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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.06.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980630023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898063002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898063002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-06
- Tag1898-06-30
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Gröbere Schriften laut unserem Preis« verzeichntß. Tabellarischer und Zissernsatz «ach höherem Tarif. Vrtra»Vetlaaen (gefalzt), nur mit d«r Morgen«Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbrförderuug 70.—. Annahmeschluß siir Älyeigen: Abrnd-AuSgabe: vormittags LO Uhr. Morgen »Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 328. Donnerstag den 30. Juni 1898. 92. Jahrgang. Der spanisch-amerikanische Krieg. —p. General Shafter, dem die Aufgabe rugefallen ist, Santiago zu nehmen und die Flotte Cervera's zu vernichten, halt eS für geboten, die Ungeduld seiuer Landsleute zu beschwichtigen, die sich schon argen pessimistischen Anwandlungen wegen des langsamen Ganges der Operationen zu Lande hingeben. Gestern telegraphirte er nach Washington, er könne die Stadt innerhalb 48 Stunden einnrhmen, es könnten aber „beträchtliche Verluste" damit verbunden sein. Am Abend desselben Tage- telegraphirte der General abermals, er hoffe, sich Santiago- zu bemächtigen, „sobald er bereit sein werde, vorzurücken". Er werde nicht die Ankunft der Verstärkungen abwarten. 8000 Mann Verstärkungen für die Spanier mit Train uud Schlachtvieh rückten von Man zanillo her an und seien jetzt noch 34 Meilen von Santiago entfernt. Es wird in Washington als sicher angenommen, daß General Shafter einen entscheidenden Schlag aus führen will, ehe diese spanischen Hilsstruppen angekommen sind. Interessant an diesem Telegramme ist nur das Dementi der gestern eingegangenen Meldung des „New Aork Herald" vom 27. Juni, nach welcher General Pando nach Manzanillo zurückkehre. Mit dem „entscheidenden Schlage" wird eS wohl so rasch nicht gehen. Man meldet unS: * New Vork, 29. Juni. Ein Berichterstatter im Lager am Rio Guamo telrgraphirt unter dem heutigen Tage: Di« Vorbereitungen zum allgemeinen Vorrücken werden lebhaft betrieben. Truppen aller Waffengattungen marschiren eilig nach der Frontlinie; der Vormarsch wird aber nicht eher angevrdnct werden, als bis jeder Soldat drei Tagesrationen in seinem Tornister hat. Letzteres kann aber nicht vor 2 oder 3 Tagen der Fall sein, denn erst dann werden die Wege für die Wagen passirbar sein. Die Vorposten sind noch nicht auf die Spanier gestoßen, diese scheinen sichhinterdieVerschanzungen zurückgezogen zu haben. General Shafter hat sein Haupt quartier immer noch an Bord der„Severanza", um in steter Ver- diudung mtk Lampson zn bleiben. In der ersten GeiecktSlinie be finden sich etwa 30 000 Mann. Die Haltung der Mannschaften ist trotz der druckenden Hitze vorzüglich. Lebensmittel sind knapp und schlecht. Die letzten Abteilungen Artillerie sind ausgejchifst. General Shafter klagt über Mangel an Pferden. Nach dieser Meldung sieht es nicht so auS, als hätten die Amerikaner besondere Avancen gemacht. Vor einigen Tagen hieß es, General Shafter beabsichtige sein Hauptquartier von Daiguiri nach Juragua vorzurllcken, jetzt erfährt man, daß sich dasselbe gar nicht an Land, sondern an Bord eines Schiffes vor Santiago befindet. Sollten