Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.04.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-04-07
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980407019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898040701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898040701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-04
- Tag1898-04-07
- Monat1898-04
- Jahr1898
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr. dir Abend-Au-gabe Wochentags um b Uhr. Ve-artion und Erve-itiou: JohanneSgasfe 8. Di« Expedition ist Wochentag« ununterbrochen -rössnet von früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. Filialen: ttto Klemms Sorkim. (Alfrek Hahn), Universitiitsstraße 3 (Paulinum), Lonis Lösche, Katharinens». 14, -art. und küuigsplatz 7. Bezug-'PreiS I» der Hauptexpedition oder den im Stadt» bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen ab geb alt: viertel,ührttch^tl4.5O, rri zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus ./e ü.öO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertestädrlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbandiendung in« Ausland: monatlich 7.S0. Morgen-Ausgabe. MpMcr JaMaü Anzeiger. Amtsölatt des Königliche« Land- «nd Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes «nd Nslizei-Amtes der Ltadt Leipzig. F« 175. Donnerstag dm 7. April 1898. Au-ei-e« Pret- die 6 gespaltene Petitzeile SO Pf-. Reclamen unter dem Redactionssrrich (4g» spalten) LO^, vor den Familirnnachrichten (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Pre»« verzeichniß. Tabellarischer und Ztfferaja, »ach höherem Tarif. Extra-veila«c» (gesalzt), nur mit der Morgen-Au-gabe, ohne Pvstbeförderung 60.—, mit Postbesörderuug 70.—. Annahmeschlaß fiiL Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittag« 10 Uhr. Morgen.AuSgab«: Nachmittag« «Uhr. Bei den Filiale» »ud Amlahmrstelle» je rin» halb« Stunde früher. A»zeige» find stet« a» die Expedition ,» richt«. Druck »ud Verlag von L. Polz in Leipzig 92. Jahrgang. Centrum, bayerische Volkspartei und Bauernbündler. Während im klerikalen Lager Bayerns früher nur zwei Richtungen einander bekämpften, die CentrumSmänner und die Bauernbündler, macht sich jetzt noch eine dritte Richtung geltend, die zwar nicht auf dem Standpunkte der Bauern« dündler steht, aber die Haltung des CentrumS zu „preußisch" findet und deshalb daS bayerische Centrum als eigene Partei, als bayerische Volkspartei, vom Centrum loSreißen möchte. Diese Strömung ist ja nicht ganz neu, sie ist aber noch nie mit solcher Schärfe hervorgetreten, wie jetzt. „Bayern ist vom preußischen Centrum verlassen worden", ruft ein klerikales bayerisches Blatt anläßlich der Bewilligung der Flottenvorlage aus und vergißt dabei ganz, daß man eigentlich mit mehr Recht das Gegentheil sagen könnte, nämlich, daß die Bayern im Centrum das übrige Centrum verlassen haben, da sie doch nur eine Minderheit in der CentrumSpartei bildeten. „Los vom Centrum! Einmal muß eS ja doch kommen", ruft ein anderes bayerisches Blatt aus. Und ein bayerischer Decan verlangt gar die Bildung einer katholischen Volkspartei, im Gegensätze zum Centrum am Rhein, in Hessen und in Bayern. Den bayerischen Mitgliedern der CentrumSpartei ist bei dieser Agitation ihrer Presse sehr wenig behaglich zu Muthe. Sie wissen nämlich ganz gut, daß, wenn sie sich vom Cen trum lossagen, zwar die CentrumSpartei geschädigt wird, sie selbst aber noch mehr. Als Mitglieder einer Partei von hundert Mann verfügen sie über einen großen Einfluß; wenn sie aber selbstständig sind, so stellen die zwanzig bis dreißig bayerischen Abgeordneten nur eine kleine Partei dar, die obne Einfluß ist und ihren Mitgliedern erst recht keinen Einfluß verleihen kann. So sind die bayerischen Abgeordneten des Centrums in einer sehr fatalen Lage: mit der Gesammt« Partei wollen sie eS nicht