ein Paroli zu biegen." Was Richter meldet, ist weiter nichts, als die Bestätigung dieser Mittbeilung, die bei der Geschäftig keit und dem Geltungsbedürfniß des Herrn Goldberger ohne Weiteres glaubwürdig war. Herr Rösicke hat sich schon vor geraumer Zeit mit heftigem Geräusch in Gegensatz zur nationalliberalen Partei gebracht, und Herr Isidor Löwe ist freisinnig. Man muß überdies beachten, daß der Nationalliberalismus in Berlin infolge seiner geringen Stärke und seiner Zerstreuung ein sehr bescheidenes Dasein fristet. ES giebt dort Zehntausende von Nationalliberalen, die sich in dem einen oder dem andereu Wahlkreise politisch bethätigen könnten; das geschieht aber nicht, weil es noch an jeder Organisation, die diesen Namen verdiente, fehlt. Der Nationalliberalismus ist leider in der ReichS- bauptstadt jeden politischen Einflusses bar — auch in der Gemeindevertretung —, und solche Umstände machen es erklärlich, wenn Mancher als nationalliberal Passirt, der in einer Organisation, die wirken kann und will, störend empfunden wird. Um auf die Erklärung des Herrn Richter zurückzukommen, so bedeutet sie ein rundes Nein zu mebr als einem gleich- giltigen unverbindlichen Schriftstücke. Die Bezugnahme auf den Schriftwechsel vom vorigen Februar, in dem die schroffste Ablehnung einer Vereinbarung mit der freisinnigen Vereinigung zum Ausdrucke kam, die hochmüthige Einschätzung der „Volkspartei" als Kern des Freisinns besagen noch mehr als Kosenamen wie „Kuddelmuddel" und „haltlose Gesellschaft". Das „Berl. Tagebl." vergießt denn auch, statt der Freuden- tbränen im gestrigen Morgenblatte, in der Abendausgabe bittere Zähren über die Art, mit der Herr Richter daS Gewicht „seiner Unterschrift berabmindert", einer Unterschrift, die er eben, wollte er sich den „Schutzverband" nicht zum offenen Feinde machen, einem mit dem seinigen völlig übereinstimmenden rein wirthschaftlichen Glaubensbekenntnisse nicht versagen durfte. Richter hat eine ganz andere Sorge, als sie Herrn Barth drückt, nämlich die um das eigene Manda t. Er befürchtet, das Centrum werde in Hagen einen eigenen Candidaten ausstellen, und dann käme der Mann, bei dem der Mensch erst beim Parlamentarier ansängt, nickt in die Stichwahl, geschweige in den Reichstag. Darum läßt er der Unterzeichnung einen Fußtritt für die Mitunterzeichner folgen und proclamirt seine vollkommene politische Freiheit, die ihm gestattet, auch weiter um die Gunst uud Gnade des Ceutrums zu werben. Deutsches Reich. * Berlin, 16. März. Die klerikale „Kölnische VolkS- Z tg." ist kürzlich dem aus CentrumSkreisen laut gewordenen Verlangen nach Aufstellung von Zählcandidaten im weitesten Umfange entgegengetreten und Hal dafür empfohlen, durch Stimmenthaltung oder directe Unterstützung ein „kleineres Uebel" in den Reichstag zu bringen. Die „Cons. Corr." hatte es für wünschenSwerth erklärt, daß feslgestellt würde, welcke Parteien denn von dem Centrum grundsätzlich als „Uebel" zu betrachten seien. Eine Antwort darauf giebt der „Westfälische Merkur", der sich darüber wie folgt ausläßt: „Bei der nächsten Wahl kommt es darauf an, ein« Cartcllmehr- heit zu verhindern. Gegen diesen Hauptzweck muß alles Andere zurücktreten. Nun denkt Mancher: „Es kann ja nicht schaden, wenn ich im ersten Wahlgange für einen Zählcandidaten stimme: denn wenn es zur Stichwahl kommt, kann ich ja immer noch dem Can- didaten, der mir vortheilhaster erscheint, meine Stimme geben." Diese Rechnung stimmt aber nicht immer. Wenn z. B. in einem Kreise, wo die Katholiken nur eine bescheidene Minderheit bilden, ein Socialdemokrat, ein