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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.03.1896
- Erscheinungsdatum
- 1896-03-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189603080
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18960308
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18960308
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-03
- Tag1896-03-08
- Monat1896-03
- Jahr1896
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.03.1896
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Tabellarischer und Zifferniatz nach höherem Laris. Ertro-Vetlaßen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60 —, mit Postbeförderung 70 — —- qm»- Ännahmeschl«8 für Änzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittag» 4Ut>r. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halb» Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richte». Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig ^§122. WMMM Sonntag den 8. März 1896. Sv. Jahrgang. Aus -er Woche. N.Dir schwere Schlag, von dem Italien betroffen worden ist, hat, wie in der übrigen Welt, so auch in Deutsch land die Ermüther erregt. Bei uns dürsten sogar diejenigen Empstndungen, die den französischen direkt entgegengesetzt sind, am lebhaftesten sein. Politische Interessen gehen hier mit Sympathie, dort mit ihrem Gegentheil Hand in Hand. Und betheiligt sind wir auch insofern, als „man" in Frankreich sich nicht in Unkosten stürzen würde, um Italien zu schädigen, wenn diese« in der europäischen Gruppirung nicht auf unserer Seite stünde. Freilich wär, Italien auch ohne militairische Mißerfolge geschlagen, wenn es sich al« eine Schachfigur Frankreichs auf der anderen Seite befände. Das heim- gesuchte Land hat unser Mitgefühl für sein Mißgeschick wie für dessen nächste Folge: den AuSbruch der Schlechtigkeit und Dummheit seiner Socia list en, die mit dem Unglück ihres Landes angeln. Ohne die in der Ungleichheit de« Temperaments begründeten Unterschiede zu verkennen, wird man sich auch in Deutschland die schändlichen Vorgänge in den Straßen der italienischen Städte zur Lehre dienen lassen müssen. WaS bei unS in Sachsen Regierung und Mehrheit der Zweiten Kammer thun konnten, um wenigstens diese Körper schaft vor Ueberflutbung durch die Socialdemokratie und das Land vor Uebersluthung durch socialdrmokratische Kammer reden zu sichern, ist geschehen. Die Wahlyorlage ist von dieser Kammer mit 56 gegen 22 Stimmen angenommen worden, nachdem sie noch in letzter Stunde eine Abänderung erfahren hatte, welche die zweite Wählerabtheilung aus Kosten der dritten erweitert und dadurch den Ein fluß der einzelnen Wähler der dritten Abtheilung erhöht. Durch diese Aenderung wird der Unterschied zwischen dem „plutokratischen" preußischen Wahlgesetze und dem sächsischen zum Vortbeile des letzteren noch größer. Vollständig wird dieses die Socialdemokratie aus dem Landtage schwerlich aus- chließen, wenn sie sich nicht selbst auSscbließt. Jedenfalls wird le nicht für immer auf Landtagswahlagitationen vern ichten, denn Agitation ist ihr Leben und ihre Existenz bedingung. Aber diese Agitation verliert jedenfalls wesent lich von ihrem verführerischen Charakter, wenn einerseits die Aussicht auf die Wahl socialdemokratischer Candidaten und andererseits die Zahl jener Agitationsreden au« den Fenstern deS Sitzungssaales der Zweiten Kammer heraus sich vermindert, die gerade durch den Ort ihrer Entstehung den Anschein nicht nur subjectiver, sondern auch objectiver Berechtigung erhalten. Der Grimm der „Genossen" über die Wahlreform beweist am besten deren Bedeutung und wider legt am schlagendsten dir ohnehin seltsame Annahme anderer Gegner des Gesetzes, dieses werde plötzlich Leute, die bis