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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.05.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-05-27
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980527013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898052701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898052701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-05
- Tag1898-05-27
- Monat1898-05
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Reclamen unter dem Rrdaction-strich (4gv- spalten- 50/^» vor den Familiennachrichte» (6 gespalten) 40/4- Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Taris. »o—p > Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen«Ausgabe, ohne Postbrsörderung 60.—, mit Postbefördrrung 70.—. Zunahmrschlnß sur Anzeige«: Abend-Au-gabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestelle» je eia« halbe Stunde früher. Anzeige» sind stets an di« Expedition zu richten. Druck uud Verlag von E. Polz tu Leipzig. 264. Freitag den 27. Mai 1898. S2. Jahrgang. AationaUiöerale Partei und Mittelstand. IV. Novelle zur Gewerbe-Ordnung. Da- seit länger als 10 Jahren au» dem Kreise der seßhaften Gewerbetreibenden erhobene Verlangen nach einer auderweiten Regelung der gesetzlichen Bestimmungen über daS Wandergewerbe fand in der Reichstagssession 1895/96 seine endliche Erfüllung. Die uuterm 14. Januar 1896 vorgelegte Novelle zur Gewerbe-Ordnung war in ihren wesent lichen Theilen eine Wiederholung deö Entwurfes, den die Regierung bereits unterm 5. Januar 1895 dem Reichstag unterbreitet hatte, der ebenfalls ein alter Bekannter war und nur noch eine Auswahl annehmbarer Bestimmungen aus dem im Winter 1892/93 von Seiten des Centrumö beantragten Gesetzentwurf enthielt. Mit allen diesen früheren Vorlagen hatte sich auch der Reichstag schon aus giebig befaßt, die darüber au- den Jahren 1893 und 1895 vorliegenden gedruckten Commissionsberichte aber nicht durchberathen, weil sie beide Male so spät im Früh jahr erschienen, daß sie im Plenum nicht mehr er ledigt werden konnten. Die allgemeine Besprechung des neuesten Entwurfs am 10. und 11. Februar 1896 ließ erkennen, daß eine sehr große Mehrheit — Rechte, Centrum nebst Anhängseln, liberale Mitte — den Entwurf als geeignete Unterlage einer Verständigung erachtete. Dagegen erschien der radikalen Linke» nicht nur der Entwurf an sich, sondern namentlich im Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestrebungen der Session 1895/96 höchst bedenklich. Gab man auch zu, daß gewisse Auswüchse im wirthschaftlichen Leben wahr nehmbar geworden seien, die bekämpft werden müßten, so wollte man doch den vorliegenden Gesetzesvorschlägen nicht zustimmen, weil dieselben angeblich auf Beschränkungen der freien Bewegung im gewerblichen Leben hinausliefen, die vom Interesse des Ge meinwohls nirgend- geboten seien. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Erklärungen wurden natürlich auch die praktischen Bedenken zu einzelnen Bestimmungen des Entwurfes wiederholt, nament lich von Vertretern derjenigen Distrikte des Reiche-, in deren Erwerbsleben solche Einzelbestimmungen mehr oder minder scharf ringreifen sollten. Insbesondere ver wahrte schon bei dieser Gelegenheit der Vertreter der Stadt Leipzig, Abgeordneter vr. Hasse, den deutschen Buchhandel gegen die ihm zugedachten Erschwerungen des Colportage- betrirbeS, während der Abg. Quentin (nat.