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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.06.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980608013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898060801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898060801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-06
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In einem Flugblatte hat, wie bereit« erwähnt, kürzlich der bisherige socialdemokratische Abgeordnete für Solingen, Genosse Schumacher, seinen Kampf gegen die bisherigen Gefährten einen Kampf „gegen Wortbrüchigkeit und Verleumdung" genannt und seine Getreuen ermahnt, sich nicht al« Stimmvieh gebrauchen zu lassen von Leuten, die vor der Wahl ihre Krallen etwas eingezogen hätten, deren Ziel aber die Zerstörung der Arbeiterorganisationen und deren Wunsch die Vernichtung aller Selbstständigkeit sei. In der That haben die socialdemokratischen Führer beim Eintritt in die Wahlbewezung die Krallen mehr als jemals eingezoge»; sie protestiren allerdings gegen die Behauptung der National- Socialen, daß sie sich „gemausert" und ihre alten Ziele auf gegeben hätten, aber sie suchen diese alten Ziele möglichst zu verschleiern und sich besonders den unzufriedenen Elementen des Mittelstandes als Männer zu empfehlen, die von jeher ein Herz für alle Bedrängten gehabt hätten und in Zukunft wie bisher bestrebt sein würden, durch fried liche Reformen für eine Besserung der den Mittelstand nicht minder als die Arbeiterwelt bedrückenden Zustände zu sorgen. Es gehört nun allerdings eine fast unglaubliche Vergeßlichkeit dazu, solchen Versicherungen Glauben zu schenken; da aber unsere schnelllebige Zeit sehr rasch vergißt und in der That aus Mittelstandskreisen Stimmen laut geworden sind, die einen socialdemokratischen Reichstagsabgeordneten für das „kleinere Uebel" erklären, so sei diesen Kreisen in Erinnerung gebracht, wie die socialdemokratischen Apostel in Zeiten, in denen es sich um andere Dinge als um Stimmenfang handelte, die Mittelstands- und Arbeitersreundlichkeit der Partei, sowie deren revolutionären Charakter selbst gekennzeichnet haben. Als im Juli 1890 der Verein Dresdner Schneider gegen die Schleuderinserate in dortigen Blättern, u. A. auch in dem socialdemokratischen Blatte, Stellung nahm, schrieb die „Sächs. Arbeiterztg." wörtlich: „Wir werden immer und überall bestrebt sein, den Unter gang des Kleingewerbes zu beschleunigen. In dieser Haltung erblicken wir vorwiegend unsere revolutionäre Aufgabe." Friedrich Engels ergänzte in demselben Jahre diese Auf fassung in einem Wiener Blatte dahin: „Wenn aber das Capital diese Classen der Gesellschaft (die kleinen Kausleute und Handwerker) vernichtet, die durch und durch reactionär sind, so thut sie ein gutes Werk." Und im „Vorwärts" war in der Nr. 155 vom Jahre 1892 zu lesen: „Je rascher die Mittelklassen zu Grunde gehen, je schneller sie aus ihrer Stellung herausgeworsen werden, desto mehr beschleunigt sich die Auflösung des Capitals. Mit kühler Ruhe sieht die Arbeiterklasse, wie die bürgerliche Gesellschaft sich selbst vernichtet, wie ein Stützbalken nach dem andern abfällt und ver- wittert. Je rascher, desto bessert" Noch deutlicher, auch in Bezug auf den kleinen Bauern stand, war die „Sächs. Arbeitrrztg." im Mai 1890, indem sie schrieb: „Diese Classe (der Bauernstand) ist reactionär, die reaktionärste, die es giebt, und wenn die „Leipz. Ztg." mit dem ihr eigenen schönen Stil erklärt, daß wir nicht nur dem Schlosse des