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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.07.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-07-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980701022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898070102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898070102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-07
- Tag1898-07-01
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5010 Wahlkreise, in dem sich eine geringe Mehrheit für den freisinnigen Candidaten ergab, mochten die Social demokraten noch einmal wählen. Der „Vorwärts" behauptet unter großem Aufwand von Tüfteleien, der Bürgerliche sei nicht gewählt. Daß der Socialdemokrat die Mehrheit erlangt habe, wagt da« Centralorgan aber nicht zu behaupten. ES besitzt vielmehr die Originalität, den Gewählten auf zufordern, die Wahl nicht anzunehmen — ein Nachtrag zu den „Wahlscherzen", die diesmal qualitativ und quantitativ schlecht gerathen waren. Der politische Humor, in dem sonst namentlich die Schwaben excellirten, scheint an der Schwindsucht zu leiden. Ganz ohne humoristische Berbräinung, mit der sich Brüder doch unangenehme Dinge vorsetzen sollten, sondern einfach grob ist auch eine Abfertigung, die der Centrums abgeordnete Po csch in seinem Organ, der „Srbles. Bolksztg.", dem Parteigötzen I)r. Lieber angedeihen läßt. Lieber batte die CentrumSwähler in Glogau zur Unterstützung deS freisinnigen Candidaten gegen den konservativen ausgesordert. Daü wird ihm nun als em „Mißgriff" aufgemutzt, „wie sie selbst Neu lingen im politischen Leben nur selten begegnen". Abgeord neten, welche bereits ihr 25jährigeS parlamentarisches Jubiläum gefeiert haben, sollte, so meint Herr Porsch weiter, solche Vor eiligkeit nicht mehr unterlaufen. Deutlicher kann die bekannte Redensart, mit der ein bekanntes Thier im Hinblick auf seine Bejahrtheit angesprochen wird, nicht umschrieben werden. CS kommt aber noch besser. Herrn Lieber wird „intimirt", daß er als nassauischer Abgeordneter in schlesische Dinge sich nicht zn mischen habe. Und wenn cr mehr sein wollte, als Abgeordneter seines Wahlkreises, so hätte er sich aus Schlesien informiren lassen müssen, bevor er angriff. Also, die Führer-Legitimation deS Herrn Lieber wird in aller Form in Frage gezogen. Gewisse Berliner Regicrungökrcise könnten Hcrru Pvrsch um seine Unabhängigkeit und seinen Freimuth gegenüber dem „Reichsregenten" beneiden. Es dürsten nun ganz ansehnliche Nisse im ,CentrumSthurm" zu verkleistern sein. Daß etwas nicht in Ordnung sei, glaubte man hie und da schon daraus schließen zu können, daß die „Germania" aus sprach, die Combination, daß (der Schlesier) Graf Ballestrem, früher erster Bicepräsident LeS Reichstags, zum Nachfolger des Herrn von Bnol auöcrsehen sei, liege nahe. Das klinge, kieß es, wenn nicht geradezu nach Ablehnung, so doch nach Unlust. Und dies Gefühl ist wirklich vorhanden, denn die „Kreuzzeitung", die mit schlesischen Ceutrumöleuten gute Fühlung gewonnen hat, mahnt die Centrumsblätter, die sich über die Person des der conservativen Partei zu entnehmenden Präsidial mitgliedes den Kopf zerbrechen, sie sollten sich um das Näher liegende kümmern und dafür sorgen, „daß Graf Ballestrcm nicht zu kurz kommt". Nach der Wahl wird es dem Anschein nach mit den Schlesiern nicht so glatt verlaufen, wie bei der Wahl mit den dissentirenden Rheinländern und Westfalen, die aber noch nicht tovt gemacht sind. Was die Berliner und die westliche parteigouverncmentale Presse dem formlosen Schlesier antwortet, bleibt abzuwartcn. Falls es ihnen an kräftigen Ausdrücken mangelt, so seien sie auf daS Beispiel der antisemitischen „Staatsbürgerzeitung" hingewiesen, die eben die sächsischen Conservativen als „unter der Leitung ge wissenloser Publicisten und fanatischer Politiker" stehend hinstellt. Freilich, Herr Liebermann v. Sonnenberg, der in der „Staats bürger-Zeitung" die Hetzsachen gegen die „sächsische HofrathS- partei" bearbeitet, hat Ursache zum Aerger. Man erinnert ihn eben in der Presse daran, daß er vor nicht langer Zeit im Reichstag angekündigt habe, seine Partei werde bei den nächsten, also den eben vollzogene», Wahlen eine halbe Million Stimmen auf sich vereinigen. Den antisemitischen Wahl erfolgen gegenübergestellt, kann diese Reminiscenz auf Herrn v. Liebermann unmöglich calmirend wirken. Wie die „Kreuzztg." ihr fünfzigjähriges, so feiert der „NeichSbote" mit dem Beginn des Quartals sein fünfund zwanzigjähriges Jubiläum. Es versteht sich, daß sich beide Blätter bei dieser Gelegenheit große Verdienste um Gott und die Welt zuschreiben. Andere denken anders darüber, aber daS muß jeder Gegner anerkennen, daß die feste Behauptung einer politischen Grundanschauung, wie sich rhrer die beiden genannten Blätter befleißigen, eine der Voraussetzungen eines gesunden öffentlichen Lebens ist. Daß die Wahrheit dieses Satzes sich dem deutschen Publicum immer mehr verdunkele, ist eine alte Klage, die sich anläßlich der Wahlen wieder besonders vernehmlich gemacht hat. ES besteht in diesem Puncte keine Meinungs verschiedenheit. DaS konservative Parteiorgan hat fast mit denselben Worten auf den Schaden des Bestehens und Wachsens der sogenannten parteilosen Presse hingewiesen und freisinnige Blätter schließen sich dem ohne Vorbehalt an. Ein pfälzisches Blatt dieser Sorte hat kürzlich seine Leser aufgefordert, „Mann für Mann an die Urne zu treten, um dem Candidaten, der die meisten Anhänger hat, zum Siege zu verhelfen." Dieser Aufruf würde, wenn er nicht „Ercigniß" wäre, der Erfindungsgabe eines politischen Satirikers alle Ehre gemacht haben. Denn hier verräth ein Dummer das Recept, nach dem alle Parteilosen, wenn sie schon einmal politisch reden müssen, ihr Gebräu Herstellen: „Sieh' zu, wer und was die Mehrheit für sich hat, schreibe aber auch, wenn du e« ergründet hast, nicht-, was einem Abonnir- oder Jnserirfähigen in der Minder heit irgendwie wider den Strich gehen könnte". Diese Gebote gelten aber nur für die seltenen Fälle, wo die Leser sich vor sich selbst schämen, eine Zeitung zu halten, die über eine Alle bewegende politische Angelegenheit kein Wort zu sagen wagt. In der Regel sehen die Wackeren der parteilose» Blätter „Luft", wenn politische Fragen oder Ereignisse Zwiespältigkeit im Publicum Hervorrufen. Das gilt sogar von der Bericht erstattung. Oft werden selbst Tbatsachen, deren Vorhanden sein einer Partei unangenehm sein könnte, den Lesern ganz und gar vorenthalten. Geht das nicht, so stutzt man sie möglichst harmlos zu. Wer solche, ihm von anderer Seite bekannt gewordene Berichte da, wo sie charakteristisch werden, abgebrochen sieht, der hört förmlich den die Scheere aus der Hand legenden Redacteur mit Mephisto murmeln: „Es war so was vom Kreuze dran." Eine Meinungsäußerung wird nur in Dingen der auswär tigen Politik gewagt, und auch hier nur, wenn, wie z. B. im spanisch-amerikanischen Kriege, die Ansichten und Sym pathien im Lande ungetheilt sind, oder, wenn es gilt, Nachrichten spendenden Amtspersonen sich dankbar zu erweisen. Indem sie Tag für Tag die ärgste aller Sünden, die wider den heiligen Geist, begehen, verderben die parteilosen Blätter den politischen Sinn und das politische Verantwortlichkeitsgesühl ihrer Leser in einem von Denen, die diese Entwickelung nicht beobachten, jedenfalls unge ahnten Grade. DieLust an der Beschäftigung mit ernsten Dingen nimmt ab und mit ihr wächst die politische Unwissenheit, die sich denn auch in den politischen Gesprächen dieses PublicumS herrlich offenbart. Und was an Stelle der gesunden Kost im Uebermaße geboten wird, das Social-Sensationelle wie Social-Scandalöse, wirkt geradezu demoralisirend auf Mann, Weib und Kind. Man hat mit vollem Neckte den bekannten unglücklichen Ausspruch eines Nichtpolitikers und schwachen Poeten in