verderben, aber mit den Wählern, die von den intransigenten klerikalen Zeitungen beeinflußt werden, wollen sie eS natürlich ebenfalls nicht verderben. Sie verhalten sich möglichst still in der Hoffnung, daß der Sturm noch einmal vorübergehen werde. Aber sie sind selbst schuld daran, daß dieser Sturm über haupt entstehen konnte. Sie haben den ParticularismuS, der jetzt so wild gegen die Bewilligung der Marinevorlage sich aufbäumt, mit all' ihren Kräften großgezogen. Man denke nur an die gehässigen Debatten über die vorjährigen Kaisermanöver in der bayerischen Kammer. Da hat das Centrum mit den Socialdemokraten in der Bekundung eines öden ParticularismuS gewetteifert, und es ist schwer, zu sagen, wer in diesem Wettkampfe Sieger blieb. Wenn die bayerischen Centrumsmäaner den Particularis muS mit solcher Liebe pflegen, so tbun sie es, um den Bauern- bündlern erfolgreich Concurrenz machen zu können. Aber sie können mit dem Bauernbunde nickt gleichen Schritt halten, denn so zu Hetzen, wie die urwüchsigen Redner der Bündler eS thun, ist ihnen, obgleich auch sie an eine derbe Sprache bewöhnt sind, nicht möglich. Der einzige Erfolg, den sie mit ihrer Wühlarbeit gegen da« Reich erzielt haben, ist, daß der Bauernbund erstarkt ist und sich jetzt in seiner Hetzerei nicht nur gegen daS Reich, nicht nur gegen das Centrum, sondern auch gegen die Geistlichkeit wendet. Wie eS in diesen bauernbundlerischen Versammlungen zuzugehen pflegt, wird aus dem Bericht ersichtlich, der über eine Bündler- versammlung in Furth im Walde vorliegt. Dort sprach der Bündlerfübrer Hack und schleuderte die heftigsten Angriffe gegen die katholische Geistlichkeit. Er warf ihr vor, daß sie die Reformation verschuldet habe. Es sei überhaupt ein alter Spruch: „Alles Uebel kommt vom Klerus." Und als sich Jemand unterstand, dazwischen zu rufen: „DaS ist nicht wahr!", richtete sich gegen ihn die ganze Wuth der Menge. „Tragt ihn auf die Rednerbübne", rief Einer, „glei renn , eamS Messer eini!" schrie ein Anderer. So wütbend waren die Bauernbündler darüber, daß Jemand sich unterstehen konnte, die Geistlichkeit in Schutz zu nehmen. Und dabei ist zu beachten, daß die Gegend, in der die Ver sammlung stattfand, durchaus katholisch ist. Gebt eS mit der particularistischen Hetzerei in Bayern so fort, so sind die Stationen für die schiefe Ebene gegeben: vom Centrum zur eigenen katholischen Volkspartei, von der bayerisch-katholischen Volkspartei zum Bauernbunde, vom Bauernbunde zur Socialdemokratie. Herrscht doch schon jetzt zwischen dem Bauernbunde und der Socialdemokratie ein sehr cordialeS Verhältniß. Und warum sollte es auch nicht? Grimmiger und gehässiger als die Bündler können die Social demokraten die Geistlichkeit, das Reich und den Staat auch nicht angreifen. Ganz besonders augenfällig dürfte eS sich also in Bayern zeigen, daß die bisherige Agitationsweise des Centrums nicht nur für den Staat und die Reickseinheit bedenklich ist, sondern schließlich sogar die Interessen der katholischen Kirche schädigt. „Und daS ist der Humor von der Geschichte." Bekämpfung -er Sonaldemokratie durch Arbeiter-Organisationen. Unter obigem Titel veröffentlicht der „Evangelische Arbeiterbote", Organ des GesammtverbandeS der evan gelischen Arbeitervereine Deutscklands, in seiner Nr. 28 vom 2. April eine Reihe von „Leitsätzen" für ein am 12. April d. I. auf einem Delegirtentage der genannten Vereine zu Cassel zu erstattendes Referat. Sogleich am Eingänge dieser Thesen stehen folgende Sätze: „Gegenüber der Anmaßung der Socialdemokratie, sich als die alleinige und wahre Vertreterin der deutschen Arbeiter schaft aufzuspielen, muß als die Ueberzeugung weiter Kreise der deutschen Arbeiter — und wahrlich nicht der schlechtesten — festgestellt werden: 1) Christenthum, Monarchie und Vaterland sind dem deutschen Arbeiter tbeure Güter, die er unter keiner Bedingung gewillt ist preiszugeben. 