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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.03.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-03-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980324025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898032402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898032402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-03
- Tag1898-03-24
- Monat1898-03
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Gröbere Schriften laut unserem Preis» verzrichniß. Tabellarischer und Ziffrrnsatz aach höherem Tarif. Eptr« »Beilagen (gesalzt), nur mit den Morgen - Ausgabe , ohne Postbeförderuuz' SO.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschlaß für Anzeige«: Abend-AllSgabe: Vormittag» 10 Uhr. Vtorge »»Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Sei deu Filialen und Auuabmestelleu je eine halbe Staude früher. Anzeige» find stet« au die Expehttt»» 4» richten. Srnck und Verlag von C. Polz i» Leipzig 92. Jahrgang. 15V Donnerstag den 24. März 1898. politische Tagesschau. * Leipzig, 24. März. Die Flottenvorlage hat schon lange, eigentlich bevor sie im Reichstage eingebracht wurde, den aufregenden Charakter verloren, der von den sechziger Jahren her preußischen und deutschen Wehrorganisationsfragen al» etwas Unvermeidliches anzuhängen schien. Sie ist seit geraumer Zeit in die Reihe derjenigen öffentlichen Angelegenheiten getreten, von denen man sagen darf, daß sie zu den besten gehören, weil Niemand von ihnen spricht, wenigstens nicht im Tone der Leidenschaft. Wer sich von dieser allgemeinen Stimmung ausnabm, wie auch gestern nock, am ersten Tage der zweiten Lesung des Flottengesetzes, Herr vr. Schönlank, der erinnerte nur an die Nebenfiguren, die der große englische Staatsactionenschilderer auftreten zu lassen nicht vergißt, wo cS gilt, dem Sieg von Vernunft und Geradheit durch das zum Lachen reizende Bild ihres Gegentheils einen augen fälligen Glanz zu verleihen. Handlungen, die nothwendig und zugleich langsam aus der Natur der Dinge hervorgeben, entbehren ja an sich des dramatischen Interesses, und deshalb darf man dem socialvemokratischen Abgeordneten aus Leipzig dankbar dafür sein, daß er den belustigenden CboruS in die Scene eingeführt hat. Shakespeare freilich würde in einem ähnlichen Falle dem Widerpart des Wohlgerathenen zn dessen höherer Ehre Geist und stachligen Witz eingehaucht haben, aber ultra xc>8sv uswo «blizatur, und Herr vr. Schönlank that Recht, dem Bilde, das er als denkender „Narr" nicht zu beleben vermochte, wenigstens als „Tölpel" ein contrastirendes Licht aufzusetzen. Zweierlei allerdings ist dabei zu bedauern: einmal wird dem alten Liebknecht die gewohnheitsmäßige Abfertigung an die Leipziger Adresse von nun an noch leichter gemacht als bisher, sodann ist noch eine weitere lange socialdemokratische Rede in der zweiten Lesung deS Flottengesetzes unvermeidlich geworden, denn,wie wir dieHerren Singer, Bebel u. s. w. kennen, werden sie die Socialdemokralie nicht durch die von Herrn Schönlank dargestellte Person des Shakespeare'schen Reper toires „abschneiden" lassen wollen. DaS wird aber auch zu überstehen sein. Daß auch aus demCentrum einedissentirende Stimme laut wurde, hätte man nicht mehr mit Bestimmtheit annchmcn müssen, nachdem die Erklärung des Vorsitzenden der CentrumSsraction Grafen Hompesch verlesen war. Kam. cS auch anders, so kann man doch nicht leugnen, daß in der Fraction wieder kräftige Hände mit Geschick lhätig gewesen sind. Wenn eine