daS beherzigenswertbe Wort verkehrt: „Die parteilose Presse verdirbt den Charakter." Gewiß, eine demagogische Publicistik kann Unheil anrichten, sie hat es gethan. Aber wenn sie Gedanken und Leidenschaften durch falsche Argumentation in falsche Bahnen lenkt, sie wendet sich Loch an Kops und Herz. Irregeleitete Köpfe und Herzen können wieder auf den rechten Weg zurückkehren; wer aber politisch zu denken und zu fühlen verlernt bat, wird, wenn er sich einmal politisch bethätigt, rettungslos die Beute gewissen loser Verführergeschicklichkeit. Keine Partei kann in dem Maß corrumpiren wie die Parteilosigkeit. „Der Teufel ist neutral." Der CabinetSwechsel in Frankreich veranlaßt den bekannten diplomatischen Mitarbeiter des „Figaro", Whist, daS „Werk" des bisherigen Ministers des Auswärtigen Hanotaux einer Würdigung zn unterziehen, die auch für Deutschland von Interesse ist. Whist stellt Herrn Hanotaux das Zeugniß aus, daß keiner an seiner Stelle es besser oder anders gemacht haben würde, als cr. Dieses Lob spendet Whist in erster Linie deshalb, weil Hanotaux, im Gegensatz zu den Ratschlägen der parlamentarischen Minorität, weder das europäische Concert verließ, noch eine chimärische Entente mit England im Osten zn erreichen strebte, sondern sich an Rußland anschloß. Daß Europa das frauzösische-russische Bündniß „vfsiciell notificirt" wurde, erscheint dem Diplomaten LeS „Figaro" natürlich als der Gipfel der Erfolge Hanotaux' Als solche führt er des Weiteren an: Hanotaux habe es ver standen, friedlich alle Schwierigkeiten zn beseitigen, denen das französische Protektorat in Tunis begegnete; Hanotaux habe die Stellung Frankreichs auf Madagascar unzweideutig ein gerichtet; Hanotaux habe mittels diplomatischer Abmachungen die Streitigkeiten Frankreichs mit England in Westafrika beendet; Hanotaux habe daS indo-chinesische Reich Frank reichs durch vortheilhafte Abgrenzungen und durch die Schöpfung wichtiger Absatzgelegenheiten erweitert und befestigt, und wenn das Schicksal Egyptens noch nicht entschieden sei, so handle es sich doch wenigstens an den Ufern des Nils nicht mehr um einen Zweikampf zwischen Frankreich und England allein. Angesichts solcher Erfolge ruft Whist aus: „Was können wir uns mehr wünschen? Die RückkehrElsaß-Lothringens zu seinem „Mutter-Vaterlande"? Das Ende des englischen Uebergewichts zur See? Fürwahr, die ungeheure Mehrheit, die „quasi-ulliversLlitö" der Franzosen verlangt nur die Aufrechterhaltung des Friedens." Man würde sich in Deutschland einer Selbsttäuschung hingeben, wenn man bezweifelte, daß Herr Hanotaux die auswärtige Politik Frankreichs mit Glück geleitet habe. Zumal seine Erfolge auf dem Gebiete der Colonialpolitik sind, insbesondere England gegenüber, sehr bedeutend, und die Zähigkeit, die er bei den Verhandlungen mit England bewies, verdient durchaus von deutscher Seite nachgcahmt zu werden. Eine Selbsttäuschung aber wäre es auch, wollten wir der Versicherung Whist's, daß die ungeheure Mehrheit der Franzosen nur die Aufrechterhaltung des Friedens verlange, zum Anlaß nehmen, den politischen Horizont im Westen als völlig frei von Wolken zu betrachten. Erfahrungsmäßig folgt in Frankreich Carvalho hatte begriffen: im Falle der Noth sollte die Flucht über den See hinweg bewerkstelligt werden können. Er nickte zufrieden und brummte, zu seinem Genossen Fritz gewendet: „Der Narr stellt sich gar nicht so dumm an, — schade, daß wir ihn nicht öfter werden brauchen können." Peter trieb mit leisen Ruderschlägen das leichte Boot durch die Wellen. In seinem Herzen regte sich die Unternehmungslust und der Reiz der Gefahr ließ ihn Reue und Angst vergessen, die ihn eben noch gequält hatten. Er war jetzt mit ganzer Seele bei einem Werke, das ihm vor Kurzem noch als eine Vernichtung seiner bürgerlichen Ehre erschienen war. So wandelbar ist der Mensch und so leicht kommen in ihm die Jnstincte der Urzeit, da das menschliche Leben