-lib.) als Vertreter der wirthschaftlichen Interessen deS RavenSberger Landes die seit Anfang des Jahrhunderts dort heimische Leinen-Industrie, desgleichen die Bielefeld-Herforder Industrie der landwirthschaftlichen, der Näh-Maschinen und der Fahr räder gegen Beschränkungen ihres, durch Detailreisende zur Blüthe gebrachten und in Blüthe erhaltenen Betriebes in Schutz zu nehmen bestrebt war. In Verbindung mit der Revision deS Titels III der Ge werbe-Ordnung (Wandergewerbe) bezweckte auch dieser Ent- Wurf einige Aenderuogen der Gewerbegesetzgebung, soweit sie das Bühnenwesen, die Privatheilanstalten, den Droguenhandel, den Spirituoseuhandel in Consumvereinen, Kleinhandel mit Bier, Handel mit Loosen u. s. w. betrifft. Die Novelle wurde ohne CommissionSberathung in zweiter Lesung vom 6. bis mit 11. März und in dritter Lesung vom 8. bis mit 12. Juni 1896 durchberathen und nach wenig erquick lichem Streit, bei welchen« der Oeffentlichkeit durch eine Hochfluth von AbänverungSanträgen mehr wie einmal ein Schauspiel völliger Hilflosigkeit dargeboten wurde, am 22. Juni in namentlicher Abstimmung mit 163 gegen 57 Stimmen und 2 Stimmeuenthaltuugen angenommen. Wir heben als meist umstrittene Frage der Novelle die jenige heraus, die eine anderweite gesetzliche Regelung deS Detailreisens bezweckte. Der Regierungsentwurf enthielt generell ein Verbot deS DetailreisenS, verlangte aber für den BundeSrath die Vollmacht, für bestimmte Maaren Aus nahmen zuzulassen. Demgemäß sollte dem tz 44, Abs. 3, der das Auskäufen von Maaren außer bei Kaufleuten und beim Producenten verbietet, folgender Zusatz angefügt werden: „Jngleichen darf daS Aufsuchen von Bestellungen auf Maaren, öweit nicht der BundeSrath für bestimmte Maaren Ausnahmen »läßt, nur bei Kaufleuten oder solchen Personen geschehen, in deren Gewerbebetriebe Maaren der angebotenen Art Verwendung finden." Dem lebhaften Streite darüber, ob überhaupt ein Be dürfnis für eine anderweite Regelung vorhanden sei, gab ein Antrag Hasse eine andere Richtung. Derselbe acceptirte den Gedanke» der Regierungsvorlage; nur wollte er die selbstverständlich auszunehmende, weil in einem späteren Artikel besonders geregelte buch händlerische Colportage auch ausdrücklich auSscheiden und er wollte weiter den BundeSrath bevollmächtigen, wie für Maaren, so auch für Gegenden und kür „Gruppen von Ge werbetreibenden" Ausnahmen zuzulassen. Drei Wochen später, bei der zweiten Lesung, legten die Abgeordneten Gröber, Hitze, von Holleufer und Jakobskötter einen Antrag vor, der !>is auf daS redaktionelle Aeußere wörtlich genau dasselbe ver langte, so daß es also schiene, als wär für die Erledigung der Materie im Sinne der Regierungsvorlage ein breiter Boden gefunden. Indessen schied sich nun eine vom Abg. Freiherrn von Stumm geführte Gruppe von Freiconservativen, Con- servativen und Ultramontanen auS der bisherigen klerikal- conservativen Gemeinschaft auS, um dem BundeS- rathe die AuSnahmebefugniß zu bestreiten und damit daS Detailreisen überhaupt zu verbieten. Wieder eine andere Gruppe - von Freunden der Vorlage be mühte sich, bestimmte Ausnahmen, abgesehen vom Colportage- buchhandel, schon im Gesetze zu statuiren. Ein Antrag vr. Bürklin (nat.-lib.) wie ein späterer AntragVr. v. Cuny (nat.-lib.) wollten den Weinhandel unter die gesetz lichen Ausnahmen ausgenommen sehen, ein Antrag Quentin (nat.