Erklärung im Namen der Mehrheit und der Minderheit einer Fraction im vorgerückten Stadium einer Gesetzgebunzsangelegenheil abgegeben werden kann, so läßt daS nicht auf SecessiönSgefahr schließen. Ins besondere erscheint eine territoriale Abzweigung, die der Bayern, nunmehr ausgeschlossen, da Herr v. Hertling für das Gesetz in einer Weise gesprochen hat, die seinen engeren Landsleuten eine Trennung wegen dieser Angelegenheit geradezu verbietet, also auch von ihnen nicht beabsichtigt sein kann. Ob der unsichere Cantonist vr. Heim noch reden wird, steht dahin und ist ziemlich gleichgiltig, nachdem vr. Schädler das verneinende Votum eines Theiles seiner Parteigenossen nicht begründet, sondern entschuldigt hat, und zwar mit Bemerkungen, deren rein parteilaklischer Kern nur sehr Lrmlich verhüllt war. Herr Schädler hat sich der Agitation gebeugt, die in Bayern das Flotlengesetz zu einem materielle Opfer heischenden fälschlich gestempelt hat. I>r. Heim kann ihn höchstens darin über trumpfen, daß er die Weisheit des „Bayer. Kur." zum Besteu giebt, wonach die „Bayern nichts von der Flotte haben". Freiherr v. Hertling andererseits übte — und das ist ihm hoch anzurechnen — eine scharfe Kritik an dem unseres Erachtens von positiver Seite ungebührlich begünstigten Deckungs schwindel, indem er erklärte: „Ich bin überzeugt, daß wir die Kosten auch ohne weitere Steuern decken können durch ordentliche Einnahmen, und ich bin für meine Person der Meinung, baß wir weiterer finanzieller Garantien in dem Gesetze gar nicht bedurft hätten." DaS entspricht dem Sachverhalt, bei dessen Verdunkelung man Herrn vr. Lieber mit den Freisinnigen und deu Socialdemokraten allein hätte lassen sollen. Was Freiherr v. Hertling über die geänderte Stellung des CentrumS zu nationalen Fragen sagte, darf man wohl als die aufrichtige Ueberzeugung dieses Redners binnehmen, wie es gesprochen wurde. An dem Charakter des UltramontaniSmus und an der That- sache, daß er in dem Centrum seine politisch wirksame Form besitzt, ändert dieses vereinzelte Bekenntniß, wie das Zustande kommen des Flottengesetzes, das einer Furcht vor den Wäh lern entspringt, die Freiherr v. Hertling ausdrücklich als be gründet bezeichnet hat, nichts. In einem „wegen die Soctaldcmokratte" überschriebenen Artikel weisen die „Hamb. Nachr." darauf hin, daß die Be strebungen, die verschiedenen Gruppen deS productiven Er werbes auf einer mittleren Linie zu gemeinsamer Wahrung des Schutzes der nationalen Arbeit zu sammeln, zwar mit Genugthuung zu begrüßen seien, daß es aber den An schein gewinne, als ob die Beschäftigung mit der Gestaltung künftiger Handelsverträge die Aufmerksamkeit allzusehr von dem abziehe, was die augenblickliche politische Lage erheischt: „Die Frage künftiger Handelsverträge wird erst nach Jahren praktisch weiden. Wahrscheinlich wird allerdings der demnächst zu wählende Reichstag über sie zu entscheiden haben. Deshalb soll man dafür sorgen, daß derselbe eine im Puncte eines wirksamen und gerechten Schutzes der nationalen Arbeit schlechterdings zuver lässige Majorität erhalte. Sich über die Einzelheiten des in erster Linie aufzustellenden autonomen Zolltarifs und dann über die bei dem Abschluß neuer Verträge maßgebenden Gesichtspuncte auseinander- zusetzen, wird man aber am Besten zunächst den Sachverständigen des Wirthjchastlichen Ausschusses überlassen. Einstweilen genügt es, wenn die Sammlung aus wirthschastspolitijchem Gebiete überall den Willen zur Verständigung zum Durchbruch bringt. Gegenwärtig sich über die concreten