nur ein ununterbrochener wilder Kampf gegen jedes andere Leben war, wieder zur Geltung. Als das Boot am Fuße der Linden angekettet lag, schlugen die drei Männer die Richtung nach dem Schlosse ein. Dieses war ein langgestrecktes, alterthümliches Gebäude mit nur einem einzigen Stockwerk und unverhältnißmäßig hohem Ziegeldach«. Es lag mit seiner Front von fünfzehn Fenstern dem Schloß garten zugewandt, wurde an der Westseite von einem zinnen gekrönten, uralten, seit Jahrhunderten immer wieder ausgeflickten Thurme flankirt und hatte im Giebel der Ostseite drei hohe, schmale Fenster, hinter denen das Wohn- und Schlafstübchen Ellen's, der lieblichen Tochter des Schloßherrn, lagen. „Gut, daß der Wind so heult!" raunte Peter. „Man kann uns kaum im Hofe hören." „Wer sollte da noch wach sein?" fragte Fritz mit seiner hohen, zuversichtlich klingenden Stimme. „Vielleicht Juno, die Hühnerhiindin, die ich oft genug ge streichelt habe, — ich hoffe aber, sie liegt an der Kette; sic wurde wenigstens früher immer während der Nacht angebunden." Man stand unmittelbar vor den Fenstern des Schlosses, die sich etwas mehr denn mannshoch über dem Erdboden be fanden, aber bequem zugänglich waren, da der untere Theil der Mauer des Gebäudes mit hölzernen Latten benagelt war, an denen sich Kletterrosen und allerlei Schlinggewächse empor rankten. „Wahrhaftig, Du hast recht gesehen", belobte der angenehm überraschte Carvalho seinen schon als Späher thätig gewesenen Genossen, „nicht einmal Fensterladen! Diese Leute haben «in gutes Zutrauen zur Sicherheit der Berliner Umgegend." „Dafür hat der Baron auch ein ganzes Arsenal von Flinten und Pistolen über seinem Bette hängen", warf Peter dazwischen; „hoffentlich machen wir keine Bekanntschaft mit diesen Waffen." „Unbesorgt! ich gehe, ihn zu überwachen", sagte Fritz und schlich sich auf den Fußspitzen davon. Er begab sich nach dem westlichen End« des Hauses, um dort die beiden Schlafstuben fenster, die ebenso wie alle anderen Fenster des Hauses finster waren, unter scharfe Beobachtung zu nehmen. Carvalho zählte, mit der Thür des Gartensaales in der Mitte beginnend, die Fenster ab: eins, zwei, drei . . . diese beiden müssen es sein. Nun halten Sie mir die Laterne; lassen Sie sie aber noch geblendet; ich brauche noch kein Licht." Er stieg an dem Spalier in die Höhe, holte aus seiner Paletottaschc eine Rolle, wickelte sie auseinander und drückte sie gegen eine der kleinen, altmodischen Fensterscheiben. Die Rolle blieb kleben. Nun wartete er, bis sich der Sturm wieder kräftig erhob, und als der Aufruhr des Luftmeeres wieder brausend und heulend um das alte Thurmgemäuer tobte, drückte er mit beiden Armen kurz und herzhaft gegen das Pechpflaster; ein dumpfes, knirschendes Geräusch, das aber von der entfesselten Windsbraut übertönt wurde, und der Zugang zu dem den Schatz bergenden Zimmer war geöffnet. Jetzt griff Carvalho mit seiner Linken durch den des Glases beraubten mittleren Rahmen des zu drei Scheiben eingerichteten Fensterflügels, tappte an dem senkrechten Theile des Fenster kreuzes entlang, fand den messingenen Wirbel, drehte ihn um und stieß den Flügel auf, ließ ihn aber vorsichtigerweise nicht aus der Hand, damit ihn nicht etwa der Sturm erfaßte und mit lautem Schalle hin- und herschlüge. „Das hätte uns noch viel mehr Mühe machen können!" raunte er dem unter ihm stehenden Peter zu, „reichen Sie mir die Laterne!" Er öffnete die Blende und leuchtete mit einer Halbkreisbewegung der Hand das Zimmer ab. Zufrieden nickte er: „Ueberall Teppiche; wir können die Stiefel anbehalten. Folgen Sie mir!" Schon hatte er sich über die Fensterbrüstung geschwungen; er hob den beweglichen Fensterflügel aus und stellte ihn auf den Fußboden. Peter kletterte hinterher und Beide traten nun vor das Oelgemälde zur Linken, das die feinen Spalten einer Schrankthür in der Tapete nicht gänzlich verdeckte, sondern für das Auge des Eingeweihten eine