die Amerikaner etwa gar zum Rückzug gezwungen worden sein? Die Madrider Meldung, die amerikanische Armee habe sich nach der Küste zurückgezogen, habe dort ein verschanztes Lager errichtet und warte Verstärkungen ab, scheint darauf hinzudeuten. Wie dem auch sei, ehe an einen Angriff auf Santiago gedacht werden kann, muß erst um die weit vorgerückten Verschanzungen gekämpft werden. „Jeder Hügel und jeder Berg im Nordosten von Santiago ist", so wird dem „Neuter'schen Bureau" von Rio Guamo, etwa 8 km östlich von Santiago, unterm 26. Juni gemeldet, „durch ein Blockhaus befestigt, von dem die Spanier die Bewegungen der Amerikaner überblicken können. In der östlichen Umgebung ist jede Anböhe verschanzt. Die den Amerikanern beigegebenen Cubaner sind ganz ver kommene Leute, (wenn auch eine 29. Juni nach Washington gelangte Depesche Sampson's Garcia persönlich, sowie den Cubanrrn im Allgemeinen lebhafte Anrrkem unx zollt. D. Red.) Sie sitzen den ganzen Tag im Schall und rauchen Cigaretten uud lassen sich die ihnen von hn Amerikanern gelieferten Rationen munden, während dir Amerikaner mit dem Anlegen von Straßen beschäftigt and fast immer der Sonnenhitze ausgesetzt sind, ^, '^. n herrscht hier die Ansicht, daß mehr Artillerie n^'. ehe zum erfolgreichen Angriff vorgegangen werden .. Da- Feuer der Spanier auS ihren Gräben is'ss zu tödtlich. Jede Truppe muß dadurch demoralisirt we^eu, besonder- wenn sie durch Drahtgeflechte am Ver rücken verhindert wird." Dazu komm» noch, daß Gene LinareS alle Wege zur Stadt Santiago mit Dynamit unt^ minirt haben soll und da- gelbe Fieber an Ausdehnung gewinnt. In einem Telegramm de- Generals Shafter vom 27. d. M. heißt eS zwar, der Gesundheitszustand seiner Truppen sei vortrefflich; außer den Verwundeten seien nur 150 Mann krank. Das ist indessen schon eine ziemlich er hebliche Ziffer, bei der eS der Natur des gerade bei Santiago sehr verderblichen Sumpffiebers nicht bleiben wird. Die Philippinen machen den Amerikanern nick t geringere Sorge als den Spaniern; da- liest man deutlich aus der Proclamation deS Generals Merrit heraus, welche derselbe, nachdem er mit größter Beschleunigung vor Manila an gekommen sein wird, verlesen soll und in der sich auch d-> Erklärung befindet, daß die verschiedenen Culten voll kommene Freiheit genießen sollen. Die Proclamation hat den unverkennbaren Zweck, zu verhüten, daß Aguinaldo die Re publik der Philippinen proclamirt. Das befürchtet man also und sieht sich vor der Möglichkeit, daß Aguinaldo erntet, was die Amerikaner gesät haben. Dem „Daily Ehronicle" wird auS Port Said gemeldet, daß sich die Flotte des Admirals CLmara, welche durch den Suezcanal nach den Philippinen gehen soll, in einem äußerst unsauberen Zustande befinde; die meisten Schiffs böden seien schmutzig. Die Reparatur der Maschinen des Torpedoboot-Zerstörer- „Audaz" werde eine Woche dauern. Die Hilfskreuzer ...Buenos Aires" und „Isla de Panay"^ sowie die Kanonenboote „Eovadönga" und „Cöiön^Jikge.