Nationalliberaler und ein Freisinniger in Wettbewerb treten, so hängt das Schicksal des Mandats häufig Fenillets«. Ilm die Lede. Rrisebriefe von Paul Lindenberg. Nachdruck verboten. XXIII. Chinesisches Neujahr. — Ganz Hongkong ein Knalleffect! — Straßenbilder. — Am Hafen. — Englische Colonisation. — Auf dem Pic. Hongkong, 23. Januar. „Kunz Hai Fatoi!" — Gratulire Dir zu Reichthum!" die ganze Luft ist durchschwirrt von diesem chinesischen Neujahrs wunsche, der so treffend eine charakteristische Seite des emsigen bezopften Volkes zum Ausdruck bringt. Ueberall steht man sich begrüßende und beglückwünschende Chinesen, welche die zu sammengeballten Hände zur Stirn führen, um dann einige Minuten vergnügt plaudernd zusammen stehen zu bleiben. Rothe Fahnen und Wimpel hängen von den Häusern herab, große rothe Glückwunschzettel kleben an den Thüren der meist geschloffenen Läden, ist einer der letzteren aber auf, so erblickt man den schön geschmückten und mit Blumen verzierten Hausaltar mit den Bildern des Gottes des Reichthums und des langen Lebens, Kerzen brennen dem einen oder auch beiden zu Ehren, und man hat für die p. p. Gottheiten ein gutes Frühstück servirt: gebratene Sachen, Früchte, Zuckerzeug. Für die sterblichen Besucher stehen Schalen mit gebrannten Mandeln und gerösteten Kürbiskernen da, in den reicheren Häusern giebtS Sect, in den ärmeren Scham schuh, Reiswein; drei Tage hindurch ist die Mehrzahl der Läden geschlossen, eine Woche feiern die Handwerker und Arbeiter, während deS ganzen Monats wird auf rothem Papier geschrieben, ist doch Roth di« Farbe des Glücks! In ihren schönsten, wegen der Kälte wattirten, oft mit Pelz eingosäumten Gewändern erscheinen Chinesen-Miinnlein und Weiblein, und namentlich die Kinder sind reizend herausgepuht, in ihren verschiedenfarbigen seidenen Röckchen und Kleidchen, mit dem von bunten Seidenstickereien durchwirkten Käppchen auf dem Kopf, von welchem bei den Knaben der sorgsam geflochtene Zopf mit bunter Seidenquaste herunterhängt, sähen sie allerliebst aus. Groß und Klein, Männlich wie Weiblich, hat in diesen Tagen nur «ine Freude: das Abbrennen von Feuerwrrk-körpern! Ganz Hongkong scheint gestern wie heute nur noch au- einem einzigen Knalleffect zu bestehen! DaS rasselt und knattert und prasselt und sprüht und glüht allerorten, al» ob e» einige Tausend feuer- speiend« verg, sich aufgethan hätten, in allen Straßen knarrt» Wie von Pelotonseuer, Kanonenschläge donnern dazwischen, und es ist nur gut, daß unser« Sänftenträger, die uns durch diesen unglaublichen Wirrwarr schleppen, keine Pferde, sondern chinesische Kulis sind, die ruhig weitertrotten, wenn ihnen auch einige Schwärmer und Frösche cm die bezopften Köpfe fliegen. Als Hauptfeuerwerk dienen die sogenannten Kräcker, die, stets in ganzen Palleten a-bgebrannt, einen Höllenlärm verursachen, dann werden von dm im ersten und zweiten Stockwerk liegenden Veranden der Häuser lange, aus Feuerwerkskörpern bestehende Ketten Herabgelaffen, die, unten angezündet, nach oben hin zischend und sprühend abbrennen, hier drehen sich wirbelnd Sonnen herum, da flammen Raketen auf, dort brodelts mitten auf dem Damm wie im Vesuv-Krater. Besäet mit rothem Papierfetzen sind die Straßen, da die Umhüllungen sämmtlicher Feuerwerkssachen roth sind, und die Straßenarbeiter haben viel zu thun, um alles Papier aufzusuchen und es in die überall an den Häusern angebrachten Holzkästen hineinzupfropfen, ist es doch für di« Chinesen ein arger Verstoß, bedrucktes Papier mit den Füßen zu treten — Confucius soll ja di« Schrift erfunden haben