Spanne breit sichtbar werden ließ. „Hier ist es!" flüsterte Peter, mit dem Finger nach der Wand deutend, auf die der Strahl aus Carvalho's Laterne fiel, „nun lassen Sie uns schnell machen!" „Keine Ueberstürzung!" mahnte der kaltblütige Gefährte, „erst wollen wir uns für olle Fälle sichern." Das Zimmer hatte drei Thüren: eine den Fenstern gegen über nach dem Corridor, «ine östliche, die nach dem Gartensaal führte, und eine westliche nach der Bibliothek. Carvalho fand, daß die Thüren zum Corridor und zum Saal schon gesperrt waren, nur die Thür zur Bibliothek war unverschlossen; der Schlüssel steckte aber auf der Außenseite. Leise, leise öffnete die vernünftige Mehrheit stet- der unvernünftigen, aber schreienden Minderheit. Danach wollen wir un» auch in Zukunft richten. DaS neue italienische Cab inet, dessen sämmtliche Mit glieder der Linken angehören, zählt vier Anhänger CriSpi'S, zwei Anhänger Zanardelli'S, einen Parteigänger Giolitti'S. Die Kammer, die nur kurze Zeit tagen wird, wird daS Budgelprovisorium bis Ende Dccember ohne Opposition be willigen. Die ganze Linke und daS von Sounino geführte Centrum unterstützen daS Cabinet, dem Nudini zunächst keine Opposition machen wird. Die Rechte, die von der Re gierung gänzlick ausgeschlossen worden, ist unzufrieden; sie kann aber bis Ende November nichts gegen daS Cabinet unternehmen. General Pelloux, der Leiter deS CabinrtS, befehligte am 20. September 1870 die Artilleriebrigade, die die Bresche unweit der Porta Pia schoß. Im Jahre 1880 trat er als Generalsecretair in daS KriegSministerium ein und führte sein umfassendes Reformprogramm durch. Im Jahre 1881 wurde er Mitglied der Kammer als Vertreter von Livorno und galt von da als zukünftiger Krieasminister. Thatsächlich wurde er im ersten Ministerium Nudini (1891) Kriegöministcr, räumte aber schon nach einem Jahre dem General Ricotti seinen Platz ein. Nach Rudini'S Sturz im Mai 1892 trat er wieder als Kriegsminister inS Cabinet Giolitti ein. Im Juli 1896, als.Nudini die erste Umgestaltung seines im März gebildeten CabinetS vornahm, übertrug er das KriegSressort Pelloux, doch schied dieser schon im December in Folge eines Zerwürfnisses mit der Kammer wieder aus. Jetzt, nach dem Sturze Rudini'S, ist er dessen Nachfolger geworden. Das auswärtige Amt hat der Admiral Graf di Canevaro übernommen. Er stammt aus einer ligurischen Familie und gehört der italienischen Marine seit 1852 an. In der Seeschlacht bei Liffa zeichnete er sich durch Muth und Umsicht aus, dieselben Eigenschaften und große Klugheit bewährte er bei seinen großen Seereisen. In die Kammer trat er 1882 als Abgeordneter von Genua ein, 1896 wurde er zum Senator ernannt, 1897 wurde er Geschwaderkommandeur vor Kreta. Unter den übrigen Ministern ist insbesondere der frühere Republikaner Fortis viel genannt worden. Nachdem er bei Montana unter Garibaldi gefochten hatte, kehrte er in seine Heimath, die Romagna, zurück. Dann begab er sich nach Bologna, wo er in die Kanzlei eines Advokaten eintrat, spater ging er wieder nach Forli. Nach einigen mißglückten Versuchen, ein Mandat zu erhalten, wurde er im Jahre 1880 von seiner Vaterstadt in die Kammer entsandt, in der er sich der äußersten Linken anschloß. Bald war er nicht nur in seiner Gruppe, sondern bei allen Parteien an gesehen. Am 2. December 1888 trat er als Unterstaats- secretair des Innern in daS Cabinet CriSpi ein, ein Schritt, der damals großes Aufsehen erregte, und von dem an, wie die „Nat.