jetzt um ihrer selbst und des Staates willen nicht socialdemo kratisch wählen wollten, zu socialdemokratischen Wüthern gegen da« eigene Fleisch und gegen den Staat machen. Die begreifliche Aufregung mancher Kreise über dir Reform wird sich jedenfalls völlig legen, wenn eine nach dem Reformgesetz gewählte Zweite Kammer ihre volle Kraft den Aufgaben zu wenden kann, deren prompte und sachliche Erledigung jetzt durch die socialdemokratischrn Kammerrrdner gehemmt und gehindert wird. Wie thöricht die ReichStagsmebrbeit handelt, indem sie die Debatten von der Socialdemokratie und dem bürgerlichen RadicalismuS beherrschen und dadurch einen Theil der Welt in dem Glauben sich befinden läßt, diese beiden Richtungen seien die Trägerinnen des deutschen öffentlichen Lebens, das hat sich bei der viertägigen Berathung der Zuckersteuer vorlage gezeigt. Die Richter, die Bock, die Barth und die Schippe!, die mit ihrem betäubenden Getöse daS Gesetz vorweg und im Princip verwarfen, schienen die Tonangeben den im Hause, und siehe da, als eS zur Abstimmung kam, fand sich eine erdrückende Mehrheit für die Verweisung an eine Commission, also für die weitere Verfolgung des Planes. Die Großsprecherei hat also gar nichts zu be deuten gehabt; rin, Action zur Hintanhaltung einer Zuckerkrisis hat die große Mehrheit für sich, eine kleine Minderheit hatte da« HauS rhetorisch tyrannisirt. DaS lag keineswegs an der überlegenen Beredsamkeit der Herren von link«, geschweige denn an dem Gewicht ihrer Gründe, fondern an der in Folge einerseits des AbseutiSmuS, andererseits der ständigen Zweideutigkeit deS CeatrumS dem Hause verloren gegangenen Fähigkeit, in den Debatten die Bedeutung der einzelnen Parteien und Gruppen hervortreten zu lassen. Wenn der Aba. Barth, wie auch Andere gethan, zweimal da« Wort ergreift, so kann das mit dem Umstande erklärt werde, daß er Angriffe auf seine Darlegungen zurück zuweisen zu haben glaubte; warum aber der Socialdemokratie das Auftretenlassen zweier Redner gestattet wurde, ist an gesichts ihrer FractivnSstärke unerfindlich. Hat sich ein« große Mehrheit für de« Gedanken einer Zuckersteuerreform im Sinn« dr« Schutze« der gefährdeten Ausfuhr ergeben, so ist allerdings damit noch nicht gewähr leistet, daß der Gedanke in der Commission oder in der »weiten Lesung de« Plenum« Gestalt annehmen wird. Aber so viel ist durch da« Ergebniß erster Lesung erreicht, das: nicht mit Grund gesagt werden kann, der Reichstag wider strebe dem Unternehmen, weil e« dem allgemeinen Interesse «nrgegenstrpe. W»« e« jetzt bedroht» ist die Un gleichartigkeit der besonderen Interessen der verschiedenen rübenbauenden oder der den Rübenbau für die Zukunft in Aussicht nehmenden LandeSthril«. Die Territorialphilologrn bekommen aufs Neue Arbeit. Graf HornSbroech stellt den von der LentrumSpreffe corrumpirten Text der vielbesprochenen Kölner Redewendung Windthorst'S wieder in seiner Reinheit her. Darnach hat sich Windthorst berühmt, ohne Reflexivpronomen aelogrn zu haben. Er bat nicht gesagt: „Da habe ich mich mit Gottes Hilfe durch gelogen", sondern „da hab« ich mit Gotte« Hilf« tüchtig ge logen". Die oben angerufenen Gelehrten werden zu entscheiden haben, ob man in Hannover und den angrenzenden Sprach gebieten sich so auSrudrücken pflegt, nachdem man die Wahr heit gesagt bat. Wir, die w'r un« ein Unheil über die WahHaftigkrit de« ersten Welfenführer« schon längst und au« anderen al- sprachlichen GesichtSpuncten gebildet haben, schm d« Entscheidung mit Gelassenheit entgegen. Wichtiger erscheint un- die vom Grafen HoenSbroech nunmehr außer Zweifel gestellte Thatsache, daß Graf Caprivi den Antrag, dem zum Glauben des Kaisers und Königs Ueberzetretenen ein Amt im deutschen oder preußischen Dienst zu