und die Schriftzeichen könnten ja zufällig Lehren des Consiucius enthalten! In der letzten Nacht war an Schlafen wenig zu dmkm, so toll war der Lärm, von den Straßen wie vom Hafen her, man stelle sich nur vor, daß von den 200 000 Chinesen, welche Hongkong (die Bezeichnung ist eigentlich falsch, denn die ganze Insel heißt Hongkong, die Stadt aber Victoria) bewohnen, sicher zwei Drittel ihrer Neujahrsfreude durch Ver puffen von Feuerwerk Ausdruck verleihen! Ein prächtiger Sonnentag heute, aber trotzdem wie kalt! Gegen 10 Uhr nur 10 Grad Reaumur, und ungeachtet der Winterkleider, die wir in dm von Singapore direct hierher ge sandten Koffern vorfanden, friert man mordsmäßig. Also laufen, laufen, laufen, und es ist ja genug Interessantes draußen zu schauen. Wie schon früher erwähnt, baut sich Hongkong vom Hafen aus terrassenförmig am Fuße des 660 Meter hohen Victoria-Pics auf; mit dem Hafen parallel läuft die Hauptstraße, die OueenS Road, von der sich nach dem Hafen und nach dem Pic zu die Nebenstraßen abzweigen. Ununterbrochen reges Leben erfüllt dies« Hauptverkehrsader, deren Häuser unten Bogen gänge aufweisen und deren ober« Stockwerke vorn Veranden ent halten, deren Gitter vielfach mit Topfpflanzen besetzt sind, während an den Häuserfronten mächtig« chinesisch« Schild« und Plakate prangen, von dm Laubengängen aber große, geölte bunte Papier-Lampion» hrrabhängen, die Abend» erleuchtet wrrdrn. Für Ordnung und möglichste Saubrrkeit ist aus den Straßen gesorgt, die hohe Obrigkeit vertreten indische Polizisten, stramme Leute, di« sich in ihren dunkelbraunen Uniformen mit hohen rothen Turbanen sehr gut ausnehmen und die erforderlichen Falls ganz energisch einschreiten, weshalb denn auch vor ihnen Vie Sänftenträger und Rikschah-Männer einen gehörigen Respect haben. Die Personenbeförderung geschieht wegen der bergigen Lage der Stadt fast ausschließlich mittels der schon früher ein gehend geschilderten Rikschahs, jener kleinen, von einem Mann gezogenen Halbwägelchen, und der Sänften, die von je zwei (zu weilen auch vier) Kulis an langen, biegsamen Bambusstäben ge tragen werden, fo daß eine leichte schaukelnde Bewegung entsteht. Die Preise sind ungemein billig, ein Rikschcrh-Mann bekommt für die Stunde zwanzig, di« beiden Sänftenträger erhalten für die gleich« Zeit zusammen vierzig Pfennige. Der genannten Queens Road haftet, schon durch den nahen Hafen und dm regen Fremdenverkehr, etwas Internationales an; man sieht hier viel Europäer, aber noch mehr Indier, an ihren Turbanen kenntlich, dann auch Perser, Mohamedaner, einzelne Neger, viel Mischblut, und die rothen Uniformen der englischen Soldaten und blauen der Matrosen erhöhen noch das farbige Durcheinander. Natürlich überwiegt das Chinesisch« in jeder Hinsicht, haben doch selbst die offenen europäischen Geschäft« chinesische Angestellte, wie sich auch der gesammte Kleinhandel in chinesischen Händen befindet. Vornehme Chinesen lassen sich in prächtig geputzten, verschlossenen Sänften einhertragm, blinde Bettler tasten sich mit einem Stocke durch die Menge, kleine Chinesenkerle spielen mitten auf dem Damm sehr geschickt Feder ball oder lassen ihre Drachen steigen, da humpelt eine elegant« Chinesin auf ihren „Lilienfüßen", sechs Centimeter lang, dahin, und dort schleppt eine gewöhnliche Frau ihre zwei Jüngsten auf dem Rücken; in den offenm Garküchen und den Theestuben, aus welch' letzteren oft ohrenzerreißende Musik dringt, ist viel Zu spruch, Gemüsehändler schleppen ihre Lasten an langen Bambus stangen, Fruchtverkäufer preisen uns ihre Apfelsinen (von wunder barem