-Ztg." hervorhcbt, der Verfall der republikanischen äußersten Linken datirt werden kann. Zu den Verdiensten Crispi'S um die Monarchie gehört es, daß er eS verstanden bat, einen Mann wie Fortis mit ihr auszusöhnen und für sie zu gewinnen. Im Cabinet Pelloux hat Fortis daS Ackerbau ministerium übernommen. Der neue Kriegsminister General Gras di San Marzano ist einer der hervorragendsten italienischen Generäle. Nachdem er an den Befreiungs kämpfen ruhmreichen Antheil genommen, wurde er in die Kammer gewählt, wo er auf den Bänken der Rechten saß, seine parlamentarische Laufbahn gab er im Jahre 1876 auf. Er war mehrere Male mit diplomatischen Sendungen ins Ausland betraut, sein größtes Ansehen dankt er jedoch den» von ihm geleiteten Feldzuge nach Abessinien, über den er ein interessantes Tagebuch veröffentlicht hat. Dem Cabinet di Rudini gehörte er seit dem 14. December 1897 als Nachfolger des Generals Pelloux im KriegSministerium an. Der Unterrichtsminister Guido Baccelli hatte in früheren Ministerien bereits denselben Posten inne. Deutsches Reich. 6. H. Berlin, 30. Juni. Als Herr Bebel auf dem socialdemokratischen Parteitag in Hamburg die Betbeiligung der Socialdemokratie au den preußischen Landtags wahlen durchgedrückt hatte, erhoben sich sofort in Berlin zahlreiche Stimmen, die gegen den Beschluß sich erklärten und den Delegirte», die gegen ihn gestimmt — meistens Berliner — Anerkennung zollten. Jetzt, nachdem ihnen in Berlin von den vereinigten bürgerlichen Parteien zwei Wahl kreise abgcnomiuen und anderwärts manche Siegeshosfuungen zu nichte gemacht worden sind, ist fast in allen maßgebenden und einflußreichen socialdemokratischen Kreisen die Ansicht zum Durchbruch gekommen, daß jener Beschluß ein grober taktischer Fehler gewesen sei und daß die Genossen jeder Be theiligung an den preußischen Landtagswahlen sich zu enthalten haben. Jedenfalls wird die Angelegenheit auf dem Stuttgarter Parteitage zur Sprache gebracht werden. Hält die jetzt herrschende Stimmung an, so wird Herr Bebel eine sehr schwere Aufgabe haben, seinen Standpunkt zu vertheidigen. er diese Thür nur so weit, daß er mit gewandtem, unhörbarem Griffe den Schlüssel von außen abziehen konnte, dann drückte er sie wieder zu, steckte den Schlüssel von innen ins Schloß und drehte ihn zweimal um seine Achse. „So, jetzt sind wir sicher wie in Abraham's Schooß! Sehen Sie nur, da blitzt es wieder; wir hätten uns die Laterne sparen können." Sie hatten das Bild abgenommen, auf den nahen Divan gelegt und musterten nun das Schlüsselloch, das in der Tapete sichtbar geworden war. „Soll ich die Thür sprengen?" fragte Peter, indem er ein Stemmeisen aus seiner Brusttasche hervorlangte. „Pscht! pscht!" machte Carvalho, „vielleicht geht es so." Er hielt wieder seinen Bund Nachschlüssel im Stummel der Rechten und suchte nun mit der Linken die passende Nummer aus. „Ha, ha", triumphirte er, „das schließt wie Butter! ein ganz ordinaires Fabrikschloß! Das hätte man auch mit einem Zahnstocher aufschließen können!" Das eiserne, tapetenüberklebte Thllrchen stand offen und Car valho überzeugte sich mit raschem, sicherem Blick, daß der ge suchte Schatz in guten Noten der Reichsbank vorhanden war. Sieben Packetchen, jedes zu zehntausend Mark, steckte er in eine der unergründlichen Taschen seines Ueberziehers; den aus kleineren Scheinen und mehreren Geldrollen bestehenden Rest ließ er fingerfertig in den Taschen seines Beinkleides und in einer Brust tasche des Rockes verschwinden. Peter hätte wohl beanspruchen können, daß auch ihm ein Theil des Geldes anvertraut wurde; er spürte aber gar kein Verlangen danach, er würde sich durch die Berührung dieses Geldes erst für wirklich befleckt gehalten haben, und so war er ganz froh, daß sein Genosse dieses Geschäft allein besorgte, und mahnte nur, als es beendet war, zum eiligen Rückzug«. Carvalho hatte aber, wie es schien, noch Zeit übrig; war es wirklich nur der Durst, der ihn dazu antrieb, oder trug er einem abergläubischen Brauche Rechnung? Genug, er spähte nach etwas Trinkbarem im Zimmer umher und trat, als er es endlich entdeckt hatte, vor ein Eckbord, auf dem eine an gebrochene Flasche Portwein und mehrere verschieden geformte Gläser standen. Die niedlichen Schnapsgläschen dünkten ihm gar zu winzig; er ergriff ein Bierseidel, das sich ebenfalls hierher verirrt hatte, goß den ganzen Inhalt