Gut-Herrn, nein, auch der kleinsten Bauernhütte den Krieg erklären, in dieser Beziehung hat sie Recht. Was wir thun können, diese Classe zu schwächen, das werden wir thun." Als im August 1890 in Leipzig eine HandlungS- gehilfen-Versammlung tagte, schrieb daS damals sich noch „Der Wähler" nennende socialvemokratische Blatt in Leipzig: „Der sonst an reinliche Arbeiter gewöhnte Saal der „Flora" duftete wie ein leeres Herings faß im Hochsommer und hat jeden falls nur mit großem Aufwand an Räucherwerk seines infernalischen Parfüms entledigt werden können. Gott der Gerechte! Es ist immer so viel die Rede von dem knoblauchartigen Gerüche der Juden, aber wahrlich, der ungewaschenste Israelit aus der Polakei ist rin Ausbund von Reinlichkeit gegenüber den Handlungs gehilfen" rc. Einen im Juli 1890 in Löbau in Sachsen abgehaltenen JnnungStag sächsischer Handwerker charakterisirte das Dresdner socialdemokratische Blatt folgendermaßen: „In Bezug auf ihren äußeren Adam war der Eindruck der Innung-meister nicht besonder» günstig. Vielfach hatte er etwas Stupide» an sich: schmale, eingedrückte Stirn mit darüber herab hängenden Haaren, stierer Blick aus kleinen, tiefliegenden Augen und dicke Lippen a« breiten Munde mit jenen zwei rigenthüm- lichen Falten in dessen Winkeln, di« in der Regel Erkennungszeichen dafür sind, daß ihr Besitzer bei der Vertheilung von Bosheit, Selbstsucht und Verschmitztheit nicht zu kurz gekommen ist." Wie es mit der Arbeiterfreundlichkeit bestellt ist, davon können, wie schon kürzlich erwähnt wurde, die socialdemo kratischen Lagerhalter ein Lied singen, die auf ihrer letzten Versammlung im Laufe de» Winters eine wöchentliche Arbeits zeit von 78 Stunden ---» 13 Stunden täglich erstrebten. Warum nicht den vielgepriesenen Acht-Stundentag, dem die Demonstration de« 1. Mai gilt!? Wie auch hier dem Arbeiter Sand in die Augen gestreut wird, erhellt aus Aeußerungen socialdemokratischer Führer, die die Unmöglichkeit dieses sogenannten Normalarbeitstages unumwunden ein räumen. So äußerte „Genosse" vr. Lütt genau im April 1897 in einer öffentlichen Versammlung gelegentlich eines Referates über die deutsche Gewerkschaftsbewegung: es sei bedauerlich, daß den socialdemokratischen Reichstagsabgeord neten durch Parteibeschlüsse hinsichtlich der Verkürzung der Arbeitszeit die Hänve gebunden seien. Die Forderung einer gleichen Arbeitsdauer für sämmtliche Gewerkschaften sei thöricht; im Hinblick auf die Arbeit der Häcker, Schlächter, Müller u. s. w. sei an eine Durchführung des Acht stundentages nicht im Entferntesten zu denken. Und das „Nordlicht" Bebel schrieb im Sommer 1897: „Was die Agitation für den Achtstundentag betrifft, so soll nickt verschwiegen werden, daß selbst unter den Wortführern der social- demokratischen Partei in Deutschland nicht wenige sind, die der Möglich- keit, schon jetzt den Achtstundentag allgemein einzuführen, skeptisch gegenüberstehen und die ausgegebene Parole, für denselben, nameut- lich bei den Maidemonstrationen, einzutreten, nur befolgen, weil die Partei und Congreßbeschlüsse dies fordern ... Diese Lau heit und Lahmheit in der Vertretung einer von der Partei und der gesammten classenbewußten Arbeiterschaft ausgestellten Forderung wurzelt hauptsächlich darin, daß man darüber ernsthafte Zweifel hegt, ob eS möglich sei, Arbeiterbranchen, die bisher täglich elf, zwölf und mehr Stunden Arbeit zu leisten hatten, auf einmal oder doch nach sehr kurz bemessener UebergangSzett die Arbeit bi» auf acht Stunden zu verkürzen" rc. Nichtsdestoweniger