2) Den Arbeiter verbindet mit seinem Brodberrn in erster Linie daS gemeinsame Interesse am Gedeihen deS betreffenden Erwerbszweiges. Neben diesem gemeinsamen Interesse an der GLtergewinnung besteht nun zwar bis zu einem gewissen Grade ein Interessengegensatz betreffs der Gütervertbeilung zwischen Unternehmer und Arbeiter. Dieser Interessengegen satz ist aber ein untergeordneter, sekundärer, relativer, und eS erwächst daraus nicht die Nothwendigkeit, den „Krieg bis aufs Messer" zu proclamiren, sondern die Pflicht, „einen Aus gleich zu erstreben, bei dem alle Betheiligten zu ihrem Rechte kommen." Mit diesen Sätzen wird nicht nur eine grundsätzliche und unzweideutige Scheidung der Evangelischen Arbeitervereine von der Socialdemokratie als politischer Partei wegen ihrer Glaubens- und Vaterlandslosigkeit, sowie ihrer erklärten Feindseligkeit gegen die ganze bestehende monarchische Ge sellschaftsordnung ausgesprochen, sondern auch die Lossagung von jenem unversöhnlichen „Clafsenhasse", den die Social demokratie predigt, und jenem steten Kriegszustände zwischen Arbeitern und Unternehmern, wie er von eben dieser Seite in den geflissentlich hervorgerufenen und bis aufs Aeußerste durchgeführten Streiks fort und fort erhalten wird. Ihre Abneigung gegen letztere haben bekanntlich die Evangelischen Arbeitervereine unlängst durch eine von ihrem Gesammtverbande an den Reichstag gerichtete Petition um gesetzliche Einführung von Einigungsämtern oder Schieds gerichten kundgegeben, worin sie auf die maßlose Häufung der Streiks in der letzten Zeit ausdrücklich Bezug nehmen. Auf welche Weise jener „Ausgleich" (zwischen Unter nehmern und Arbeitern), „bei dem alle Betheiligten zu ihrem Rechte kommen", zu „erstreben" sei, darüber geben die „Leitsätze" weiterhin einige Andeutungen. Wir kommen auf diese wobl später einmal zurück. Für heute glauben wir unsere Befriedigung darüber aussprechen zu müssen, daß solchergestalt aus der Arbeiterschaft selbst heraus so entschieden der Gegensatz wider die Social demokratie betont und die Arbeiter zur Abwendung von dieser aufgefordert werden. Bekanntlich hat vor längerer Zeit Kaiser Wilhelm II. alle Gutgesinnten zum gemeinsamen Kampfe gegen die Um- sturzbestrebungen der Socialdemokratie ausgerufen. Dieser kaiserliche Ruf blieb aber damalSobne sichtbare Wirkung, freilich wohlzumTheildeshalb, weildie damalige Regierung deSKaiserS es versäumte, die Fahne zu einem solchen Kampfe voran zu tragen. So geschah eS, daß der StaatSsecretair Graf Posa- dowsky nur zu sehr Recht hatte, wenn er unlängst im Reichs tag sagte, „eS sei zu bedauern, daß es noch Leute gebe, welche die von der Socialdemokratie drohende Gefahr nickt erkannt hätten und über dieser Gefahr eingeschlafen seien". „Aber", setzte er hinzu, „wir werden Alles dazu thun, um das deutsche Volk auS diesem Schlafe aufzurütteln." Es ist beschämend für daS deutsche Bürgerthum, daß Arbeiter eS sein mußten, welche den Kampf gegen „die Feindin der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung", den Kampf für Religion, Monarchie, Vaterland, für Beseitigung de« „ClassenhafseS" und für einen friedlichen „Ausgleich" zwischen Arbeitgebern und Arbeitern eröffneten! Deutsches Reich. * Leipzig, 6. April. Im Kreise Derer, welche eia har monisches Coacert der wirthschaftlichen Interessen des Vaterlandes ermöglichen wollen, spielt die „Deutsche Tageszeitung" die Rolle deS eutaut terridls. Sie weiß nicht recht, welches Instrument sie wählen soll und weil ihr die Fähigkeit abgeht, von den edleren Instrumenten eins zu spielen, so greift sie nach Art unbändiger Knabe», die ja eine besondere Vorlieb« für Radauinstrumente haben, znr Pauke, um sich wenigstens auf eine, wenn auch mißliebige Weise, bemerkbar zu machen. So treibt sie eS gewöhnlich so lange, bis das ganze Concert in die Brüche zu gehen