-lib.) wollte außer dem Weinhandel namentlich noch den Handel mit Leinen, Wäsche und Aus steuern, sowie mit Baumaterialien freigehalten wissen. Ein Antrag Fritze »(Düsseldorf) - Human» (Centrum) wollte allgemein die „Gegenstände der Leinen- und Wäsche fabrikation" befreien. Während der Weinhaudel in dieser zweiten Berathung dem Wohlwollen deS BunvesratheS über lassen blieb, wurde der Antrag Fritzen-Humann zu Gunsten der Leinen- und Wäschefabrikation mit 130 gegen 109 Stimmen angenommen. Mit dieser einzigen Einschaltung, wo nach die Leinen- und Wäschefabrikation befreit bleiben sollte, wurde demnächst auch Artikel 9 nach dem Anträge Gröber, Hitze, von Holleufer, Jakobskötter (recte Hasse) an genommen, der Antrag Stumm u. Gen. dagegen abgelehnt. Nachdem durch dieses Ergebniß der zweiten Lesung eS gelungen war, für eine Ausnahme (Leinen und Wäsche) Raum im Gesetze selbst zu schaffen, verstand eS sich von selbst, daß zur dritten Lesung jeder besonders daran interessirte Gewerbezweig auch für sich dieselbe gesetzliche Gunst zu erwerben strebte. In acht, zur dritten Lesung vorgelegten Anträgen waren so ziemlich die sämmtlichen Erzeugnisse enthalten, deren Vertrieb durch Detailreisende geschieht, vorerst wieder der Wein, dann aber auch Nähmaschienen, Fahr räder, Bekleidungsstücke, Möbel, Musikinstrumente, Bau material ,c. und last not wagt der Tabak und die Tabak fabrikate. Schon die Menge dieser speciellen Wünsche ließ er kennen, daß eS auf diesem Wege der gesetzlich zu statuirenden Ausnahmen nicht ging. Entweder mußte man den Artikel ganz ablehnen und Alles beim Alten lassen, oder wenn man der Ueberzeugung lebte, daß ein gesetzgeberisches Eingreifen nicht längeren Aufschub dulde, mußte man dem BundeSrath alle Ausnahmen anheimstellen, wofern man nicht das Detail reisen allgemein verbieten wollte. Eine konservativ klerikale Gruppe hatte sich zu diesem letzteren, radikalen Auskunftsmittel entschlossen, mußte aber alsbald erkennen, daß damit die ganze Novelle scheitern würde. Man gab hier also nach und betrat von Neuem den Weg, den der Abg. Hasse zu allererst gewiesen und den in der zweiten Be rathung auch die klerikal-konservative Gruppe eingehalten batte. Am dritten Tage der dritten Berathung brachten die Abgg. Placke, vr. Paasche und vr. Hasse mit Unterstützung der nationalliberalen Fraktion und der Abg. Richter mit Unter stützung der Volkspartei je «inen selbstständigen Antrag ein, um die Wiederherstellung deS Satzes „soweit nicht der BundeSrath rc. Ausnahmen zuläßt" in Vorschlag zu bringen. Der daraufhin von konservativer Seite unterstützte Antrag von Stumm ging sogar noch weiter; er unterschied nicht mehr zwischen Ausnahmen und absolutem Verbot, sondern nur noch zwischen Ausnahmen und bedingtem Verbot: soweit der BundeSrath nicht die Ausnahme gestattet, ist das Detail reisen nur verboten, soweit nicht die vorgängige ausdrückliche Aufforderung dazu ergangen ist. Dieser Antrag von Stumm wurde, nachdem die Ver günstigung für die Leinen- und Wäschefabrikation mit 114 gegen 113 Stimmen und dadurch natürlich auch jede andere Vergünstigung solcher Art abgelehnt war, mit 147 gegen 98 Stimmen angenommen und damit dem Artikel 9 (ursprüng lich 8) folgende Fassung gegeben: „An Stelle deS 8 44, Abs. 3 der Gewerbe-Ordnung treten folgende Bestimmungen: Das Aufkäufen darf ferner nur bei Kaufleuten oder solchen Personen, welche die Maaren produciren, oder in offenen Verkaufsstellen erfolgen. Jngleichen darf das Auf suchen von Bestellungen auf Maaren, mit Ausnahme von Druckschriften, anderen Schriften und Bildwerken und, soweit nicht der BundeSrath noch für andere Maaren oder Gegenden oder Gruppen von Gewerbetreibenden