geben, mit den Worten abwieS: „Was wird Rom, was wird da« Centrum dazu sagen?" Aber auch diese Arußerung bedeutet nur die Aussetzung eine« Lichte« in einem Bilde, dessen Conturen längst feststehen. Die socialpolitische Wirksamkeit -er Geistlichen. Die am 4. März im preußischen Abgeordnetenhause gepflogenen Erörterungen über den die socialpolitiscde Wirksamkeit derGeistlichen betreffenden Erlaß de« preuß. Oberkirchenrath« erhielten eine bleibende Bedeutung durch die Rede, mit der sich an ihr der nationalliberale Abgeordnete vr. Sattler betbeiligte. Sie erfaßt den ernsten Gegenstand in seiner Tiefe und hält sich insbesondere so völlig frei von einseitigen Anschauungen, daß weitere Kreise von ihrem un gekürzten Wortlaut mit Interesse Kenntniß nehmen werden. Herr Or. Sattler führte auS: „Es kann selbstverständlich der geistlichen Oberbehörde nicht gleichgiltig sein, wie die Geistlichen sich an der Er örterung derartiger Fragen betheiligen; man wird ihr nicht das Recht absprechen können, die ihr unterstellten Geistlichen warnend und berathend darauf aufmerksam zu machen, wie und ob sie sich zu betheiligen haben; daß aber die Geistlichen an der Erörterung der socialpolitischen Fragen und der social- aolitischen Gestaltung deS Lebens innerlich den regsten An- theil nehmen müssen, ist selbstverständlich. Denn wenn da rege Interesse, welches die ganze Gegenwart an der Be handlung der socialpolitischen Fragen nimmt, wesentlich daraus hcrvorgcgangrn ist, daß die gesammte Bevölkerung sich an ihr Gewissen geschlagen gefühlt hat und sich überlegt, wie eS möglich ist, durch gemeinsame Thätigkeit de« Staate«, der. übrigen Corporation«« und der Einzelnen darauf hinzuwirkrn, daß das Leiden, welches in der gegen wärtigen Welt durch die wirtschaftliche Gliederung herbei geführt wird, beseitigt werden kann, da war es naturgemäß, daß auch der Geistliche, der aus seiner seelsorgerischen Thätig- krit von diesem Leiden Kenntniß hat und nach seiner Stellung berufen ist, Anteil zu nehmen an den Leuten, die an diesem Leiden betroffen sind, ein reges Interesse daran haben muß. Wenn man bedenkt, daß die wirtschaftliche Gestaltung der ursprünglich christlichen Gemeinde wesentlich auf communist,scher Grundlage beruhte, so ist die Neigung der Geistlichen, sich derartigen Gedankcngängen nicht vollständig fernzuhalten, ganz natürlich. ES ist aber sehr schlimm, daß sie sehr häufig nicht ge nügend unterrichtet sind über die wirtschaftliche Seite der Dinge und die tatsächlichen Verhältnisse des praktischen und wirtschaftlichen Lebens, und daß sie mit der edlen Be geisterung, zu helfen, nach dem Borbilde der ursprünglichen Kirchengemeinde zu streben sich bemühen, während die gegen wärtige Lage der Dinge so ist, daß da« nicht geht. Sie ver gessen dabei, daß auch die christliche Gemeinschaft genötigt gewesen ist, von diesen kommunistischen Grundlagen ihre- ersten Zusammenlebens abzugehen und sich auseinanderzu setzen mit den socialökonomischen Verhältnissen der Völker, in die sie hineingestrllt war, ohne daß sie dadurch den Charakter des Christentums irgendwie verloren hat. Ich glaube, die geistlichen Herren, welche sich mit der Social politik beschäftigen, sollten doch vor allen Dingen auch zunächst einmal socialökonomische und wirtschaftliche Studien machen; ich glaube, sie würden dann der Ueberzeugung sein, daß die scharfe Anlithesis zwischen Besitz und Nlchtbesitz nicht richtig ist. Sie werden auch sehr bald zu der Ueberzeugung kommen, daß die verschiedenen Lagerungen der Besitzverhält- nisse eigentlich doch nur Folgen der persönlichen Eigen schaften im Wesentlichen und im Grunde sind. Wenn sie da« erkennten, dann würden sie auch nicht geneigt sein, den CapitaliSmu« al« den unerbittlichen, herzlosen Feind