wird der AgitationSschwiudel um den Achtstundentag munter fortgesetzt. In Bekräftigung des revolutionären Charakters der Socialdemokratie schrieb die „Sächs. Arbeiterztg.": „Ginge die „Entwickelung" von selbst ihren Weg, dann könnten wir die Hände in den Schooß legen. Daß die „Entwickelung" von der feudalen Gesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft sich ober nicht von selbst, sondern erst durch die politische Revolution voll zogen hat, dürfte in der Eschenheimer Straße in Frankfurt a. M. nicht ganz unbekannt sein. Und der Uebergang von der bürger lichen zur socialistijchen Gesellschaft wird durch die sociale Revolution — die Geburtshelferin der Entwickelung — vollzogen werden, und deshalb ist dir Socialdemokatie stets revolutionär, auch wenn den conservotiven und demokratischen Spießern vor dem „verdammten Worte" dir Knie einknicken l" Lapiöllti sst! Deutsches Reich. K Berlin, 7. Juni. Im volkswirthschaftlichen Tbeile der Berliner Freisinns-Organe finden sich nicht selten Be trachtungen, die mit der VolkSwirthschastS Politik dieser Blätter im schroffen Widerspruch stehen und schon deshalb, vielfach aber an sich bemerkenswerth sind- Man konnte in dieser „Hinteren" Abtheilung u. A. die besten Argumente für das Börsengesetz, das an der Stirnseite auf das Maßloseste befehdet wurde, finden. Heute entgleist auf ähnliche dankenS- werthe Weise das „Berliner Tageblatt", indem es unter der Aufschrift „Eine Gründerara in den östlichen LandeStheilen" schreibt: „Der Eifer, mit dem neuerdings unsere östlichen Provinzen, be- sonders Posen, für wirthschaftliche Projecte auSersehen werden, wird in erster Reih, mit nationalen Rücksichten erklärt. Aus diesem Motiv« liegt es in der Absicht de» Staates, tu diesen Landes- theilen außer für ideale auch für wirthschaftliche Zwecke Capj- talien zu ungewöhnlich günstigen Bedingungen zur Verfügung zu stellen. Daneben rüstet sich aber auch dieBankwelt, in diese Ent wickelung einzugreifen. Nun soll nicht bestritten werden, daß, selbst abgesehen von dem nationalen Zwecke, den östlichen LandeStheilen eine stärkere materielle Förderung zu wünschen wäre, als sie ihnen bisher zu Theil wurde. Im Besonderen verträgt das LreLitwesen, wenn schon im übrigen Deutschland, so gewiß im Osten eine bessere Organisation und damit günstigere Bedingungen, alS sie bisher vorhanden wäre». Aber indem Liese Periode dec wirthschaftlichen Hebung der östlichen Landestheile gerade in eine Zeit fällt, in der die Gründungen und Emissionen so sehr in die Halme schieße», scheint doch die Warnung angebracht, daß die Steigerung deS Interesse- für die östlichen Pro vinzen sich nicht in einem Uebermaß von Gründungen bethätigen möchte. Wenn es daraus abgesehen wäre, dort Actienunternehmen zu schassen, deren Actien möglichst bald mit hohem Agio zur Börje gebracht, und für die deshalb möglichst rasch eine hohe Rente heraus- gearbeitet werden soll, so könnte damit eine verhängnißvolle wirih- schaftliche Hypertrophie geschaffen werden. Der Rückschlag, der dann folgen müßte, könnte auch für den nationalen Zweck kritisch werden, von dem diese Entwickelung ihren Ausgang genommen hat." In diesen Ausführungen ist vor Allem die Anerkennung der Nützlichkeit der staatlichen Versuche, den Credit zu heben, also auch der vom politischen Freisinn verfehmten Central- genossenschaftScasse, beachtenswerth, mehr aber noch die Warnung, die sie enthalten. Es ist in der That zweifellos, daß ein durch eine Gründungsära herbeigesührtrr „Krach" im Osten auch in nationaler