Ausnahmen zuläßt, ohne vorgängige ausdrückliche Aufforderung nur bei Kaufleuten in deren Geschäftsräumen, oder bei solchen Personen geschehen, in deren Geschäftsbetriebe Maaren der angeboteuen Art Ver wendung finden. Hinsichtlich des AufsuchenS von Bestellungen auf Druckschriften, andere Schriften und Bildwerke finden die Vorschriften des 8 56, Abs. h entsprechende Anwendung." Den Hausir handel schränkt die Novelle in zweifacher Weise ein. Die jungen Leute unter 25 Jahren bekommen in der Regel den Wandergewerbeschein überhaupt nicht mehr, Kinder unter 14 Jahren sind ganz ausgeschlossen, Haufirern, die wegen gewisser Vergeben rc. bestraft sind, soll auf längere Frist als bisher, bis zu 5 Jahren, der Wandergewerbeschein entzogen werden. Ferner werden weitere Gegenstände vom Hausirhandel ausgeschlossen, namentlich Brillen, optische Instrumente, Schmucksachen, Futtermittel, Wurzel reben u. a. Der Handel mit Loosen, mit Droguen rc. ist unter schärfere Aufsicht gestellt; der Hausirhandel mit Rindvieh, Schweinen, Schafen, Geflügel u. A. kann je nach dem Erforderniß der Seuchenabwehr unterdrückt oder ein geschränkt werden. Die «ndgiltige Abstimmung ergab, wie schon bemerkt, eine Mehrheit von 163 gegen 57 Stimmen. Mit der Minderheit stimmten von den Nationalliberalen die Vertreter der dürftigeren, gebirgigen, auf den Hausirhande in erster Linie angewiesenen Gegenden deS linken Rheinufers (Westrich,Hunsrück),deSErzgebirgeS, desWesterwaldeS, desOber- harzeS und einiger großen Städte. Von den Antisemiten waren nur 6 am Platze, die für die Vorlage stimmten; dieAbga. Ahl- wardt, Bindewald, vr. Boeckel, Hirsche!, Koehler, Lieber- Meißen, Werner, Zimmermann, Graefe, Müller-Waldes und Klemm-Dresden fehlten. Wenn in der Novelle nicht das erreicht worden ist, was von vielen Seiten als wünschenSwerth bezeichnet war, so darf nicht über sehen werden, daß eS sich um ein außerordentlich weites, die mannigfaltigsten Interessen berührendes Gebiet handelt, au welchem nur vorsichtig operirt werden darf. Wie schwierig die Verhältnisse liegen, haben sehr deutlich die Verhandlungen des Leipziger Verein- selbstständiger Kauf leute und Fabrikanten zur Wahrung der ge meinschaftlichen Interessen gezeigt, der sich wieder holt mit der Frage des Detailreisens befaßte und hierbei zu sehr verschiedenen Ergebnissen kam. Die nationalliberale Partei glaubt auch hier in maßvoller Weise den verschiedenen collidirenden Interessen nach Möglichkeit gerecht geworden zu sein. Zur Leipziger Neichstagswahl. X. 8. Leipzig, 26. Mai. Also fünf oder gar sechs Candidaten werden sich um daS Mandat von Alt-Leipzig in den Reichstag bewerben. Sechs Parteien — außer den verbündeten Nationalliberalen und Conservativen und den Socialdemokraten auch noch die „Deutsch-Socialen" oder Antisemiten, die „Unabhängigen" oder „Mittelstandspartei", die „National-Socialen" und die „Deutschfreisinnigen" — streiten um die Ehre, unsere gute Stadt im Reichstag zu vertreten. Doch wir sagen Wohl zu viel! Sollte es wirklich diesen Karteien Ernst damit sein, den XII. Wahlkreis in Besitz nehmen zu wollen? Sollten sie wirklich sich mit der kühnen Hoffnung schmeicheln, zwischen den Ordnungsparteien und der Socialdemokratie, die allein diesen Wahlkreis bisher sich ernstlich streitig machten, als „triumphirender Dritter" eine ausschlaggebende Rolle spielen zu können? Unmöglich! Die Deutschfreisinnigen haben bei früheren Wahlen nur eine kaum nennenswerthe Stimmenzahl gehabt. Die National-Socialen, diese