der Flasche hinein und reichte das Seidel dem ungeduldigen Gefährten: „Schnell noch einen Schluck auf glückliches Entkommen!" Widerwillig nahm Peter das Glas, und nur um den Auf enthalt nicht noch mehr zu verlängern, kostete er von dem Weine. Carvalho stürzte den Rest hinunter, stellte das Seidel auf da» Bord zurück, blendete dann seine Laterne, steckte sie «in Für Berlin ist die Sacke insofern vollständig bedeutungslos, als die I. und die II. Classe in ihrer überwiegenden Mehrheit freisinnige Wahlmänner wählt; damit ist die Wahl entschieden; die Conservativen können nur in der III. Abtheilung Erfolge erzielen und die meisten Berliner socialdemokratischen Führer glauben, daß die Genoffen nicht dazu da seien, den Sieg der „treulosen" Freisinnigen nock voll ständiger zu machen. Daran, daß die Freisinnigen den Social demokraten freiwillig ein Mandat überlasten, ist selbstver ständlich nicht zu denken. Herr Bebel wird also seinen Wunsch, auch im preußischen Abgeordnetenbause sein immer matter werdendes Licht leuchten zu lasten, nicht erfüllt sehen. * Berlin, 30. Juni. Wie der Telegraph bereits kurz aus Danzig gemeldet hat, hat sich die Deutsche Colonial- Gesellschaft mit dem englisch-französischen Niger abkommen beschäftigt und gegen verschiedene Bestimmungen desselben, in denen sie eine Verletzung deutscher Rechte erblickt, Einspruch erhoben. Die von der Versammlung gefaßte Resolution hat folgenden Wortlaut: Di« Hauptversammlung der Deutschen Colonialgesellschaft wolle unter Bezugnahme auf daS unter dem 14. Juni d. I. abgeschlossene franzöfich»englische Abkommen beschließen, den Herrn Reichs kanzler zu ersuchen, die demnächst bevorstehenden Verhandlungen zwischen Deutschland und England wegen Abgrenzung unseres TogogebieteS zu benutzen, um diejenigen Wünsche der Deutschen Colonialgesellschaft zur Geltung zu bringen, die behufs Lösung der noch offenen, durch Vereinbarung mit England zu regelnden Fragen auf verschiedenen colonialen Gebieten früher, zum Theil wiederholt, ausgesprochen sind. Insbesondere hofft die Deutsche Colonialgesell schaft, zur Wahrung der deutschen Rechte im Nigerbogen mindestens folgende Forderungen von den Vertretern der kaiserlichen Regierung mit Nachdruck vertreten zu sehen: 1) Die Deutsche Colonialgesellschaft erblickt in denjenigen Ab machungen des französisch-englischen Abkommens vom 14. d. M., die sich auf den Austausch eines auf dem linken Nigernfer gelegenen GebietStheiles von Gandu gegen bisher französisches Gebiet be ziehen, eine Verletzung der deutschen Vertragsrechte hin- sichtlich Gandus, erhebt Einspruch dagegen und spricht die Erwartung aus, daß auch die Neichsregierung gegen dieses rücksichtslose Vor gehen Englands Einspruch erheben wird; 2) daß das Sultanat Gandu und seine Vasallenstaaten Nupe und Jllorin, auf das wir Anrechte durch den Vertrag unserer Togo-Expedition, worin der Sultan die deutsche Schutzherrschast anerkennt, erworben haben, nicht ohne Vereinbarung mit der deutschen Regierung aufgetheilt wird; 3) daß bei der Ausdehnung der Interessensphäre unserer Kamerun-Col onie bis zu den Ufern des Tschadsees eine Anstheilung des TschadseebeckenS mit seinen Inseln, wofern solche durch die Linie, die aus dein Meridian 35 Minuten östlich LeS Längenmeridians, der durch Kuka geht, vom Norden nach dem Südufer gezogen wird, beabsichtigt sein sollte, nicht aner- kannt wird; 4) daß unsere Rechte in Sana und Sokoto insofern ge wahrt werden, als der Sultan von Sokoto durch Vertrag im Jahre 1885 bereits in den ihm unterstellten Ländern den deutschen Kaufleuten für den Betrieb des Handels dieselben Rechte und Frei heiten übertragen hat, wie sie damals die Angehörigen anderer Nationen, insonderheit anch die Royal Niger Company, in seinen Gebieten genossen haben und genießen; 5) daß bei der nothwendig werdenden Revision der Niger- Schi fsfahrtsacte alle die Bedingungen erfüllt werden, die die Acte versprach, damit wir aus dem Niger und seinen Nebenflüssen ungehindert die Erschließung unserer Interessensphären in den Benne-Tschadsecgebieten vollziehen können; 6) daß bei der Abgrenzung unserer Togo-Colonie nach dem Westen eine natürliche Grenze vereinbart wird, die nicht sowohl unser Interesse allein, als ebenso sehr dasjenige beider Nationen erheischt. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, Laß wir sowohl in der neutralen Zone wie in den nördlich der neutralen Zone gelegenen Gebieten ältere Vertragsrechte als England besitzen, und zudem, daß gelegentlich des deutschen Togo-Akommens Frankreich seine Rechtsansprüche auf Mampursi und Gambaga neben anderen Rechtsansprüchen an uns abgetreten hat. ' — Der Vortrag, zu dem sich der Reichskanzler Fürst zn Hohenlohe nach Kiel zum Kaiser begeben hatte, betraf, wie verlautet, den Ausfall der Neichötagswahlen und die für die nächste Tagung LeS Reichstags vorzubercilen- den Fragen, so weit dieselben in: StaalSministerium bereits zu einer principiellen Besprechung gelangt sind. — Wie der „Südd. NeichS-Corr." mitgetheilt wird, ist verfügt, daß die Kaiser - Wilhelm - Erinnerungs medaillen für Veteranen, welche verstorben sind, nachdem sie ihren Anspruch auf die Medaille dargethan hatten, nebst den auf die Namen der Verstorbenen auSzu- und schlüpfte, gewandt wie eine Eichkatze, wieder zum offenen Fenster hinaus. Als Peter den gleichen Weg nahm und schon draußen an dem Spalier niederstieg, entfiel ihm das Stemmeisen. — „Nichts zurückgelassen!" gebot der vorsichtige Carvalho, der das Ge räusch gehört hatte, „suchen Sie das Verlorene!" Peter bückte sich, griff mit der tastenden Hand durch das Blätter- und Aestegewirr der Spalierpflanzen und fühlte endlich dicht an der Mauer des Hauses die kalte eiserne Klinge des ver lorenen Werkzeuges. „So, ich habe es." „Dann fort nach dem Boote!" commandirte Carvalho. Sie schlichen hastig dem Seeufer zu, und auch Fritz, der bisher unbeweglich nach den letzten Fenstern des Schlosses ge späht hatte und nun mit scharfem Ohr die Schritte der Kameraden hörte, gab seinen Posten auf und schlug dieselbe Richtung ein. Sie hatten alle Drei beinahe schon die beiden Linden er reicht, unter denen das Boot lag, als ein urplötzlicher Windstoß Peter's Schlapphut erfaßte und in der Richtung nach dem Schlosse entführte. „Zum Teufel! So geben Sie doch besser Acht!" fuhr ihn Carvalho verdrießlich an. „Nun können wir wieder warten, bis Sie den alten Deckel eingefangen haben. Na, vorwärts! vorwärts! Jagen Sie ihm nur nach! Als Visitenkarte können Sie ihn doch nicht zurücklassen!" Peter begriff, daß sein Hut, wenn er von Anderen auf gefunden wurde, sehr leicht auf die Spur der Thäter führen konnte; «r lief dem Hute nach, der wie ein rollendes Rad in in der Mitte eines schräg nach der westlichen Schloßecke führenden Weges lustig dahintanzte. An der Schloßecke angekommen, bückte er sich, um den Flüchtling zu ergreifen; aber ehe er ihn noch erfaßt hatte, entführte der Wind ihn aufs Neue und jagte ihn nach der Giebelseite des Schlosses. Dort befand sich ein freier, kreisrunder, mit feinstem Kies bestreuter Platz, auf dem Ellen mit den jüngeren Gästen deS Hauses gelegentlich die aus der Fremde einaefllhrten Kugel- und Ballspiele zu spielen pflegte. Dieser Platz war mit einer dichten Weißdornhecke ein gefaßt und in dieser Hecke blieb endlich d«r windgepeitschte Hut hängen, so daß ihn Peter, dessen Augen sich schnell an das Dunkel gewöhnt hatte, wiedergewinnen konnte. Als er ihn athemlos aufhob, hörte er über sich ein Geräusch und wandte noch unbedeckten Haupte», das Antlitz forschend in die Höhe. Im selben Augenblick ging eine blendende Helle über den Himmel und er erkannte im Scheine des Wetterleuchten» da» Schloß fräulein, das in weißem Nachtgewande am offenen Giebelfenster stand und in den Garten hinunterspähte. (Fortsetzung folgt.)
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