Hinsicht üble Folgen nach sich ziehen müßte, und nicht nur in den Ostmarken, sondern überall in Deutschland, wo an östlichen Unternehmungen Geld verloren gegangen sein würde. DieGefahr aber, daß dies geschehe, ist nicht gering, denn die um des Agios willen gründenden Menschen freunde dürften im übrigen Deutschland bald nicht mehr viel GründbareS vorfindene» Die bedrohlichen Aussichten auf Schädigung des Nationalvermögens durch große CourSverluste mehren sich überhaupt. Das „Berl. Tagebl." erwirbt sich ein weiteres Verdienst durch die Veröffentlichung eines Schreibens deS Geh. Commerzienratbs Schwabach, des kürzlich verstorbenen Chefs des großen Bankhauses Bleichröder. In den im Januar d. I. niedergeschriebenen Ausführungen dieses hervorragenden Kenners des Papiermarktrs heißt eS: „Alle Jndustrirpopiere haben jetzt wohl seit dem Krack vor L5 Jahren wieder den höchsten Cours eingenommen, den sie je ge habt haben. Es liegt in der Natur der Sache, daß auch einmal wieder ein Rückschritt kommen wird. Die diesmalige Eonjunctur für die Industrie ist eine der andauerndsten, deren man sich erinnern kann, und den Nutzen davon hat zum allergrößten Theil das Privat- publicum, das mit zäher Ausdauer bet einem Coursniveau immer neu zugekauft und Nutzen aus Nutzen gehäuft hat, wo die Bankiers und selbst die Spekulanten an der Börse schon längst die Papiere verkauft haben. Es sei bei dieser Gelegenheit also schon jetzt sest« gestellt, daß das Privatpublicum, wenn es zu diesen hohen Coursen realisirt und sich den verhältnißmäßig billigen zinstragenden Papieren zuwendet, großen Nutzen einheimsen kann. Sollte eine schönen Tages die Conjunctur Len Zenith überschritten haben und der Coursstand herabsinken, so ist zu fürchten ." Ob die Gedankenstriche vom Briefschreiber oder von dem um die Nerven seiner Leser besorgten Berliner Blatte her rühren, ist glejchgiltig. Man weiß genau, was zu fürchten ist und um so mehr zu fürchten, als der Cours nationaler Jndustriepapiere seit dem Januar noch bedeutend gestiegen ist. 6. H. Berlin, 7. Juni. Der kürzlich in Würzburg abgehaltene ConHreß der deutschen Steinarbeiter war der erste internationale Congreß dieser Arbeiter. Es waren außer deutschen Delegirten auch schwedische, norwegische und österreichisch-ungarische anwesend; aus Holland, Frankreich und Belgien waren Berichte eingeschickt und die dortigen „Genossen" erklärten sich mit den Vorarbeiten zur Schaffung eines internationalen Verbandes der Steinarbeiter einverstanden. Es ist denn auch bereits ein internationales AgitationS- Comit6 mit dem Sitz in Berlin eingerichtet worden. Man trug sich in Würzburg überhaupt mit großen Plänen; nian wollte die Achtstundenarbeit einführen und die Accord- arbeit beseitigen; natürlich wurde auch die gegenseitige Unterstützung bei großen Streiks als nothwcndig bezeichnet und zugesichert. Wenn nun auch vorläufig der internationale Verband der Steinarbeiter nur auf dem Papiere ftcbt und die deutschen Mitglieder auf Unterstützung der Fremden noch lange vergebens warten werden, so ist doch immerhin be- Vom Kuß. Cultnrhistorische Skizze vou vr. Reinhart Thilo. Nachdruck «erboten. Wer die Geschichte des Kusses schreiben könnte, der würde die eigenartigste und für Viele wohl allerinteressanteste Dar stellung der Weltgeschichte liefern, die wir noch besitzen. Und freilich spielt der Kuß in der Weltgeschichte seine Rolle. Er hat Kriege entzündet und Frieden gestiftet, hat Haß und Liebe gesät, hat Fortschritte gefördert und Fortschritte gehemmt. „Da die Welt