nnd die Zuhörer den Saal unter Protest zu verlassen beginnen. Dann kommt sie gewöhnlich für kurze Zeit zur Besinnung und beginnt die friedliche Flöte zu blasen. So vertbeidigt die „Deutsche Tageszeitung" jetzt wieder einmal die Agrarier gegen den Vorwurf, daß sie „die eigent lichen Störenfriede" bei der im Hinblick auf die Wahlen be triebenen Politik der Sammlung wären, indem sie schreibt: „Daß wir eS für erstrrbenswerth erachten, überall eine Einigung aus die Person eine« für die nationale Wirthschaftspolitik ein tretenden Landidaten herbrizusühren, darau« haben wir niemals eia Hehl gemacht, aber auch daraus nicht, daß die Einigkeit leider nicht überall zu erreichen sein wird. Wahlkreise lassen sich eben nicht conimandiren, weder durch eine Centralstelle der Partei noch durch eine etwa zu gründende Centrolsielle der Sammlung. Was unsererseits geschehen kann, um Doppelcandidaturen nationaler WirthschastSpolitiker zu verhüten, das wird geschehen, und das ge schieht. Beweise brauchen wir gerade jetzt nicht anzusühren." ES ist allerdings sehr nöthiss, daß die „Tageszeitung" diese Beweise erbringt, denn im weiteren Verlauf. dsS Artikels fcjflt sie wieder in den alten Ton, irckem'eß heißt: „ES ist natürlich selbstverständliche Voraussetzung, daß der Candidat, auf den man sich einigt, fest und entschieden auf dem Boden der nationalen WirthschastSpolitik steht. Er muß in seiner ganzen Person dir Gewähr dafür bieten, daß er nicht etwa die Sammlung nur deswegen mitgemacht hat, um seine Candidatur zu ermöglichen oder zu stützen. Wenn national- liberale Blätter sich darüber beklagen, daß besondere agrarisch« Candidaten hier und da ausgestellt seien, wo schon Candidaten vorhanden waren, dir aus dem Boden der Sammlung stehen, so haben diese Sondercandidaturen in der Regel darin ihren Grund, daß der schon vorhaudene SammlungS- candidat den Wählern de- Kreises nicht genügende Gewähr zu bieten schien, daß er die nationale Wirthjchaftspolitik auch fest und entschieden vertreten werde. Bietet er diese Gewähr, dann zögern wir keinen Augenblick, zu erklären, daß wir in solchem Falle Doppel candidaturen für bedenklich halten." DaS heißt mit anderen Worten: Wir unterstützen nur den SammlungScandioaten, der uns gefällt. ES ist der alte bündlerische einseitige Standpunkt. Wenn aber eine wirkliche Sammlung erfolgen soll, muß nothgedrungen von Fsirrlletsn» William Cwart Gladstone. Bon Frank Robinson. NaSdruck vkrdotiN. Wenn eine jüngst erschienene geistreiche Charakterschilderung des Marquis Salisbury diesen Staatsmann den ersten Eng länder der Zeit nennt, so darf man Gladstone als den englischsten Engländer seiner Zeit bezeichnen. Obwohl seine Landsleute ihm wiederholt zum Vorwurf machten, daß die Welt und die Menschheit ihm näher lägen, als England und die Engländer, so war eine Erscheinung wie die seinige in ihren Stärken wi» in ihren Schwächen, doch durch und durch englisch, und nur in England möglich. Es war dies nicht der einzige Widerspruch, den sein Charakterbild vereinte. Hat er doch als ein fast romantischer Tory begonnen und als der Führer des fortge schrittensten Radicalismus in England seine Laufbahn be schlossen! Und nicht minder seltsam ist es, daß er, der er folgreichste englische Politiker seiner Zeit, der viermal als Premier an der Spitze der Regierung gestanden hat, schließlich mit einem großen Mißerfolge in seinem Lieblingsprojecte vom Schauplätze abtreten mußte. Diese und andere Gegensätze in seinem Charakter haben das Verständniß seiner Persönlichkeit sehr erschwert, und ganz besonders in Deutschland ist sein Wesen nur selten richtig er faßt worden. Wir beurtheilen Gladstone stets als Staats mann und setzen dabei voraus, daß er, wie Bismarck, ein ge borener Staatsmann sei. Aber das war er nicht. Kein rich tigeres Wort ist über ihn gesprochen worden, als das, das ein College im Ministerium