« l». Stellen, wo Schiffe zu ankern pflegen, welche einen langen Aufenthalt nehmen. Der Capitain deS Schlachtschiffe- „Pelayo" kam krank an'- Land. Der „Daily Mail" wird ebenfalls aus Port Said berichtet, das „Pelayo" und k,Carlos V." sich in skandalösem Zustande befänden und kaum seetüchtig seien. Die Torpedo-Zerstörer würden in keinem Falle weit kommen. Nach einer Meldung deS „Daily Chronicle" auS Washington steht die Abfahrt von Watson'S Geschwader nach Spanien nicht unmittelbar bevor. Watson'S Sckiffe hätten weder Kohlen noch Munition, noch Proviant. Der Aufschub sei manchen Kreisen willkommen, da jeder Tag den Frieden nahe bringen könne. Mac Kinley soll diese Ansicht theilen. In der That, schreibt die „Frkf. Ztg.", ist nicht recht einzusehen, waS ein amerikanisches Geschwader in Spanien thun soll. Unbefestigte Städte bombardiren? Das wider spricht dem Völkerrecht. Spanische Festungen blockiren und beschießen? Dabei würden die amerikanischen Schiffe vielleicht unangenehme Erfahrungen machen, denn die befestigten Küstenorte Spaniens sollen sich jetzt in einem ziemlich guten BertheidigungSzustande befinden. Dazu käme, daß die amerikanischen Schiffe ihren ganzen Kohlenbedarf aus Amerika herbeischaffen müßten, was denn doch etwas Andere- ist, als von Zeit zu Zeit in einigen Stunden von Cuba nach Key West oder Tampa zu fahren, um dort Kohlen einzunehmen. Kurz vor Schluß der Redaction erreicht uns noch felgende Meldung: * Ne« Park, SO. Juni. Ein Telegramm ans King ston berichtet, der spanische Eonsul erhielt ein Kabeitele- gramm an» Santiago, nach dem der amerikanische Kreuzer ..Brooklyn" von eine,« spanischen «efchotz ge troffen wurde. Eommodore Lchley und 24 Manu sollen nmgekommen sein Ist dieser für die Spanier so glückliche Schuß, der übrigen« zeigt, daß die Beschießung Santiagos immer wieder ausgenommen und von den Spaniern erwidert wird, wirklich gefallen, so wird dadurch die allaemeiue Kriegslage zwar nicht verändert, wohl aber da- Selbstvewußtsein und der Muth der Spanier in dem Maße gehoben, als in Amerika die Stimmen sich mehren werden, welche dem höchst schwierigen, lang wierigen und solche Opfer fordernden Kriege ein Ende bereitet wissen wollen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 30. Juni. Nach der „Germania" liegt es nahe, daß Graf Ballcstrcm vom Centrum dem Reichstage als Präsident vorge schlagen werden wird. Da das Centruin im neuen Reichs tage mächtiger sein wird, als je zuvor, so ist die Präsentation durch das Centrum gleichbedeutend mit der Wahl zum Präsidenten. Darum seien Diejenigen, die als Gesinnungs genossen jener Mehrheit, die dem Fürsten Bismarck an seinem 80. Geburtstage Gruß und Glückwunsch verweigerten, in da- hohe HauS einziehen, schon beute darauf aufmerksam gemacht, daß sich ihnen während der Präsidialzeit des schlesischen Grafen die Gelegenheit zu einer Ehrung für ihn bieten wird, wenn er selbst sie nickt abschneidet. Am 4. December 1899 wird daS 25jährige Jubiläum einer ewig denkwürdigen Scene sein, in der auch Grrff Dee,mb r 187, hielt Fürst Bismarck den Ultramontanen den Attentäter Kult mann vor. Ein Centrumsabgeordneter — es war Graf Ballestrem — wagte eS, dem Einiger Deutschlands den Ruf entaegenzuschleudern: „Pfui!" Nachdem der Präsident v. Forckenbeck den ungehörigen Zwischenruf gebührend gerügt hatte, erwiderte in gewohnter Schlagfertigkeit Fürst BiSmarck: „Pfui ist ein Ausdruck des Ekels und der Verachtung! Glauben Sie nickt, daß mir diese Gefühle fern liegen. Ich bin nur zu höflich, um sie auszusprechen." Der Sitzungsbericht verzeichnet „Stürmisches Bravo" rechts und links. Damals also fand die dem Abgeordneten Grafen Ballestrem zutheilaewordene gründliche Abfertigung den Bei fall der großen Mehrheit deS Hauses; jetzt wird zweifellos eine große Mehrheit des Reichstags denselben Mann dadurch ehren, daß sie ihm