geschaffen wurde, wurde auch der Kuß geschaffen und die bittere Liebe", also singt ein cyprisches Volkslied, und Jedermann wird geneigt sein, diese Behauptung ohne weiteren Beweis als zutreffend anzusehen. Dennoch hat ein jüngerer norwegischer Schriftsteller, Kristoffer Nyrop, der die Kultur geschichte des Kuffeü zum Gegenstände eines artigen Büchleins gemacht hat, mit Recht die Frage nach dem Ursprünge des Kusses aufgeworfen. Denn daß die saugende Muskelbewegung der Lippen, als welche die prosaischen Naturgelehrten den Kuß definiren, an und für sich der natürlich», dem Menschen gewisser maßen instinktiv angeborene Ausdruck der Liebesempfindung sein sollte, das ist schon an sich unwahrscheinlich genug. Für uns zwar sind Kuß und Liebe so unzertrennlich zusammen gewachsen, daß wir uns die eine ohne den anderen nicht denken können; noch aber liefert uns die Ethnographie der Naturvölker Beweise dafür, daß der Kuß keineswegs überall im Liebesleben die Rolle spielt, die wir gewohnt sind. W. Reade erzählt von dem Schrecken, der ein junges afrikanisches Negermädchen er faßte, als er sie küßte. Die Eskimos kennen den Kuß überhaupt nicht, und daß er bei manchen finnischen Stämmen geradezu al» etwa» Unanständiges gilt, beweist die Aeußerung einer Finnenfrau, die, als ihr von der europäischen Sitte des Kusses erzählt wurde, in die Worte ausbrach: „Das sollte mein Mann nur versuchen; ich würde ihm so einheizen, daß er es eine ganze Woche fühlen soll." Also der von der Natur vorgeschriebene Liebesgruß ist unser Kuß nicht. Der Beantwortung der interessanten Frage nach seinem Ursprung führt un» die Thatsache näher, daß bei zahl reichen Völkern der sogenannte malayische Kuß, bei dem die beiden Personen ihre Nasen gegeneinander drücken oder an einander reiben, gebräuchlich ist. Die Polynesier, die Malayen und manch« afrikanischen Stämme haben diese Gitte, und wenn man die Beobachtung de» französischen Gelehrten Gaidoz hinzu zieht der die Bemerkung gemacht hat, daß Katzen, die einander ihre Zärtlichkeit zeigen wollten, die» in der Weik« ausdrückten daß sie ihre Nasen gegeneinander rieben, so wird man kaum noch zweifelhaft sein können, daß bei dieser Art Kuß der Geruchs sinn die entscheidende Rolle spielt. Hat doch jeder Mensch be kanntlich seinen eigenen Geruch! Die Bewohner der Philippinen haben den Geruchssinn so weit entwickelt, daß sie am Gerüche eines Schnupftuches erkennen können, wem es gehört; Liebende verehren sich dort darum ein Stück von ihrem Kleide, und daß auch bei uns ähnliche Wahrnehmungen in der Liebe ihre Rolle spielen, beweisen die bei den Dichtern oft wiederkehrenden Be merkungen von dem feinen Parfüm, das von der Geliebten ausgeht. Diese Analogie wird über den Ursprung des Kusses wohl ausreichende Klarheit verbreiten. Der Geruchs- und der Geschmackssinn sind seine Pathen, und da durch den Antheil mehrerer Sinne die bei uns gebräuchliche Form deS Kusses eine intensivere Wahrnehmung der EigenthUmlichkeiten des Anderen mit sich bringt als der malayische Kuß, an dem nur der Geruchssinn betheiligt ist, so stellt der Kuß die höhere Form der Entwickelung dar, wie er denn auch z. B. in Mada gaskar, wo er mit dem malayische» Kuß in Berührung getreten ist, den letzteren allmählich verdrängt. Es mag wohl sein, daß unserem ästhetischen Empfinden die Vorstellung nicht gerade angenehm ist, daß der Kuß, der so zahlreiche Kunstwerke höchsten Range» inspirirt hat, der für uns den zartesten und innigsten Ausdruck des Liebesgefühls bildet, schließlich keinen anderen Ursprung