gegenüber der Warmfühlenden Menschheit hinzustellcii, der sie aussaugt. Ich glaube, eS beruht diese Art der Anschauung in der Thal im Wesentlichen auf zu geringer Kenntniß der Art und Weise, wie die wirtschaftliche Entwicke lung eines Landes und eines Volkes sich gestaltet. Ich bin nun auch der Mernung, daß zur Besserung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse und namentlich auch der Lage der Minderbegüterten eS der Zusammenarbeit aller Organi sationen, vor allen Dingen auch der Arbeit jedes Einzelnen bedarf. Aber daS ist das Schlimme, wenn immer bei den Verhandlungen über diese Frage es so dargestellt wird, als wenn die vexschiedrnen Elasten der Bevölkerung keine gemein samen Int«ress«n mit einander hätten, und insofern stimme ich mit dem Herrn College» v. Heydebrand durchaus überein, daß ,« bei diesen Verhandlungen vor allen Dingen darauf ankommt, immer wieder das Gemeinsame zu betonen, und ich meine, eS wäre doch vor allen Dingen auch Aufgabe der geistlichen Herren, dieses Gemeinsame zu betonen; denn sie sind doch auch nicht blo« Geistliche für den Stand der Besitzlosen, sondern sie find Geistliche für die Gesammt- gemeinde, und «« ist ihre Aufgabe, j«dem Einzelnen ans Herz zu legen, daß rr von dem Standpunkte au«, wo er steht, mit dem Besitz, den er hat ober nicht hat, sittlich richtig zu bandeln und seine Pflicht auch gegen die Mitmenschen zu er füllen hat. Herr College Stöcker hat ja vollkommen recht, wenn rr sagt, die innere Entwickelung der letzten Jahrzehnte unsere« Lande« — und ich kann sagen, vielleicht vieler an derer Länder — ist wesentlich dadurch mit bestimmt, daß der viert« Stand, der Stand der Lohnarbeiter, sich al« Wirth- schaftlich», politisch-wirthschafllich geschlossene Claffe den an deren Ständen gegenübergestellt hat. Es ist gewiß die höchst, Aufgabe unserer Socialreform und unserer inneren Politik, dafür zu sorgen, daß diesem neuen Elemente auch seine rechte Stellung angewiesen wird zwischen allen den andern historisch gewordenen, bereit- früher vorhandenen Ständen und Berufsclassen. Aber wenn man da wirklich will, ohne di« übrigen Interessen zu verletzen, so k«nn m«n eS nicht thun, wenn man sich einseitig auf den Standpunkt dieses Stande« stellt und vor allen Dingen Töne anschlägt, die darauf hinauS- geben, in der Tbatsache deS Besitzes eigentlich bereits einen moralischen Makel zu finden. Und Anklänge daran finden wir allerdings bereits in einem großen Theil der Literatur, welche sich auf diesem Gebiete bewegt. Ich bin der Meinung, wir würden auf socialpolitischem Gebiet viel weiter gekommen sein, wenn die Ueber zeugung in den Kreisen der Besitzenden schon weiter um sich gegriffen hätte, als sie sie bis jetzt haben: daß der Besitz in der That eine ArtAmt ist. Zu dieser Anschauung kann ich mich durchaus übereinstimmend erklären, und ich glaube, wir würden weiter gekommen sein, wenn jeder Einzelne davon überzeugt wäre. Aber es ist auf das äußerste ungerecht, wenn man es so darstellt, al« wenn der Besitz an sich bereits einen Gegensatz zum Be sitzlosen construiren müsse und al- wenn die Inter essen der Besitzenden und der Besitzlosen nichts mit einander gemein hätten. Da müssen wir doch sagen, nach dieser Richtung hin ist von geistlichen Herren in der letzten Zeit viel gesündigt. Wir haben va in der That Be wegungen, die ursprünglich unter dem Schirmdache des Herrn Stocker aufgewachsen sind, soweit kommen sehen, daß sic sich mit großer Feindschaft gegen jeden Besitz überhaupt gewendet haben. Wir haben gesehen, daß die eine Art der Bewegung, welche auch zuerst sich unter seinem Schirmdach befand, nämlich der Antisemitismus, zu einer Richtung sich ausgewachsen hat, mit der Herr Stöcker jetzt auch nicht- mehr zu thun haben will — vollständig gebe ich ihm das zu —, aber zu einer Richtung ausgewachsen hat, welche die Feindschaft gegen jeden Besitz überhaupt auf dir Fahne geschrieben hat. Darum ist es so gefährlich, al- Wortführer derartiger Richtungen überhaupt aufzutretrn, weil man nicht sehen kann, wie weit diese Dinge sich weiter entwickeln, und ich glaube, es ist gerade für Geistliche so gefährlich, weil sie stets berufen sind, auch den Besitzenden ins Gewissen zu reden. Weil sie das Leid der nichlbesitzenden Elasten so kennen lernen, ist eS sehr gefährlich, daß sie sich von ihrem Mitgefühl hinreißen lassen und in Unkenntniß der be stehenden wirthschaftlichen Organisationen viel zu weit gehen, weiter, als sie es thun würden, wenn sie das nöthige Versländniß hätten. Ich glaube daher, der Geistliche ist zur Vorsicht auf diesem Gebiete mehr verpflichtet, als jeder Andere, und wenn er sich auch nicht an öffentlichen socialpolitischen Erörterungen betheiligt, so hat er ja doch ein weites Gebiet, sein social politisches Bekenntniß zu bethätigen und zu zeigen, daß er von solchen Gedanken, die im Grunde der Quelle des Mit gefühls entsprießen, erfüllt ist. Dazu hat er die Seelsorge und die Gemeinde. Er braucht noch weniger als Andere vielleicht an den Markt des öffentlichen Lebens hinauszu treten, um diese seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, und ich meine, die Herren sollten sich doch, wenn sie in so scharfen Worten jetzt zum Theil gegen die be stehende Ordnung der wirthschaftlichen Dinge und die Vertheilung des Besitzes Vorgehen, bedenken, daß sie dadurch Diejenigen, welche sie mit solchen Gedanken erfüllen, weder zufriedener, noch sittlich besser machen. Denn in der Hervorhebung dieser Gegensätze, in der Darstellung, als wenn der CapitalismuS und der Besitz nicht ein menschliches Wesen, sondern eine Art Vampyr sei, welcher die Menschen aus zusaugen sucht, liegt etwa», was die Unzufriedenheit auf daS Aeußerste erregen muß, und wenn man solche Gedanken in Bevölkerungskreise bineinträgt, welche bisher nicht von der Unzufriedenheit ergriffen waren, so thut man nach meiner Ansicht etwas so Schädliches, wie eS die Socialdemokraten nur irgend thun können, und die Leute, die von solchen Ge danken erfüllt werden, werden auch nicht sittlich besser. Ich habe wenigsten- noch nicht die Erfahrung gemacht und ich glaube auck gar nicht, daß eine derartige Aufhetzung ver schiedener Bevölkerungsclqssen gegen einander dazu beitragen kann, die Bevölkerung sittlich besser zu machen." Deutsches Reich. 6. H. Verltp, 7. März. Die Anarchisten scheinen sich wieder zu fühlen, wenigstens haben sie überall ihre Hände im Spiel. Sie haben Arbeiterconsumgenossenschasten ins Leben gerufen und Clubs gegründet, sie haben sich bei dem ConfectionSarbeiterstreik in unliebsamer Weise bemerkbar ge macht und beabsichtigen, in die Landagitation einrugreifen — kurzum, sie sind überall zu finden. Das anarchistische Blatt gewinnt zusehenS an Abonnenten und aus dem Briefkasten der Expedition kann man ersehen, daß auch die AbonnementS- gelder in größeren Posten emlgusen: „33 -E auS Stuttgart erhalten, 10 und 20 quS Lübeck erhalten" und so geht e« in längerer Liste weiter. Für 33 bekommt man schon einen ganzen Posten Exemplare deS anarchistischen Organs. Höchst charakteristisch ist, unter welchen Stichworten die Unterstützungsgelder eingesandt werden: „Lichtscheues Gesindel", „Ravachol", da« sind einige der Ausdrücke, mit denen die Geldsendungen begleitet werden. Die anarchistischen Clubs sind recht gut besucht, weniger die Volksversamm lungen, in denen man immer die alten Gesichter der Landauer, Weidner, Spohr, Löhr und PeterSdorf zu sehen bekommt. Jetzt soll nun, wie schon angekündiat, eine freie anarchistische