noch sehr jugendliche Partei, dürften es noch weniger hoch bringen. Am Ersten hat die deutsch-fociale Partei Anspruch auf Beachtung; doch hat auch sie bei der Reichstagswahl von 1893 trotz der Beliebtheit, deren ihr damaliger Candidat in weiten Kreisen sich erfreute, die Erfahrung gemacht, daß ihr Anhang wesentlich geringer ist, als der der verbündeten Nationalliberalen und Conservativen. Die Lorbeern, welche die deutsch-sociale Reformpartei im Reichstage besonders infolge ihrer Stellung zum Margarine- und zum Marine gesetz gepflückt bat, sind sicherlich nicht geeignet, die Aussichten der hiesigen Deutsch-Socialen zu verbessern. Die „Unab hängigen" können schon daraus, daß es ihnen noch nicht geglückt ist, einen eigenen Candidaten zu finden, den Schluß ziehen, daß sie einen breiten Boden in der Bevölkerung Leipzigs nicht besitzen. An eine gegenseitige Unterstützung dieser kleinen Gruppen scheint — nach den Aussprachen ihrer Redner in der öffent lichen Versammlung der National-Socialen am 21. Mai — nicht zu denken. Die Erwartung, welche Professor Sohm aussprach, ein Theil der socialdemokratischen Wähler werde sich zu den National-Socialen schlagen, dürfte sich wohl ebenso als eine PhantaSmagorie enthüllen, wie desselben Redners Weissagungen von einer Wesensänderung der Socialdemvkratie selbst. Welche auch nur entfernte Hoffnung haben also diese Zwischenparteien, ihre Candidaten im Gegensatz zu den Ordnungsparteien und der Socialdemvkratie durchzusetzen? Nicht die allergeringste! Das wissen sie auch oder müssen sie doch wissen, wofern sie nicht auch in diesem Punkte reine Ideologen sind. Wenn dem nun aber so ist, wenn diese Parteien nicht bie geringste Aussicht haben, ihren Candidaten zum Siege zu verhelfen, womit entschuldigen sie ihr Vorgehen, weiche unter allen Umständen — die Zahl ihrer Anhänger und Mit läufer mag groß oder klein sein — Verwirrung und Spaltung in die Reihen der Ordnungsparteien bringt und möglichst der Socialdemvkratie zum Siege verhilft? Wollen sie eS damit rechtfertigen, daß eine „Partei" eS sich schuldig sei, „eigene Candidaten", wo sie nur könne, aufzustellen, so geben sie damit zu, daß nur ein beschränktes Parteiinteresse, nicht (wie doch ihre Namen glauben machen wollen) ein großes „nationales" und „deutsches" Gesammtinteresse ihr Verfahren bestimmt. Nun sagen wohl die Betheiligten zu ihrer Entlastung: „Sie könnten ja eventuell in der Stichwahl ihre Stimmen den Ordnungsparteien zuwenden, und es sei daher für diese durch die vorherige Aufstellung besonderer Candidaten nicht verdorben." Allein fürs Erste weiß man nicht, ob die« wirklich geschieht. Ein Vertreter des DeutschfreisinnS in der Versammlung vom 21. Mai, Herr Bachmann, war offen herzig genug, zu erklären, seine Gesinnungsgenossen würden dann für den socialdemokratischen Candidaten stimmen, dessen Wahl ihnen (im Vergleich zu einer Wahl des Cartel- candidaten) „als daS geringere Uebel erscheine". Ob die National- Socialen für diesen Letzteren und gegen den Socialdemokraten stimmen werden, scheint zweifelhaft. Hat doch Pfarrer Nau mann sogar auf dem Delegirteutage der Evangelischen Arbeitervereine zu Cassel (wo er eigentlich nichts zu schaffen hatte) den Ausspruch gethan, „Ter Arbeiterbote" (das Central organ dieser Vereine) habe bei den letzten ReichStagSwablen Propaganda gemacht für die nationalliberalePartei; er wünsche, daß eS bei den bevorstehenden ReichStagSivahlen nicht wieder ge schehe" (!) — worauf ihm allerdings dort sehr