haben soll, als die Gewohnheit der Kuh, die ihr neugeborenes Kälblein eifrig beleckt. Doppelt interessant ist es, daß sich die Erinnerung an diesen Ursprung durch alle Zeiten hindurch bis auf die heutigen Tage in dem Sprachgebrauche erhalten hat. Denn wer wüßte nicht, daß ein Kuß vor allen Dingen „süß schmeckt", — fuß, wie des Weibes leichter Geist und duftig wie junger Wein, wie ein rumänisches Volkslied sagt. Und der galante Minnesänger, König Wenzel von Böhmen, wendet auf den küssenden Mund sogar das Epitheton „zuckersüß" an. Wie hier, so tritt die Erinnerung an den sinnlichen Ursprung des Kusses auch in der Forderung eine alten Sprichwortes hervor, daß der Kuß nach etwa« schmecken muß; rin französisches Liedchen weih zu erzählen, daß der Liebhaber diese Forderung auf di« Weise erfüllt, daß er sich immer „gute Butter frisch" auf die Lippen schmiert, wenn er sein Mädchen küßt. Der Geschmack dieser Dame steht allerdings unsere» Wissens in der Weltliteratur isolirt da; um so häufiger findet sich das Verlangen des Mädchens, daß der Küssende einen Bart haben muß. „Ich bin noch zu jung, mich zu ver- heirathen", singt der rumänische Jüngling, „mein Bart ist noch nicht genug gewachsen." „Ein Kuß ohne Bart ist ein Ei ohne Salz", sagt ein deutsche» Wort, und die jütischen Mädchen drücken sich erheblich drastischer dahin aus, einen Burschen ohne Primchen und Bart zu küssen, das sei dasselbe, wie eine tönerne Wand -u küssen. Müssen wir nun mit Schmerz zugeben, daß der Kuß nicht der ursprünglichste und einzige Liebesgruß war, so finden wir auch sonst, daß er im Laufe der Geschichte mancherlei Wandlungen durchgemacht hat, die man bei einem Dinge, dessen unendliche Mannigfaltigkeit eben in seiner Gleichförmigkeit liegt, gar nicht erwarten sollte. Ist doch selbst dem Munde sein alleiniges und erstes Anrecht auf den Kuß bestritten worden! Zwar singt unser trefflicher Logau liebenswürdig und zutreffend: Wer küssen will, küss' auf den Mund, Das Andere giebt nur halb Genießen. Gesichte nicht, nicht Hols, Hand, Brust: Der Mund allein kann wiederküssen. Aber in einem Gedichte des königlichen Troubadours Thibaut de Champagne finden wir eine eingehende Erörterung darüber, ob man seine Herzenskönigin auf den Mund oder die Füße zu küssen habe. Thibaut selbst ist Gegner des Mundes; auf den Mund, so meint er, küsse man ja die erste beste kleine Hirtin; wer seiner Herrin Ergebenheit beweisen, wer ihre Gunst erringen wolle, der werde ihr zart und ritterlich Len weißen Fuß küssen. Die Streitenden einigen sich schließlich sehr ver ständig dahin, daß beide Küsse ihre Berechtigung haben. Eine andere Frage, die, wenn man so sagen darf, die Topographie des Kusses betrifft, hat der bekannte alte Cato insofern be antwortet, als er den Senator Manilius degradirte, weil er seine Frau am helllichten Tage und in der Anwesenheit seiner Tochter geküßt hatte. Auch Plutarch findet es häßlich, wenn sich Menschen in Anderer Gegenwart küssen, und der Kirchen vater Clemens von Alexandrien verbot es den Eheleuten, sich in Gegenwart ihrer Diener zu küssen. Da sieht man doch den Segen des Fortschritts! Heute giebt es keine Catonen mehr, und unsere Liebenden, haben sie auch den alten Geschmack der Liebespaare für die Einsamkeit nicht verloren, versagen sich doch keinen Kuß, weil Andere zugegen sind. Wer den Kuß durch die ganze Geschichte verfolgte, würde eine große Zahl der interessantesten Fragen und Erscheinungen der Culturgeschichte treffen. Nur ein paar Andeutungen über die Wanderungen und Wandlungen