Anforderungen einer Situation zu streiten, die man noch gar nicht kennt und nicht kennen kann, würde sachlich nutzlos sein und nur die Gefahr mit sich bringen, daß man Anderes, was für die bevorstehenden Wahlen zu beachten ist, darüber vergißt." Das Blatt erinnert hierauf daran, daß der in Dresden abgehaltene conservative Parteitag in erster Linie an alle bürgerlichen Parteien eine Ermahnung zum gemein samen Kampfe gegen die Socialdemokratie gerichtet habe, bedauert, daß diese Mahnung vergessen zu sein scheine, daß namentlich die Antisemiten und die National-Socialen den gemeinsamen Kamps gegen die revolutionaire Partei er schwerten, und weist sodann auf das Auftreten deS Abg. Bebel am 18. März im Reichstage bin, aus dem bervor- gehe, daß dieser socialdemokratische Führer den wohl vor bereiteten Plan verfolgt habe, unter dem Schutze der parla mentarischen Redefreiheit Vie gewaltsame Revolution als daS wirksame Mittel zur Volksbefreiung anzupreisen. Man brauche allerdings nicht zu erwarten, daß nun die „Genoffen" auf die Straße hinabsteigen und Barrikaden bauen würden: „Nein, die heutige revolutionaire Partei ist längst so disciplinirt, daß sie zu einem unbesonnenen Putsch gar nicht fähig ist. Ihre Leitung ist himmelweit entfernt von der Thorheit, ihre Leute nutz los ans Messer zu liefern. In normalen Friedenszeiten— davon darf man unseres Erachtens überzeugt sein — denkt sie gar nicht an eine revolutionaire Erhebung; sie rechnet auf die Stunde, da diese normalen Zeiten einmal aushören werden. Von Denjenigen, denen an der Erhaltung der bestehenden Staats- und Gesellschafts ordnung gelegen ist, wäre es eine unverantwortliche Kurz sichtigkeit, wenn sie die in dieser Perspective liegende Gefahr nicht erkennen wollten. In diesen Tagen ist so viel die Rede von dem Eindrücke, den es aus das Ausland machen würde, wenn das Flottengesetz im Reichstage mit einer großen Mehrheit zu Stande käme. Wir glauben kaum, daß sich das Ausland um die größere oder geringere Ziffer dieser Mehrheit groß kümmern wird, wenn es eben nur eine Mehrheit ist. Dagegen wird man es im Aus lande s e h r a u f m e r k s a m verfolgen, ob bei den demnächstigen Reichs tagswahlen die Zahl der socialdemokratischen Stimmen er- heblich zu- oder abnehmen wird. Es ist kein Geheimniß, daß man im Auslande bei der Abschätzung unserer eventuellen kriegerischen Leistungsfähigkeit die Stärke unserer Socialdemokratie sehr gern in Rechnung stellt. Eine energische Bekämpfung der Socialdemokratie bei den Wahlen ist also nicht nur aus Gründen der inneren, sondern auch der äußeren Politik geboten, sie ist eine nationale Pflicht ersten Ranges. Die Parteien, welche Anspruch darauf machen, als aufrichtig nationalgesinnt zu gelten, dürfen ihre An hänger darüber nicht in Zweifel lassen." Das ist zweifellos richtig; aber die Mahnung deS „BiS- marckblatteS" wird nur dann die rechte Wirkung haben, wenn es sich entschließt, energisch auf bestimmte Fälle hinzu weisen, in denen von ehrgeizigen Parteiagitatoren die „natio nale Pflicht ersten Ranges" aus den Augen gesetzt und unter den Anhängern der wirthschaftlichen Sammlung Streit über die bei dem Abschluß neuer Verträge maßgebenden, jetzt noch gar nicht mit Sicherheit festzustellenden Gesichtspuncte hervorgerufen wird, der die Wahlaussichten der Socialdemo kratie verbessert. Besonders wird sich die Aufmerksamkeit der „Hamb. Nachr." dem Treiben deS Direktors des Bundes der Landwirthe I)i-. Diedrich Hahn in der Provinz Hannover zuwenden müssen, das sich von Hamburg aus genau verfolgen läßt. Wenn von einem politischen Agitator das Wort gilt, daß er Streitigkeiten über die concreten An forderungen einer Situation anfache, die man noch gar nicht kennt und nicht kennen kann, so gilt eS von ihm, und wenn irgenowen mit voller Wucht der Vorwurf trifft, daß er die Opfer seiner Streitsucht blind mache gegen die Gefahr, daS Wichtigste bei den bevorstehenden Wahlen ru vergessen, so trifft er den Director deS Bundes der Landwirtbe, der jetzt sogar im ReichStagswahlkreise Hameln - Springe den langjährigen nationalliberalen Vertreter Hische, ob wohl er Mitglied deS Bundes ist und nur auf die Unfehlbarkeit des BundeSdirectorS nicht schwört, zu verdrängen sucht auf die Gefahr hin, den Wahl kreis den Gegnern jeder nationalen WirtbschaftSpolitik auS- ruliefern. Daß er in anderen Wahlkreisen mit derselben Scrupellosigkeit verfährt und dabei sich nicht scheut, sich als BiSmarckianer reinsten Wassers aufzuspielen, ist be kannt. Gerade dieser unverfrorenen TäuschunzSversuche halber sollten die „Hamb. Nachr." dem Herrn auf Schritt und Tritt in der Provinz Hannover folgen und nachweisen, daß er einer der gefährlichsten Gegner nicht nur einer Politik der wirthschaftlichen Sammlung, sondern auch einer Sammlung der bürgerlichen Parteien gegen die Socialdemokralie ist. Die Haltung Oesterreichs in der Krctafragc war bisher zweifelhaft. Erst hieß eS, daß es dem Beispiel Deutsch lands folgen werde, dann wurde diese Meldung wieder — wie man annehmen mußte, officiöS — dementirt. Jetzt erfährt, wie unS telegraphisch gemeldet wird, das Organ dco Wiener Auswärtigen Amtes, daS „Fremdenblatt" wieder: Der Minister des Aeußeren habe die Vertreter Oesterreich- Ungarns bei den Großmächten beauftragt, den Cabineten mitzu- Iheilen, die Regierung beabsichtige, das auf Kreta befindlich c Truppen-Contingent biS zum 5. April d. I. abzuberusen. Bon österreichisch-ungarischen Schiffen würden in den kreteusischrn Gewässern nur die zum Schutze des Conjulats und der österreichisch ungarischen Staatsangehörigen nothweudigen zurückbleiben. Das „Fremdenblatt" bemerkt, diese Maßregel solle naturgemäß wider daS Ausscheiden Oesterreich-Ungarns aus Lern europäischen Concert bedeuten, welches sich zur Ordnung der orientalischen Wirren heil sam und nothwendig erwiesen habe, noch ein Nbweichen von der Linie der Politik, welche sich die Monarchie in der kretischen Frage von Anfang an vorgezeichnet hatte. Ta aber ein baldiges Einverständniß der Cabioete hinsichtlich der praktischen Activirnng des neuen kretischen statu«, speciell in der Gouverneur-Frage, in welcher keiner der aufgctauchten Vor schläge die Billigung aller Cabinete fand, ferner ein prompter Abschluß der Action, welcher die Abberufung der österreichisch ungarischen Truppen in nahe Aussicht stellt, bis heute nicht abzu sehen sei, erachte es Oesterreich-Ungarn, welches an den Detail- Fragen bez. der Pacification Kretas nicht mehr tnteressirt sei, für angemessen, sich hierin auf eine diplomatische Mitwirkung bei den europäischen Beschluß fassungen zu beschränken und mit der materiellen Cooperation seiner seits abzuschließcn. Das ist so gut wie eine amtliche Erklärung und sie ist dem ganzen Wortlaut nach endgiltig. Jetzt sind die drei Garantiemächle Rußland, Frankreich und England völlig unter sich und sic scheinen entschlossen, gegen den Willen des Sultans die Gouverneurfrage zu lösen, d. h. dcn Prinzen Georg von Griechenland dem Sultan aufzuzwingcn. Daß hieraus neue schwere Wirren und blutige Kämpfe auz Kreta resultiren und auch die Balkansiaaten Anlaß nehmen werben, ihr Glück gleich Griechenland zu versnckcn, d. h. mit dem orientalischen Pulverfaß zu spielen, gilt für jeden Ein sichtigen al- gewiß. Somit ist der Augenblick gekommen, wo „gefährliche Beschlüsse", wie Staatösecretair v. Bülow sich äußerte, verwirklicht werden sollen, und wo darum daS Beiseitetreten Deutschlands geboten erschien. Diese Politik hat Oesterreich nunmehr als richtig anerkannt und ist im Begriffe, ihr zu folgen. Beide Verbündete lebnen da mit ausdrücklich die Verantwortlichkeit für die Consequenzcn der Beschlüsse Rußlands, Frankreichs und Englands ab. Gestern hat die italienische Kammer über CriSpi zu Gericht gesessen und die Anträge der Fünfer-Commission, welche auf ein politisches Tadelsvotum gegen den Exministcr hinauS- laufcn, angenommen. Wir erhalten darüber folgende aus führliche Meldung: " Nom, 23. März. Deputirtenkammer. (Fortsetzung. Nasi von der Rechten beantragt Zurückverweisung der Acten an den Obersten Gerichtshof. Palberti als Berichterstatter tritt für den Commissionsbericht ein und erklärt: Die Anträge der Commission sind von dem Gefühl für Recht und Sittlichkeit eingegeben. Die Commissioiismitglicder sind von dem ruhigen Bewußtsein erfüllt, ihre Pflicht gethan zu haben. (Lebhafter Beifall und Fettilleton. Durch eigene Kraft. 33j Roman von Alexander Römer. Nachdruck verboten. Hui! Wie rasch, wie der umspringende Wind «ine Wind fahne dreht, hatte sie sich damals gewandelt — sie ließ sich ver kaufen, einmal, zweimal — ein willenloser Spielball in den Händen Anderer. Und jetzt — ein jeder Mensch muß ernten, was er gesäet hat — warum sollte er jetzt helfen mit der Auf opferung seiner ganzen Jugend? Hatte sie nicht ohnehin seine Jugend vergiftet? Seiner eigenen Stärke und Mannrskraft verdankte er es, daß er nicht den Schmerz über sich hatte Herr werden lassen, daß er Muth und eine gewisse Lebensfrrudigkeit behielt. Bis jetzt hatten ihn die Rücksicht und die Liebe für die Eltern in Banden gehalten, nun war er frei, sich ein Leben nach seinem Sinne cmfzubaueu. Er hatte bisher noch nicht Zeit ge funden, irgend einen Plan dafür zu machen. Jetzt wurde es eine Nothwendigkeit, er mußte sich klar darüber werden. Dieser gezwungene Gutskcruf, der für ihn gar nicht zu um gehen war, freute ihn keineswegs. Er müßte seine ganze Kraft einsetzen, sein Vermögen blieb immer theilweis« gefährdet, denn bei diesen für die Landwirthschast sehr ungünstigen Zeiten war es auch für ihn kein leichtes Ding, das herabgekommenc Gut ertraysfähiger zu machen. Er stand am Fenster und überdacht« in tiefem Ernste die Sachlage. „Ich muß so rasch als möglich die Dinge abwickeln und zum Abschluß führen", sagte er sich. „Wollte Gott, ich hätte diese peinlichen Verhandlungen, diese schmerzlichen Uebergänge erst überwunden." Hoffentlich ließ sich das Geschäftliche mit dem Anwalt des Barons abwickeln, und ein Aufenthalt der gutsherrlichen Familie hier kam nicht mehr in Frage. Es war ja hart, so von der Scholle der Väter scheiden zu müssen, aber er drängte sich nicht hinaus. Es waren Gläubiger genug autzer ihm vorhanden, welche drängten, eine kurze Frist nützte nichts, der Baron konnte das Gut nicht halten. Im Uebrigen hatten die jetzigen Träger des Namens Wald stätten so wenig Anhänglichkeit an dem Erbe ihrer Vorfahren kund gegeben, daß das Scheiden von dem Grund und Boden und den darauf lebenden, ihnen untergebenen Menschen für sie kaum etwas bedeuten konnte. Er warf die kalt gewordene Cigarre durch das offene Fenster; e» schlug 11 Uhr vom kleinen Dorfkirchthurm. Ihm war heiß, er fand die Lust im Zimmer schwül, er stieß auch den anderen Fensterflügel aus und nahm seine Mütze. Schlafen konnte er noch nicht, die Nacht war still und lau. Wie laut die Frösche quakten im Mühlenteich! Er wandelte die menschenleere Straße entlang; die Mondsichel kam über den Linden des öden Eltern hauses zum Vorschein, ein hell leuchtender Stern stand gerade über dem Dach. „Jst's Dein Auge, Mutter", murmelte er, „das über mir wacht?" Die Läden waren geschloffen — die Lebensrunde der beiden treu Verbundenen war vollendet, sie war in engen Grenzen verlaufen. Ein ganz kleiner Kreis von Lebenden gedachte jetzt noch ihrer und Erinnerte sich der von ihnen empfangenen Wohl- thatcn, bald wurden sie vergessen, und nur in seinem Herzen blieb ihre lichte Spur. „Ich weiß es jetzt", flüsterte er, „in Eurer schlichten Sphäre wäret Ihr größer als tausend Andere, deren Namen durch die Welt klingen." Er schritt weiter, unter den Kastanien drüben entlang, dem Pfarrhausc zu. Richtig! Bei dem Freunde brannte noch Licht. In dem zu ebener Erde gelegenen Studirzimmer saß der ein same Geistliche bei offenem Fenster über seinem Buch. Sein so toenig schönes Gesicht trug einen glücklichen, verklärten Ausdruck, das Geisteslicht leuchtete auf seiner Stirn. Ludwig betrachtete ihn schweigend. Jetzt erhob der Lesende die träumerischen, weltfremden Augen und wandte sie dem Fenster zu. Sein Geist war noch nicht bei den wirklichen Dingen, und so gewahrte er anfangs die dunkle Gestalt draußen nicht. Dann besann er sich, stand auf und erkannte den Freund. „Ludwig!" Welch eine Wärme und Herzlichkeit lag in dem Ausruf! Ludwig war mit drei Sätzen drinnen bei ihm. „Woher kommst Du denn so spät noch?" rief der Pastor lachend. „Du, der sonst mit den Hühnern zu Bette geht." „Ich konnte nicht schlafen, mich packte ein Verlangen nach Dir — nun störe ich Dich, wie ich fürchte." „Hast Du etwa», Ludwig?" Die Augen deS Freunde» richteten sich prüfend auf ihn. „Was sollte ich haben? Lieben Besuch habe ich zu Hause, der aber nutdc war und zu Bette ging, Hartwig, den Maler. Mr haben ein« Flasch« Johannisberger auSgrstochen und viel geredet — dal bin ich nicht mehr gewohnt." „Ja, Du lebst zu einsam, Dir taugt daS eigentlich gar nicht." „Pah! Wenn ich mich in di« Welt stürzen will, dazu finde ich ja in Zukunft Freiheit genug — kann'- ja auch einmal probiren." „Ludwig! Spiele nur mit mir kein Verstecken!" Der Pastor lächelte überlegen. „Du hast Nachrichten erhalten, di« Dich aufgeregt haben." „Du bist beinahe zu klug, Ernst. Ja, Nachrichten — freilich — man verlangt Allerlei von mir." „Wer?" „Nun, frage nur nicht gleich bis zum Aeußersten — die Menschen, di« selbst nie daran denken und dachten, Opfer zu bringen, das pflegt ja so zu sein in der Welt." „Will die Gutsherrschaft kommen?" „Einstweilen hoffentlich nicht, und wie lange dauert's, dann hat sie hier überhaupt nichts mehr zu suchen." „Hm, hm — ich habe mich lange gefürchtet vor diesen kom menden Dingen." „Du? Warum Du? Ich fürchte mich nicht. Ich gehe meinen geraden Weg, Ernst, nein, sieh mich nicht mahnend an, ich habe keine Rachegelüste, ich bin auch nicht unbarmherzig. Die Dinge treiben ohne mich dem Ende zu, ich kcmn sie nicht aufhalten, ich bin Passiver Zuschauer bei dem Laufe, den das Recht nimmt." „Mir thut's leid, daß Du überhaupt bethriligt bist, Ludwig, wollte Gott, es wäre ein Anderer! Wird Dich auch nie die Frage peinigen: was wird aus ihr?" „Dann hätte sie mich schon lange peinigen müssen, Ernst." „Hat sie auch gethan, mein Bester." „So? Na, ich glaube, ich habe zu Niemand darüber ge redet, und jetzt weiß ich'S ja, was aus ihr geworden ist." „Du hast sie nicht wiedergesehen?" „Nein, mich verlangt auch nicht danach." Der Pastor schwieg, es entstand «ine Pause. „Würdest Du ein Wiedersehen fürchten?" fragte er dann langsam. „Ich? Bei Gott! nein!" Es klang laut und höhnend. Draußen rauscht« eS leis« in den Wipfeln der Bäume, die Heimchen zirpten im Grase. „Komm, wir wollen noch ein wenig aus- und abwandeln im Mondschein", sagt« der Pastor, „ich weiß, Dir thuk in solchen Stimmungen Bewegung gut, und ich will auch versuchen, den Schlaf hevbeizulocken, indem ich mich von meinen Büchern trenne." „Du solltest nicht so in die Nacht hinein fiudirsn, Ernst, eS ist ein Unsinn!" „Solltest, solltest — Du solltest auch Manches nicht. Mensch, wer kann wider sein« Natur! Deine Lebensweise ist gesünder als di« meinige, da» sehe ich ein, und wenn Du auigsschlafen hast, wirst Du vielleicht morgen ganz andere Entschlüsse fassen als heute Abend. Uebereile nichts, Ludwig, laß die Dinge so viel als möglich an Dich herankommen, handle dann nach Pflicht, Gewissen und Deinem Herzen, denn das ist ein präch tiges Stück in Dir." „So? — Herz! — ach! Ernst, wer Herz hat und es zeigt, der ist ein Kind diesen modernen raffinirten Menschen gegenüber, und Kindern steckt man ein Spielzeug in die Hand und meint, nun müssen sie hübsch zufrieden sein. Ich habe mittlerweile die Kinderschuhe ausgetreten, und es verlangt mich nicht, sie wieder anzuziehen. Aber findest Du nicht, daß es feucht wird? Du bist solche Nachtluft nicht gewohnt, machst diese Promenade nur mir zu Liebe und da will ich doch die Verantwortung für den Katarrh, der Dich übermorgen am Predigen verhindern würde, nicht auf mich laden. Und sei ohne Sorgen, ich bin rin gesunder Kerl, und wenn auch nicht das Herz, Pflicht und Gewisse» lasse ich sicher reden. Gute Nacht, Ernst." Er drückte dem Freunde die Hand, und der Pastor, der aller dings «ine andere Constitution hatte als der Hüne, der da unter den Bäumen hinschritt, trat fröstelnd ins Haus zurück. „Er ist in einer bösen Lage", murmelte er, „Gott helfe ihm zum Rechten." Zweiunddreißigstes Capitel. Eine Woche später traf unvermuthet die Nachricht von vem Ableben der Baronin Cäcilie auf Hetzbach ein. Eine Herz lähmung hatte ihren plötzlichen Tod herbeigeführt. Trauer unter den Gutsangehörigen erregte derselbe nicht, man hatte sic kaum gekannt, und geliebt hatte sie Niemand. Ludwig >var gerade bei Marianne Röpke, als der Postbote ihm im Vorübergehen die schwarz umränderte Traueranzeige ins Fenster reichte. Marianne loar noch immer sehr vom Rheumatismus geplagt. Ihre Finger waren von Gicht gekrümmt und ihre Laune, wenn sie Schmerzen hatte, nicht gerade die beste. Nur wenn Ludwig über ihre Schwelle trat, klärte sich ihr Gesicht auf. Was hatte aber auch der Ludwig an ihr gethan! Als Marianne wochenlang im vergangenen Winter schwer krank lag, war Ludwig täglich gekommen und hatte sie von einer Lagerstätte auf die andere getragen; ihren schweren Körper konnte sonst Niemand regieren, er mit seinen herkulischen Kräften hob sie wie eine Feder. Er hatte durch sein Fuhrwerk den Doctor holen und hcimbringen lassen, und seine Mutter hatte noch für die leiblich« Pflege gesorgt. Liesa sah zu Ludwig wie zu einem Heiligen empor. Sie hielt ihn damals, wenn er kam oder ging, -allemal an der Haus- thiir fest, um zu hören, was er meint«. Wenn er Hoffnung
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