scharf entgegnet Die Memoiren -er Laronin Cecile -e Courtot. i. Die Memoirenliteratur wächst in erfreulicher Weise und besonders erweist sich die französische Revolution dafür recht ergiebig. So wenig freundlich manche Erscheinungen deS vorigen Jahrhundert- sind, so interessant sind sie dennoch, und wenn auch die Schreckensjahre soviel de- Abscheulichen aufweisen, so sind sie doch auf der anderen Seite wieder mit so vielen Episoden wahrer und großer Liebe durchwebt, daß man ihre Geschichte nicht zu häßlich findet, um nicht immer wieder darauf zurückzukommen und den guten Kern, der in der ganzen Entwickelung am Ende de- vorigen Jahrhundert» strckt, herau-zuschälen. Eine au-gesogene Natwn, rin schwacher Fürst, ein zum Theil verkommener Adel, Entnrrvung und Unwissenheit überall, Verschwendung und bittere Armuth und dabei ein rege- und anregende- Geistesleben, eS ist kein Wunder, wenn bei solchen Verhältnissen da« Blut zum wallen kommt und sich in Explosionen Luft macht. Da bricht «ine Zeit an, der man die Eigenschaft schrecklich eben sowenig absprechea kann, al- groß und leidenschaftlich. Die Bestie in» Menschen wird lebendig, sie kehrt ihr Innerste- herau-, sie lehrt zur Natur zurück, alle Triebe, die Sittlichkeit und Sitte zurückhielten, werden gelöst und ein Schauspiel aufgeführt, da nach nach hundert Jahren mit Entsetzen erfüllt. Wa» ist gegen den Naturali-mu- der SOer Jahre de- vorigen Jahr hundert- unser naturalistisches Gethue jetzt. Wie klein sind doch die Menschen in ihrer Leidenschaft gegen die vor hundert Jahren und wie viel mehr reden sie davon. Damals nutzten sich die Menschen in wenigen Jahren ab. Unsere heutigen Natura listen sind gegen jene Zwerge, sie sind nicht mehr Natur, sie geben nur vor, e» zu sein: sie möchten gern die Bestie in sich selbst zeigen und alle Welt vor sich erzittern machen, und können eS doch nicht, da mittlerweile da- Menschengeschlecht «in anderes geworden ist. Und die Mutter dieser neuen Ent wickelung ist die Revolution selbst. Aber weil ein großer Theil unserer ganzen geistigen uud socialen Fortentwicklung in jener Zeit wurzelt, de-halb kehren wir so oft zu ihr zurück, und suchen kleine Züge zu finden, die uns da- große Drama noch verständlicher machen. Da- Buch*), da- un- heute vorliegt, bringt eigentlich nicht« Neue- zur Geschichte der Revolution, aber eS giebt unS etwas, waö eigentlich noch wichtiger, noch interessanter für unS ist, nämlich Züge au- dem Leben bescheidener altmärkischer Edel leute uud Streiflichter aus den Hof unter Friedrich Wilhelm II. Der Herausgeber hat rin redliche-Bestreben, objektiv zu sein, und hat pietätvoll gegen sein« Urahne alle Aeußerungen und Be trachtungen wirdergegebeu und darunter sind manche, die für einen Hohenzollern nicht schmeichelhaft sind. Die Geschichte hat zwar über Friedrich Wilhelm II. gerichtet, wie aber eine Zeitgenossin urthrilt, auch da- ist noch anregend zu hören. Frau von Alven-leben war eine hochgebildete Frau, eine *) Dir Memoiren drr varo^rrss« L«eilr de Lourtot, Vamv S'awnr der Fürstin von LambSlle, Prinzeß von Savoyen- Tarignan. Lin Zeit« und LebrnSbild nach Briefen drr Baroneß an Frau v. Alven-leben, geb. Baroness« Los, und uach dieser Tagebuch bearbeitet von Moritz von Kats«,berg. Verlag von Hermann Schmidt «ad Larl Süath«r, L«ipzig. geborene Löe, die in einem französischen Kloster erzogen, aus Liebe zu ihrem Gatten protestantisch wurde und dem halb invaliden Officier Baron von Alven-leben, den sie beim Rheinfeldzuge