des Kusses in der Ge schichte seien hier gemacht. Die strengen alten Rabbiner er kannten nur drei Arten von Küssen an: den Begegnungskuß, den Abschiedskuß und den Kuß der Ehrerbietung. Daß sie damit den Kuß der Liebe doch nicht aus der Welt schufen, beweist das Hohelied. Doch war in der alttestamentarischen Zeit allerdings der Kuß als allgemeine Begrüßungsart sehr verbreite». Naomi z. B. küßt zum Abschied ihre Schwieger töchter, Mose» beugt sich vor seinem Schwiegervater und küßt ihn. Auch bei den Römern war der Familienruß allgemein üblich, und darauf bezieht sich des Properz Vorwurf an seinen Schatz, sie finde immer nach Gutdünken eine Masse Verwandte heraus, so daß sie immer Jemanden habe, den sie küssen könne. In Rom war eS auch, wo der Kuß sich sogar eine Stellung im Rechte eroberte; denn nach römischem Rechte besiegelte der Kuß eine Verlobung in juristischer Beziehung, berechtigte daher z. B., im Falle einer der Verlobten vor der Hochzeit starb, den über lebenden Theil zu materiellen Ansprüchen. Uebrigens artete in der römischen Kaiscrzeit die Kllfferei geradezu zu einer Land plage aus. Der gute Ton verlangte, daß man diesen Gruß nahm und gab, und da liefen in großer Zahl dasiatoras — „Küsser" — herum, denen man unmöglich entgehen konnte. Besonders Martial hat sich in seinen Epigrammen oft recht drastisch über die Kußplage ausgedrückt und freimüthig erzählt, was für Mittel er gebrauche, um seine Lippen den Küstern zu verekeln. Im Mittelalter, das für Symbole aller Art einen so lelz haften Sinn hatte, spielt der Kuß natürlich eine große Rolle. Dreimal küßten im Namen der heiligen Dreieinigkeit die Eltern ihr Neugeborenes, um es zu segnen; die Gäste küßten bei der Hochzeit die Braut, der Knappe empfing beim Ritterschlag, der junge Magister bei der Doctorpromotion einen Kuß. All gemein verbreitet war in Europa der Kußtanz. Montaigne hat 1580 zu Augsburg einen solchen Kußtanz gesehen; mit einem Kusse auf die Hand forderte der Herr die Dame zum Tanze auf, und unter Küssen wurde der Tanz fortgesetzt. Auch abergläubische Bedeutung und Wirksamkeit wurde dem Kusse vielfach beigemessen. Man erinnert sich aus Heine's Gedicht an den Kuß der Wasserfee, der den König Harald Harfagr in Vergessenheit einwiegt, an die Küsse der Märchenprinzessinnen, die die verzauberten Prinzen entzauberten. Ein Nachklang solchen Aberglaubens ist es ja noch, wenn wir die Kinder, die sich geschlagen haben, auf die schmerzende Stelle küssen und sie versichern, daß es nun gut würde. Jndeß freilich, derartige Küsse sind sozusagen nur Küsse zweiter Hand. Kuß und Liebe gehören für uns nun einmal zusammen wie Rose und Duft, und Hölty hat die Bedeutung des Kusses nicht übertrieben, wenn er singt: Küsse geben, Küsse rauben Ist der Welt Beschäftigung. — wobei denn freilich zu bemerken ist, daß über die geraubten Küsse große Meinungsverschiedenheiten herrschen. „Zwei Küsse — was ist das? Man wechselt sie wie zwei Kugeln, die keinen Schaden thun!" sagt der leichtsinnige Franzose. Er heblich strenger dachte der berühmte Lustspieldichter Hsolberg, der Damen, denen rin Kuß abgepreßt wird, den energischen Gebrauch ihrer Hand empfahl. Eine erschlossen« Engländerin biß einmal einem Kußräuber die Nasenspitze ab, und da» Gericht erklärte, daß das ihr gutes Recht gewesen sei. DaS deutsche Mädchen aber sagt nach einem alten Worte: „Ich mag das Küssen nicht, wenn ich nicht dabei bin." Da mag die Leserin nun selbst entscheiden, was sie für richtig hält.
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