einst über ihn äußerte: er habe eigentlich nur für zwei Dinge wirkliches Interesse, für die Kirche und für die Finanzen. Darin liegt nicht nur sozusagen die Quintessenz seines ganzen Lebens und Wirkens, sondern auch gewisser maßen sein ganzer Stammbaum. Als ein Schotte, in dem kein Tropfen englischen Blutes floß, erbte er daS tiefe, lebendige religiöse Interesse deS Puri tanervolkes von Schottland, aber auch seinen orthodoxen Geist und seine fast fanatische Verbohrtheit. Wenn sich zu diesem kirchlich-religiösen Interesse in seltsamer Verbindung rin natür liches finanzielles Verständniß, ja Genie gesellte, so erklärt sich dieser Umstand unschwer daraus, daß sein Vater ein Großkauf- mann zu Liverpool war, daß die Atmosphäre, in der der junge Gladstone aufwuchs, einen durchaus merkantilen Charakter trug, und es ihm so von Jugend auf geläufig wurde, über große Geldsummen und große Geschäfte zu disponiren. Kirche und Finanzen — diese Verbindung mußte ihn allein schon zum englischsten aller Engländer stempeln; bildet sie doch mehr oder weniger ausgesprochen noch heute das Kennzeichen de» englischen Wesens überhaupt. Al« Gladstone in Eton und Oxford seine Studien vollendet hatte, war er entschlossen, Geistlicher zu werden. Es fehlte nur ein Kleines zu dem entscheidenden Schritte. Hätte er diesen Schritt gethan, n wäre England» größter Geistlicher im neun zehnten Jahrhundert geworden; so wurde er nach Döllinger's treffendem Ausspruche nur Englands größter Theologe. Die Erfolge, die das junge, im Alter von 23 Jahren gewählte Par lamentsmitglied zuerst in der politischen Arena errang, wurden weit überstrahlt durch den mächtigen Erfolg, den sein 1838 erschienenes Buch über die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staate hatte. Bunsen, der preußische Gesandte in London, nannte dies Buch ein Ereigniß, nannte es das Buch der Zeit. Es ist noch etwas Anderes: es ist das Buch des Charakters Gladstone's. Den Kern des Buches bildet der Gedanke, daß der Staat ein Gewissen besitze und daher, wie ein Mensch von Gewissen, eine Religion besitzen, nur eine einzige Religion als richtig anerkennen könne. Die ausschliehende Unduldsamkeit, die in dieser Auffassung gegen alle anderen Bekenntnisse, als das hochanglikanische, lag, hat Gladstone später gemildert. Es ist ein ehrenvoller Zug in seiner Entwickelung, daß sein starrer Geist sich unablässig Fortschritte abrang, und so hat er selbst später die Stellung der Katholiken in England wesentlich günstiger gestaltet. Nie aber ist er von dem Principe seines Jugendwerkes abgegangen, das politische Leben religiös zu behandeln. Darin lag seine Stärke, darin zeitweis seine mächtige Wirkung auf die Volksmassen, daß er alle Wendungen und Ereignisse des Staatslebens auf ihren sittlichen Werth, auf ihre religiöse Bedeutung hin prüfte, sich als Mann von Religion zu ihnen stellte und seine Ueberzeugungen mit dem ganzen Feuer eines religiösen Glaubens vertrat. Darin lag aber auch wiederum seine Schwäche, daß er diese religiöse Auffassung bis in die letzten Kleinigkeiten hinein verfolgte. Der Mann nahm Alles feierlich, mochte es sich um die Erweiterung des Wahlrechts oder um ein lustiges Couplet handeln. Nie hat man von ihm ein Witzwort, nie einen Scherz, ja, nie eine geist reiche Wendung gehört; er fuhr immer schweres Geschütz auf. AIS ein damals umlaufendes Witzwort des alten Weltkindes Palmerston in seiner Gesellschaft drollig gefunden wurde, fuhr er auf: „Drollig nennen Sie das? Ich nenne es teuflisch!" Die Geschichte mag später entscheiden, ob es für Gladstone ein Glück oder Unglück war, daß sie ihm in DiSraeli einen Gegner von völlig entgegengesetzter Geistesart gegenüberstellte. Disraeli, beweglich, schmiegsam, liebenswürdig, praktisch, witzig, sar kastisch — Gladstone schwerfällig, fanatisch, stets feierlich, nie humoristisch und immer