kennen gelernt batte nach dem stillen Vorwerk Kalbe an der Milde folgte. Sie führte ein Tagebuch, und zwar ihrer Erziehung gemäß, in französischer Sprache, und bat fleißig darin eingetragen, Hut auch augenscheinlich mit Offenheit ihre Empfindungen niedergeschrieben. In die Stille ihre« häuslichen Glückes tritt plötzlich eine neue Person, das Fräulein Cecile de Courtot, die von einem Verwandten der AlvenSlrben, der sie mehr todt als lebendig in Belgien, als Opfer der Revolution gefunden, nach Kalbe geschickt wird, um dort zu gesunden und eine Zu- stucht zu finden. Sie, die große Dame, die Hofdame der Prinzessin Lamballe, sse, die selbst in den letzten RegierungS- jahren um die Königin Marie Antoinette war, ist nachdem sie Monate lang in Pari« eingekerkert war, durch den Hand streich ihre- Geliebten auf dem Wege zur Guillotine noch gerettet worden, aber ihr Geliebter ist augenscheinlich um gekommen Cecile de Courtot ist von einer hingehenden Liebe zur Prinzeß Lamballe und zur Königin beseelt und ihre Schilderungen, die die Aufzeichnungen de« Tagebuches wiedergebcütz lassen die Prinzessin in recht günstigem Lichte erscheinen. Wieviel hierzu blinde Liebe und Mangel an Urtheil bei dem zwanzigjährigen Mädchen beigetragen haben, daö mag dahingestellt sein. Sie wälzt einen großen Theil der Schuld aus Philipp EgalitS, den sie beschuldigt, nach dem großen Vermögen seine« Schwieger vater«, de« Herzog« von PenthiSvre, gestrebt zu haben, dessen Alleinhesitz ihm durch seine Schwägerin, die Prinzessin Lam balle, der anderen Schwiegertochter de« Herzogs, streitig ge macht wurde. Bon diesem Prnthi4vr« stammt daS Vermögen drr Orleans. Die Prinzessin Lamballe befand sich mit ihrer Hofdame Cecile von Courtot iu London, um dort Hilfe für das fran zösische Königshaus zu suchen. Dort erhielt sie eine kurze Mittheilung von der Königin, daß sie zurückkommen sollte. Obgleich die Königin längst in Gefangenschaft war, zögerte die Prinzeß Lamballe keinen Augenblick und kehrte mit Cecile nach Paris zurück. Am 25. August 1792, erzählt diese, kamen wir selbst in Paris an, und ich kann den schmerzlichen Eindruck nicht be schreiben, den diese sonst so heitere Stadt auf mich bervor- rief. Ein betrunkener, halb wahnsinniger Pöbel durchwogte, gräßliche Lieder brüllend, die Straßen. Die auf dem Place de la Concorde stehende Guillotine forderte täglich Hunderte von Opfern, und ein Blutgeruch lag über der ganzen Stadt. Die königliche Familie aber war im Temple gefangen. Ick' eilte in die Wohnung meiner lieben Mutter nach der Rue du Bac und fand die Theuere im Sarge. Die Gervais (ihre Amme) kam mir weinend entgegen und theilte mir mit, meine theure Mutter sei schon vor drei Tagen einem Herz schlag erlegen. — Ich brachte die Nacht weinend und auf gelöst in Schmerz an ihrem Sarge zu. Von dort entführte mich am nächsten Morgen meine Prinzeß, die in bangem Entsetzen die Nacht bei der Herzogin von Liankourt zugebracht hatte. Sie war halb wahnsinnig vor Angst nnd Graue», da sie nur mit Mühe einer Rotte Wahnsinniger entkommen war, die sie durch mehrere Straßen gehetzt hatte. Sie beschwor mich, mit ihr zu der Königin in den Temple zu flüchten, dessen Gefängnißmauern ihr sicherer erschienen, al« dieses Irrenhaus von Stadt, in deren Straßen eine blutgierige Meute von Ungebeuern Jagd aus jeden gut gekleideten Menschen machte. — Auch ich befand mich in der selben Sttlrnstimmung und Verzweiflung, ich glaube, ich wär«
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