Vereinigung das Licht der Welt erblicken. „Es ist noth- wendig, daß wir den jungen, nach erlösenden Wahrheiten suchenden Gcmüthern, in denen neue freie Anschauungen mit alten qualvollen Vorurtheilen ringen, zu Hilfe kommen; daß wir ihnen emporhelfen au« der Nacht autoritärer Geistesbeschränkung zum klaren Lichte einer zwanglosen Entfaltung ihres indivi duellen Denkens" — so heißt e« in dem Aufruf. Für diese ihre freie anarchistische Vereinigung wolle» die Anarchisten, ganz im Gegensatz zu ihren sonstigen Princ.pien, sich auch einen Vorstand wählen, regelmäßige Beiträgt erheben w. Wir haben e« also hier mit der ersten größeren anarchistischen Organisation zu tbun, die sich natürlich nicht darauf be schranken wird, alle Monate einen „philosophischen" Vortrag zu hören und alle vierzehn Tage einen pol,t,ich,n Gegenstand zn erörtern, fondern die, wie e- beißt, vor alltn Dingen in die Streikbewegung eingreifen wird. AuS allen diesen M.iß nahmen gebt, wie gesagt, deutlich hervor, daß die Anarchisten sich wieder zu fühlen anfangen, und da in kurzer Zeil mehrere ihrer bekannten Führer die Gefängnisse verlassen werden, so wird man mit einer noch weiteren Verstärkung ihrer Agitation rechnen müssen. * Berlin, 7. März. Wie der „Vorwärts" geheime „bürgerliche" Schriftstücke, so veröffentlicht das Organ der Anarchisten, der „Socia list", solche der Socialdemo kratie. Er schreibt: Ein geheimes Actcnstück aus der Socialdemokratke veröffentlichen wir mit größtem Vergnügen. Es lautet: Zürich, im Februar ,806. An meine Freunde und Gesinnungs genossen in der Schweiz! Mit L9. März nächslhin erreicht unser FreundundGenosseWilhelmLiebknechtseinen 70. Geburts tag. Es wurde bei uns von hier und au-wärts, sowohl von deutschen und schweizerischen Genossen die Anregung gemacht, eine Sammlung zu veranstalten, um eine Ehrengabe aus der Schweiz dem verdienten Kämpfer für die Sache des Proletariats übermitteln zu können. Wir kommen dem Verlangen um so freudiger nach, als wir aus Liebknecht's eigenen Arußerungen wissen, daß derselbe in den deutschen Vereinen in der Schweiz (Zürich und Genf), deren Mitglied er war, den ersten Ansporn erhielt, für die Arbeiter- bewegung die Kräfte zu weihen, und durch die damaligen Erfahrungen das geworden, was er heute ist, ein muthwerther Verfechter und Bertheidiger der Interessen der Arbeiterschaft und des internationalen Socialismus. Wir glauben nun, keine wetteren Worte mehr ver lieren zu müssen, möge der Verein, unsere Organisation, sowie Genossen und Freunde des Jubilars ihr Scherstein beitragen, wie fassen es auf als ein Zeichen der Sympathie und Anerkennung für das treue Festhalten und Ausharren Wilhelm Liebknecht's im Dienste unserer Principien für das politisch und ökonomisch ge- knechtete internationale Proletariat. Alle Sendungen sind an unter fertigte Adresse bis 1ä. März 1896 zu senden, die Quittungen er folgen nach gewalteter Revision per Circular, da wir nicht wollen, Laß diese Sache an die große Glocke gebracht werde. Mit Partei gruß per Landesausschuß: E. Beck, Spitalgasse 10. DaS anarchistische Organ begleitet diese Veröffentlichung mit folgenden Sätzen: „Man erinnert sich wohl, mit welchen Be- gleitworten die Socialdcmokratie solche Aktenstücke veröffent lichte, wenn es sich darum gehandelt hat, daß in den Kreisen der Untcrbeamten ein Geschenk für einen Vorgesetzten freiwillig gestiftet wurde! Und nun soll Liebknecht gleich dem Altreichskanzler Bismarck mit einer Ehrengabe beglückt werden! Wir bezweifeln gar nicht, daß der Klingelbeutel nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Deutschland herumgeht und daß Liebknecht durch die Dankbarkeit seiner Unterthanen in den Stand gesetzt wird, sich im Sachsen walde ein Gütchen in der Nähe Bismarck