die höchste Ehre verleiht, die der Reichstag überhaupt zu verleihen hat. Zwar war der Graf schon in der Session 1890—1893 Vicepräsident deS Reichstags, aber eS ist denn doch ein gewaltiger Unterschied zwischen der Stellung deS Vicepräsidenten und der des ersten Präsidenten. Der Gegensatz zwischen der Zeit von 1874 und der Gegenwart kann sich nicht schärfer anSdrücken, als in der Wahl des Grafen Balle strem. Es ist übrigens vorauSzusehen, daß ihm gar bald nach Antritt seines Amtes einer der alten oder der neuen socialdemokratischen Mitglieder Gc legenheit geben wird, zu beweisen, daß auch an ilmi die Zeit nicht spurlos vorübergegangen ist und daß ei über Zwischenrufe und Auslassungen, die den Einiger Deutschlands und mit ihm die große Mehr heit der Natron kränken müssen, jetzt ebenso denkt, wie damals Präsident von Forckenbeck dachte. Zeigt er in einem solchen Falle sich als würdiger Nach folger des Letzteren, so nimmt er dadurch in optima, korma seinen Zwischenruf vom 4. December 1874 zurück, erleichtert eö seinen Collegen, falls diese nicht den bismarckfeiudlicben Parteien entnommen werden, mit ihm zusammen zu wirken und schneidet von vornherein denen, die nach einer Wiederholung der Scene vom 23. März 1895 sich sehnen, die Gelegenheit ab, ihm am 4. December 1899 eine Ovatron zu bereiten. Während in der lPresse derjenigen Parteien, die sich während der Wahlbewegung nach Kräften bemüht haben, dem Sammelrufe der Regierung zu entsprechen, auch nach den Wahlen ein friedlicher und versöhnlicher Ton herrscht, ist in der Presse jener Gruppen, die mit Eifer eine „Gegen sammlung" betrieben, ein heftiger Bruderkampf auSgebrochen. Daß daS socialdemokratische Centralorgan in seinem Grolle darüber, daß die Linksliberalen nicht überall den socialdemokratischen Candidaten zu Hilfe ge kommen sind, sondern es gewagt haben, da und dort solchen Candidaten eigene gegenüberzustellen, sich sogar bis zum „Mauscheln" versteigt, haben wir schon gestern erwähnt. Heute finden wir in der „Franks. Ztg." die Antwort auf die betreffende Auslassung des „Vorwärts". Das süddeutsche Demokratenblatt, daS sich getreulich bemüht hat, seine Gesinnungsgenossen überall, wo sie selbst nicht in Stich wahlen mit den Socialdemokraten um ein Mandat kämpften, zur Unterstützung der Umstürzler anzufeuern, ist tief empört darüber, daß der „Vorwärts" zu schreiben wagt: „Noch deutlicher als bei der Hauptwahl ist aber die politische Verkommenheit unseres Bürgerthums bei den Stichwahlen hervorgetreten. Fast überall in Deutschland warf sich das deutschliberale nnd „demokratische" Bürgrrthum Arme der Psofstn und Junker, um Hand in Hand mit ihnen in brüderlicher Eintracht die Sammelhatz gegen die Socialdemokratie mitzumachen. Fast kein Wahlkreis in Deutschland, wo das liberale und „demokratische" Bürgerthum sich nicht förmlich dazu gedrängt hätte, der Reaktion Handlangerdienste zu leisten. Dieses Geschacher! Dieses Ge« schmuse! Psui Teufel! Wenn wir dieses Kirchthurm-Wetlrennen schmutziger Geschäftspolitik uns ansehen, dann entfährt dem Zaum unserer Zähne unwillkürlich das Wort des biederen Seume: „Wir Wilde sind doch bessere Menschen!" Diese eklen Um- armungen und giftigen Bruderschmatze! Noch riumal: „Pfui Teusell" In der Antwort beißt eS: „Mit Leuten, die sich so bewußt mit der Wahrheit in Widerspruch setzen, ist eine Auseinandersetzung einfach unmög lich. Wir stellen nur nochmals fest, daß die Ausführungen des „Vorwärts" schamlose Lügen sind, deren Vorbringung in gleichem Maße von der Charkterlosigkeit wie von der Borntrthrit ihres Urhebers zeugt." Aber dem „Vorwärts" kommt Herr Richter zu Hilfe, der trotz der Vorwürfe, die ihm selbst und seinen „deutsch- Feuilleton. Lauernblut. I9j Roman in drei Büchern. Von Gerhard von Amyntor. (Dagobert von Gerhardt.) 