Geschmack) an und dort können wir einen Strauß der herrlichsten Theerofen, über zwanzig an der Zahl, für zehn Pfennige erstehen. Ganz unverfälschtes chinesisches Leben ober findet inan in den Nebengassen, die schmal und dunkel sind, und die man, schon der lieblichen Gerüche wegen, gern schnell durcheilt, um auf den Höhen deS Pic» oder unten am Hafen bessere Luft zu schöpfen. Stundenlang vermag man diesem wechsclvollen Hafengetriebe zuzuschouen, das sich innerhalb des schönsten landschaftlich«» Rahmens abspielt. Der ganze Hafenrand ist überwiegend von chinesischen Fahrzeugen eingefaßt, ihre Bauart weicht in nichts von der schon seit Jahrhunderten bekannten ab, sie vermitteln den Verkehr zwischen d«n nahen Küstenplätzen oder auch nur im Hafen, die Last«» zu den Dampfern bringend, welche weiter draußen im Hafenbassin liegen uud welche nach Singapore, Naga saki, Aolohama, Formosa, Bangkok, Amry, Canton, Shanghai, Korea rc. rc. bestimmt sind. Aus vielen der Schornsteine dringen die Rauchwolken empor, di« Dampfpfeifen ertönen, Ankerkctten rasseln, chinesische Dschunken hissen die Segel auf, kleine Steam- Launchs hasten durch die Wogen, von Matrosen bemannte Boote stoßen von den grauen englischen Kriegsschiffen ab, Dampf- fchaluppen durchfurchen die Wogen, Fährboote fahren hinunter zum chinesischen Festlande, nach Kowloon, wo sich die Docks be finden und wo auch unsere stolzen Lloyd-Dampfer anlegen, und über Allem der blaue Himmel mit der so goldig leuchtenden Sonne. Seit 1841 ist Hongkong englisch, damals war hier ein chinesisches Fischerdorf, heute eine Stadt von über 200 000 Einwohnern, unter ihnen an 4000 Europäer (viel Mischblut), eine Stadt mit rastlosem Handel, der seinen Einfluß auf das ge sammte Ost-Asien ausdehnt. Nun mag man über die Engländer denken wie man will, aber wo sie einmal di« Hände zur Arbeit anlegen, da thun sie es tüchtig, sie schaffen planmäßig und gründ lich und wissen aus einem Nichts etwas zu machen, ihre Colonien legen davon beredtes Zeugniß ab: Ruhe und Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit werden hergestellt, Handel und Wandel finden in jeder Weise Unterstützung, und die fremden Ansiedler unter liegen keinerlei Chicanen, es geht durch daS Ganze ein großer, kaufmännischer Zug. Aber daneben wird auch für die Ver schönerung der einzelnen Plätze unendlich viel gethan und Un summen werden diesem Bestreben geopfert, Millionen auf Millionen allein in Hongkong. Der mehrfach angeführte Pic war früher ein öder FelSkegel, abgeholzt, gänzlich verwildert; heute umziehen ihn in« präch tigsten Promenadenwege, ausgehend von den unten befindlichen herrlichen Gartenanlagen mit Rosen und Palmen, mit Gummi- und Farrenbäumen wie mannigfachen Coniferen, mit Oleander büschen und Bambusen; überall sind schöne Ruheplätze an gebracht, die Abgründe sind überbrückt und bequeme Pfade führen zu den Villen der begüterten Europäer, unter denen wir verhältnißmäßig viele Deutsch« finden. Je höher wir steigen, desto großartiger wird der Blick auf den Hafen, hinüber zu dem Festland« und hinab in eine richtige Alpennatur, und dann, bei einer schroffen Wendung, hinunter auf daS Meer mit seinen zackigen Frlseninseln. Man ist völlig hingerissen von dem be wegenden, so viele» Wundervolle umfassenden Bilde, und man versteht di« tiefe Liebe vieler Europäer zu diesem Eiland, welcher die sonnige Anmuth Italiens mit dem ergreifenden Ernst der nordischen Alpen verbindet, und welch«» zu einem der schönsten Flecken gehört auf unserer schönen Gottelwrlt.
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