s anzuschaffen." * Berlin, 7. März. Hiesige Blätter veröffentlichen folgenden eigenthümlichen Fall von Rechtsprechung gegen über der Presse: „Die „Brandenburger Zeitung" Hatteam lü. Juni ein Inserat veröffentlicht, das zu einem am Sonntag daraufstallfindenden Volks- fest einlud. Dieses Inserat, das auch in zwei Luckenwalder Blätter übergegangen war, hatte am Dienstag m Brandenburg ein merk würdige« gerichtliches Nachspiel. Wegen angeblicher Aufforderung zu einer nicht genehmigten Versammlung unter freiem Himmel hatten sich vor dem dortigen Schöffengericht Herr Back- Luckenwalde und der frühere verantwortliche Redakteur der „Branden burger Zeitung", Herr Wolfgang-Brandenburg, zu verantworten. Ersterer soll sich des angegebenen Vergehen- dadurch schuldig gemacht haben, daß er ein Inserat betreffend Abhaltung eine- Volksfestes für die beiden Luckenwalder Blätter aufge geben, Letzterer, weil er dasselbe Inserat in die „Brandenburger Zeitung" ausgenommen hatte. Der Gerichtshof führte bei der Urthejlsverkündigung au-, daß die beiden Beklagten sich strafbar gemacht hätten, „weil sie das Inserat aufgegeben resp. zum Abdruck gebracht hätten, bevor di» obrig keitliche Erlau bniß für Abhaltung dieser Versammlung erfolgt sei". Die Angeklagten wurden zu Geldstrafen von je IS ^4 event. 3 Tagen Haft verurtheilt. Der AmtSanwalt hatte 30 Geldstrafe event. 6 Tage Haft beantragt." Mit Recht bemerkt ein hiesiges Blatt dazu: „Wir er warten, daß die Verurtheilten Berufung einlegen. Denn wenn das Urtheil des Brandenburger Schöffengerichts Bestand haben sollte, so könnte kein« Zeitung mehr eine Einladung zu einer Versammlung oder sonstigen Veranstaltung ver öffentlichen, für die eine polizeiliche Anmeldung von Nötben ist, ohne daß der Inserent die Anmeldungs-Bescheinigung vorzeigt!" V. Berlin, 7. März. (Telegramm.) Der Kaiser unter nahm am heutigen Vormittag mit der Kaiserin den ge wohnten gemeinsamen Spaziergang durch den Thiergarten Auf dem Rückwege fuhr er bei dem StaatSsecretair des Auswärtigen vor und conferirte in dessen Wohnung längere Zeit mit demselben. Nach dem Schlosse zurückgekehrt, hörte der Kaiser den Vortrag des Chef« deS Generalstabes und arbeitete dann mit dem Chef de« Militaircabinet«. — Im Auftrage des Kaiser- hat sich der Commandant de« kaiser lichen Hauptquartier-, Generaladjutant Generallieutenant von Plesfen, zur Feier de- militairischen Jubiläums des Prinzen Georg von Sachsen nach Dresden begeben. Berlin, 7. März. (Telegramm.) Gegen den Redact,ur des „Vorwärts", Joseph Dierl, ist heute zum zweiten Male vor dem Landgericht wegen Majestäts beleidigung verhandelt worden, da daS frühere, auf 6 Monate lautende Erkrnntniß, welche« unter dem Vorsitze Brausewetter's gefällt worden war, von dem Reichsgericht aufgehoben worden ist. Der Angeklagte wurde unter An rechnung der bereits verbüßten einmonatigen Grfängniß- strafe zu 5 Monaten und 2 Wocheu Gefänguiß ver- urlbeilt. (Wiederholt.) 88 Berlin, 7. März. (Privattelrgramm.) Der Vorstand des Reichstags bat, wie wir hören, e« den ein zelnen Fraktion«« überlassen, an die ihnen nabe stehenden Vertreter der Presse Einladungen zu dem am 2l. Marz in der Wandelhalle stattfindenden Fe st banket ergehen zu lassen. — Die socialdemokratische ReichStagSfraction hat sich in zwei Sitzungen, unter Zuziehung von Anhängern und Gegnern de« „Genoffen" Schumacher au« dem Wahlkreise, mit der Solinaer Angelegenheit beschäftigt und folgende Beschlüsse gefaßt: I. „Die Fraktion erklärt nach Anhörung beider streitenden Theil« de« Solinger Kreises, daß sie den Beschluß deS Solinger Parteitages — die UnwürdigkritSerklärung Schumacher'« betreff«nd — nicht billigt, weil prlneipirll» Gründe dafür völlig
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