9Ia»dnick vrrboxn. Peter nickte, halb gewonnen, und der Andere fuhr ein dringlich fort: „Ich fühle Ihnen alle Ihre Bedenken nach; ich habe sie seiner Zeit auch gehabt und es hat mich ebenfalls Zeit und Mühe gekostet, bis ich endlich klar sehen konnte. Der Bourgeois hat in seinem Sittengesrh zwei Hauptparagraphen: Du sollst nicht stehlen und Du sollst nicht morden. Zwischen Gleichstehenden und Gleichbrgünsttgten mag es sich nach diesem Recepte ganz gut leben lassen; nachdem aber die Faust des Stärkeren den Schwächeren überwältigt und zum srohndenden Sclaven erniedrigt hat, wäre die Beachtung jener Verbote ein selbstmörderischer Wahnsinn, denn sie würde uni zur ewigen Zinsknechtschaft gegenüber den Ausbeutern und zur ewigen Leibeigenschaft gegenüber den Machtanmatzern und Tyrannen verurteilen. Hier gilt eS, im Sinne eines modernen Denker» die bisher giftigen Werthe umzuwerthen: wir sollen unseren Feinden den Besitz zu entreißen streben, mit dem sie uns nieder halten und knebeln; wir sollen ihnen an die Kehle fahren oder die Kugel durchs Hirn jagen, wenn sie unsere Wege kreuzen und uns mit Galgen und Rad bedrohen! Zahn um Zahn, Äug' um Auge, so heißt es schon in jenem Buch«, da» den Ausbeutern heilig gilt; wer ander» denkt und sein Fühlen und Wollen nach der verfälschten Moral jensr heuchlerischen und blut- gierigen Rotte richtet, der verdammt sich zur Dauer physischen und sittlichen Elend«, zur Ehrlosigkeit, zum Verluste jeder Menschenwürde, der sinkt zu jenem Tbiere hinab, dem es nur wohl ist, wenn es sich im Koth« wällt. Nun, Herr Dechner" — und der Sprechende schlug mit seiner verstümmelten Hand kräftig ermunternd auf die Schulter seines immer nachdenklicher und gespannter dretnschauenden Gegenüber —, „fangen Vie endlich an zu begreifen, daß Ihre Furcht vor einem sogenannten Verbrechen nicht» al» »in letzter Keim jene» Giftsamen» ist, den Ihnen der Köhlerglaube einer einfältigen Mutter, dir Bornrrtheit der Schulmeister und die Schlauheit der Pfaffen in Gestalt von biblischen Märchen und selbstisch-schlauen Sitten- gesetzen in die Seele aestreut hat?" „Ich hab« meine Mutter nie gekannt", grollt« P«ttr mit gedämpfter Stimme, aber mit einem fast feindlichen Blicke nach dem Brasilier. „Nun, dann hat Ihnen Ihr Vater den Kopf verdreht und Ihnen jenen Wechselbalg von Gewissen anerzogen, das sich scheut, den Todfeind auch als Todfeind zu behandeln." „Auch meinen Vater habe ich nie gekannt." „Teufel!" rief Carvalho verwundert, „dann sind Sie ein Findling, und «ine unbarmherzige Gesellschaft hat Sie groß gezogen, statt Sie, was viel mitleidsvoller gewesen wäre, schon als Kind der Vernichtung zu überlassen; hätte die Welt ein echte» und rechte» Erbarmen, dann gäbe sie ihnen jetzt auch das Brod zu dem Ihnen aufgedrungenrn Leben und den Erfolg für Ihr reiches Wissen und Können al» Baumeister; aber man läßt Sie ruhig hungern, weil Sie kein Freund der satten, protzigen Dummheit sind, und giebt die Aufträge lieber Jenen, die vor den staaterhaltenden Dieben und Mördern auf dem Bauche liegen und