pathetisch, der Eine Alles weltlich und weltklug — der Andere Alles sittlich und theoretisch behandelnd: so mußten die Beiden erbitterte Gegner werden. Als Glad stone sich zum ersten Male im Parlamente zur Erwiderung auf eine geistsprühende Rede Disraeli'» erhob — es war im Jahre 1862 —, da begann er seine Red« sofort, indem er von den Gesetzen der Würde und des Anstandes redete. So begann do« Duell zwischen dem schwerfälligen Elephanten und dem geschmeidigen Panther und es dauerte im gleichen Stile ohne Waffenstillstand und Frieden fort, bi« sein Gegner im Jahre 1881 starb. Wie als Staatsmann, so hat Gladstone auch als Mensch nie und nirgends vergessen lassen, daß in ihm eigentlich rin hochanglikanifcher Geistlicher strengsten Stiles stecke. Es ist von ihm gesagt worden, er kenne wohl die Menschen, nicht aber den Menschen. Dies ist sicherlich richtig. Im Gegensatz zu seinem großen Zeitgenossen Bismarck war er ein sehr schlechter Menschenkenner und verstand demgemäß auch sehr wenig, mit den Menschen umzugehen. So unglaublich es klingt, so ist es doch Thatsache, daß er seinen Genossen im Ministerium, so weit der Dienst ihn nicht in Beziehungen zu ihnen führte, völlig fremd blieb; er lud sie nicht ein, er unterhielt sich kaum mit ihnen, er hatte ebenso für Leute, die sich für seine Partei und Sache geopfert und die größten Verdienste um sie sich erworben hatten, kein Auge, — kurz, er, den begeisterte Bewunderer als den größten Menschenfreund des Jahrhunderts bezeichnet und als solchen zu Bismarck in einen für Letzteren keineswegs schmeichelhaften Gegensatz gestellt haben, er war im Leben so hart und unliebenswürdig und ungesellig, wie der Deutsche höflich und freundlich „bis zur letzten Galgensprosse" selbst gegen Widersacher war. Die fanatische weltfremde Geistesart Glad stone's vereinigte sich hierin eben mit seiner Unfähigkeit, die Menschen zu verstehen und zu behandeln. Er war und blieb Zeit seines Lebns der Geistliche, der von seiner Kanzel herab nur Massen und keine Individuen sicht, der in die Ferne blickt und das Naheliegende verkennt. Und es fehlen in seiner Er scheinung auch so ganz und gar die kleinen, menschlich anziehen den Züge. Er war nicht ritterlich gegen Damen, ja er hatte für die Frau überhaupt wenig Sinn. Wenn er Passionen hatte, so bezogen sie sich ausschließlich auf Literatur und Gelehrsamkeit. Aber ein Sportsmann — man denke, was das in England heißen will! — war er nicht, ein Jäger, ein Reiter war er nicht, wenn er auch gelegentlich einen Ritt machte und ganz gern dank- Mammon spielte. Selbst jene Holzhackerei, die so berühmt ge worden ist, selbst diese Gepflogenheit entbehrt jeder liebens würdigen Anmuth, auch sie wurde mit dem ganzen Apparat feierlichen Ernstes und sittlicher Ueberlegenheit betrieben. Ob dieser oder jener Baum zu fällen sei, das war Gegenstand einer langen Diskussion im Familienrathe, zu der zuweilen Künstler herangezogen wurden. Bei dieser Eigenart ist es nur natürlich, daß Gladstone aus der Entfernung wohl als der „große, alte Mann" gefeiert wurde, in der Nähe aber nicht beliebt war. Darum hat er auch seine Wahlsitze einen nach dem anderen ver loren, und hätte er sich noch einmal zur Wahl gestellt, so wäre ihm wahrscheinlich auch Midlothian verloren gegangen, wie vor her Oxford, Süd-Lancashire und Greenwich. Auch als Redner ist Gladstone nicht zu verstehen, wenn man nicht daS geistliche Element in ihm berücksichtigt. Er ist stets eine Art Kanzelredner gewesen, und eine gewisse priesterliche Wohlredenheit war für ihn charakteristisch. AIS ihm einst von einigen jungen Rednern erzählt wurde, die um der Kürze ihres Ausdrucks willen Preise erhalten hatten, verstand er das nicht. Wiederholung und Breite waren die Träger seiner Red«. Er drückte denselben Gedanken zwei- und dreimal au«, erst als Meinung, dann als Glauben, endlich als Dogma, er kleidete