schweifwedeln." Bei der Anspielung auf die mancherlei ihm wegen seiner politischen Gesinnung entgangenen Aufträge schlug Peter wüthend auf den Lisch und wetterte: „Gemahnen Tie mich nicht daran, sonst könnte ich fuch»wild werden und irgend etwa» anrichten, was Keinem, auch Ihnen nicht, gefallen würde!" „Doch! mir würde e» gefallen; aber Zorn und Unüber legtheit würden Ihnen selber schaden, und da» wünsche ich nicht. Ich weiß Bessere» kür Sie: Werden Sie unser, und wir werden eine Zeit herauffuhren, in der dieser Staat au» den Fugen gehen und unter seinen Trümmern auch die Knoblauch» und Haßlochs und Lampert» begraben wird." „Wa» wissen Sie von den Lampert»?" quoll e» fast höhnisch über Peter'» Lippen. ^Nun, sind «» nicht Ihre Pflegkeltern?" Peter biß ingrimmig die Zähne aufeinander und dabei nickte er mehrmal» langsam mit dem Kopfe. Dann seufzte er tief au» seiner breiten, sich mächtig hebendrn Brust und sagte in dankbarer Erinnerung an sein« Pfleaemutter: „Frau Julie Lampert, da» bitte ich mir au», die lassen Sie mir au» dem Spiel«! sie hat sich Mühe aenug mit mir gegeben, und wenn'» nach ihr gegangen wär«, ich wäre längst berühmt und säße im eigenen Palast«, wie die Made im Specke. Aber den Gold schmied aeb« ich Ihnen prei»; er führt zwar stet» di« christliche Nächstenliebe im Munde, in Wahrheit ist er aber »in bart- herztg-knickeriaer Schuft; er Lat mir derbottn, je wieder seine Schwell« zu überschreiten, »eil ich «in Soeialdemokrat sei, aber — ha, ha, ha! ich kenne den Grund besser: der Geizhal» hat nur Angst, daß ich ihn anpumpen könnte." Er stieß heftig das Brett mit der Kaffeetasse von sich, so daß die Obertasse klirrend umfiel und den Rest ihres Inhaltes auf Brett und Tisch ergoß. Doch er achtete dessen gar nicht; seine Gedanken waren auf andere Dinge gerichtet. Er drehte seinen Stuhl eine Viertelschwenkung nach rechts, streckte die Beine lang von sich, stützte den linken Ellbogen auf die Tischplatte und ließ seine aderstrotzende Schläfe auf den Rücken der linken Hand sinken. In dieser Stellung verharrte er eine Zeit lang schweigend, indem er den vielen Enttäuschungen, die ihm das Leben bereitet hatte, nachsann. Ein bitteres Weh durchwühlte sein Her,, daß er nie das Antlitz seiner leiblichen Mutter ge sehen, me bewußt an ihrem Halse gehangen und von ihren Lippen den Segen ihrer Liebkosungen getrunken hatte; wäre ihm die Sonne der Mutterliebe nicht schon gleich nach seiner Geburt unteraegangen, er wäre sicher ein Anderer geworden; im Glanze jener Sonne hätten sich auch ihm die schemenhaften Pläne und Hoffnungen seiner Jugendjahre zu wirklichen und greifbaren Erfolgen verdichtet. Wenn Ihn wenigsten» noch die Liebe eine» Vater» entschädigt hätte! Aber auch der Vater war ihm von einem feindlichen Schicksal geraubt worden; er hatte hinüber fahren müssen über das große Wasser, um drüben im Lande der Freiheit und Dorurtheiltlosigkeit den Daseintkampf besser und ertragreicher zu kämpfen, als er ihn je bei un» in den engen einschränkenden Verhältnissen de» deutschen Vaterlande» gekämpft hätte. O, diese hochmüthige, protzig-armselige, durch ihre ständisch« Gliederung zur Verdummung und Sklaverei vorher bestimmte, kleinliche und heuchlerisch« deutsche Gesellschaft! Sie, nur sie, hatte ibn des väterlichen Segens beraubt; nicht ein feindliches mvstischr» Geschick, da» wohl nur ein leere» Wort, ein Popanz, für die Einfalt war; sie, diese deutsche Kleinwelt, war e» auch, die seine socialpollttsche Richtung nicht begreifen wollte, die ihn, den Feind der capitalistifchen Gesellschaft, mied, wir einen Pestkranken, und ihn gern durch Arbeltrlosigkeit zum langsamen Hungertod« gebracht hätte — Tod und Teufel! Sollt« er fick dies« verfehmuna ruhig bieten lassen? Sollte er wirklich still Hilten zu den physischen und moralischen Mißhandlungen, die Ihm da» bi» in» Mart der Knochen vrrfault« Bourgeo1»thum bereitete? Er schnellte von feinem Sitze empor und gewissermaßen da» Gchlußergebniß der kür ihn qualvollen Betrachtungen ziehend, sagte er grimmig entschlossen: „Die» Hundeleben soll ein Ende haben! Hole der Teufel alle meine Bedenken und Rücksicht nahmen, dir mich nur in meiner Thatkraft lähmen! Sie haben recht: nicht ich trage dir Verantwortung, sondern die Anderen, die mich gewaltsam hinaulstoßen au» dem Banne de» Frieden». Kampf denn, Kampf bis aufs Messer Allen, die diese verfluchte Welt noch zu stützen suchen!" Eine schattende Wolke zog draußen über die Nachmittags sonne und hüllte den Hof und das Gastzimmer plötzlich in Dämmerung. Der Erregte bemerkte es gar nicht; zu schmerzlich hatte ihm die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, ans Herz gegriffen; wäre der Brasilier nicht zufällig auf die Eltern Peters zu sprechen gekommen, wer weiß, ob es ihm gelungen wäre, den so zäh mit den alten Ehr- und Pflichtbegriffen Ver wachsenen aus seinem natürlichen Nähr- und Wurzelboden herauszureiben? Und hätte Peter das traurige Ziel geahnt, dem er mit seinem nur in der halben Unzurechnungsfähigkeit einer schier maßlosen Verbitterung gefaßten Beschlüsse entgegen ging, er hätte den Handstummel, den ihm jetzt der Brasilier bot, mit Abscheu zurückgestoßen. So aber ließ er seine Rechte willig von den drei umklammernden Fingern deS Anderen drücken und sich dessen Belobigung gefallen: „Bravo, mein lieber Freund! Nun aber auch Abkehr von allen blöden socialdemokratischrn Jugendeseleien, die doch nur wieder einen anderen Staat zum Ziele haben, in dem die Schlauen und Maulhelden den be quemen Aemtern vorstehen und die Dumen und Gefügigen die Frohne der täglichen gemeinsamen Schinderei verrichten würden! Lassen Sie diesen Traum von einer socialisirten Gesellschaft fahren und sehen Sie die Dinge an, wie sie sind: diese inter nationale Socialdemokratie ist ja die allerplumpste Bauern fängerei, für den deutschen Michel eine Veranstaltung zum träu merischen Schwelgen in allerlei Unmöglichkeiten, für den ge- schiift»klugen Juden eine Rückversicherung gegen die Brand schäden einer allgemeinen Revolution, für die streberischen Narren aller Raffen ein Mittel, einen Reichstagssitz zu erlangen und auf Kosten deS blöden Stimmviehs den persönlichen Ehrgeiz zu be friedigen. Wir, die wir den Schwindel durchschauen, wir sagen: Weg mit der Parlamentsschwäherei, weg mit dem Staate, weg mit jeder Gesellschaft! E» lebe die Anarchie! F» lebe die freie, fessellose Persönlichkeit!" Er legte auch noch seine Linke auf Peter's Immer noch fest gehaltene Hand und fragte feierlich: „Schwören Sie, von Stund' an ein Mann der That sein zu wollen?" „Ja, ich schwört c»." „Auch treu zu bewahren unser Geheimniß?" „Ja/ „Jeden Derräther zu strafen? „Ja." „So sind Sie unser und nur der Tod kann un» noch trennen." Er näherte seinen Mund dem Ohre Pttrr» und flüsterte ihm rin Wort zu.
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