ihn in ein immer prächtigeres rhetorisches Gewand, und so rissen die breiten Wogen seiner Rede die Massen meist mit sich fort, während freilich dir Uriheilsfähigen fanden, daß trotz aller seiner Ausführlichkeit man schließlich oft nicht recht wisse, was eigent lich seine Meinung sei. Aber auch sie konnten sich doch dem starken Eindruck nicht entziehen, den er dadurch erreichte, daß er überall mit seiner ganzen wuchtigen Persönlichkeit sich hinter dir Sache warf. Am glänzendsten hat sich seine Redekunst in seinen großen Budgetreden bewährt. Angeborener Geschäftssinn und finanzielles Genie vereinigten sich hier mit großer Auffassung. Er verstand es, Zahlen interessant zu machen, wie kein Anderer; er verstand es, in einer Etatsrede den ganzen wirthschaftlichen Zustand der Nation umfassend zu kennzeichnen. Eine Wirth schaftliche Frage war es ja auch, die seine große politische Wen dung einleitete. Das junge Parlamentsmitglied für Newark ge hörte zu jenen schwärmerischen Tories, denen Karl I. noch immer als ein Märtyrer erschien. Als Mensch ist Gladstone bis zuletzt der steifste aller Conservativen geblieben; als Politiker aber folgte er Sir Robert Peel, der die ganze Tory-Partei durch die Forderung der Aufhebung der Kornzölle in die lebhafteste Be wegung versetzte. So rückte er vom Gros der Partei ab und wurde zum Führer der „Peeliten" genannten Gruppe. Wenn er dann Schritt für Schritt weiter nach links sich gewandt hat, bis er als Liberaler die Premierministerschaft antrat, so hatte auf diese Entwickelung die Rivalität mit Disraeli keinen geringe» Einfluß. Denn von Anfang an zeichnete sich Gladstone durch eine fast leidenschaftliche Liebe zur Macht aus, und wenn er bei den Tories blieb, so hätte er die Macht mit dem verhaßten ..Dizzy" theilen müssen, während er auf der linken Seite des Hauses Herr und König war. Der schlaue Disraeli hat Glad stone einmal „fast kniefällig" zum Eintritt in ein von ihm ge leitetes Ministerium gebeten. Er rechnete, den Rivalen so kalt zu stellen. Aber „Gladdy" durchschaute den Plan, lehnte ab — und von diesem Augenblick ab war die fernere Richtung seines WegeS, die Richtung nach links entschieden. Man hat Gladstone als den edelsten Vertreter der Humani tät in der Politik des 19. Jahrhunderts gepriesen. In Hinsicht auf seine Ansichten und sein Wollen trifft dies gewiß zu. Ein hoher sittlicher Ernst, eine schöne Auffassung von Menschenwerth und Menschenwürde, ein stetes Streben nach Vervollkommnung sind ihm nicht abzusprechen. Die eigenthümliche Beschaffenheit seines Charakters verursachte aber, daß zwischen Theorie und Praxis bei ihm stets eine große Kluft bestehen blieb. Er war in seinen Ansichten höchst unduldsam und erkannte, wenn er sich zu einer Auffassung durchgerungen hatte, keine andere mehr daneben an. Und wie mit den Ansichten, so verstand er mit den Menschen nicht umzugehen, deren Natur er verkannte, deren Können er bald über-, bald unterschätzte. Darum ist das Facit seiner positiven Leistungen eigentlich überraschend gering. An» Abende seines Leben» mußte er erleben, daß seine Ansichten drA große Niederlagen erfuhren, daß der Jingoismus mächtig wurde, der Gegensatz Englands zu Rußland wuchs und Home-Rule be graben wurde. Um so bedeutungsvoller sind die Anregungen, die er gegeben hat. In der Anregung lag die Stärke dieses Theo retikers; aus fast allen Gebieten de» öffentlichen Leben» in Eng land werden seine Gedanken noch lange hinaus wirken und Eir6 fluß behalten. Für das Ausland aber hat infolge einer eigen» thümlicken Fügung der Dinge dieser Mann mit den kosmopoli tischen Neigungen keine entscheidende Bedeutung gewonnen; und wir Deutsche sprciell, denen er übrigens wenig Wohlwollen ent gegenbrachte, werden ihn vor Allem als einen specifisch englische» Typus in der Erinnerung behalten.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite