Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.07.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-07-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980706029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898070602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898070602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-07
- Tag1898-07-06
- Monat1898-07
- Jahr1898
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis t» H« tzmrptqMdMou od« d« t« Gtvdt. dqtrk mü> Lm Vororte» «richtete» «»»- oobestrllen »bgeholt: vierteljährlich4.bO. bet -toednaliaer täglicher Zustellung in» Hau« L.üO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertestährlich L—. Dtrect» täglich« Kreuzbandienduag t»< AuslasL: monatlich 7.bO. Die Morgen-Au-gabe erscheint um '/,? Uhr. dt, «beud-Ausgabe Wochentag» um S Uhr. Rr-artlo« und Erpe-ttio«: Iehannesgaffe 8. Di» Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Ott» Slennn'S Tortim. (Alfred Hahn). Universitütsstraße 3 (Paulinum), LoniS Lösche, Katharinenstr. 14, part. und Königsplatz 7. Abend-Ausgabe ripMcr Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes nnd Polizei-Amtes der Ltadt Leipzig. A«-eige«PreiS die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter dem Redaction«strich (»ge spalten) üO-4, vor den FamilirnnachtichNn (6 gespalten) 40/^. Eröher» Schrift»» laut unser«» Preis- verzeichnib. Tabellarischer und Ziffernlatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausaad«, ohne Postbefürderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgab«: Nachmittag» 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anjeigcn sind stets an die Expedition zu richten. . —s—- Druck und Verlag von E. Dolz in Leipzig. 337. Mittwoch den 6. Juli 1898. 92. Jahrgang. Die Rede White's. -H> Die Rede, die Herr Andrew White, der amerikanische Botschafter, am Montag in unserer Stadt gehalten hat, ist ohne Zweifel keine Gelegenheitsrede, sondern ein wohlüber legter Staatsact, der die Stimme Deutschlands herausfordern und das Verhältniß, das sich zwischen einem großen Theile des deutschen Volkes und den Amerikanern getrübt hat, klären soll. In diesem Sinne ist die Rede White's mit Freuden zu begrüßen. Jenseits deS großen Wassers leben so viele Volksgenossen, die sich noch ein Herz für ihre alte Heimaty, für ihr ursprüngliches Vaterland erhalten haben, daß eS nicht gleichgiltig sein kann, wie sich die Stimmung in ihrem Vaterlande gewendet hat. Nun wahrlich, White hat Recht, wir sind mit Amerika durch mannigfache geistige Bande verkettet, wir sind auch mit ihm wirtbschaftlich verbunden — gewesen, denn von Seiten Amerikas ist in den jüngsten Jahren Alles versucht worden, durch rücksichtslose Ausbeulung auf wirthschaftlichem Gebiete die Beziehungen zu Deutschland zu lösen. Gewiß ist es das gute Recht jedes Staates, seine Zölle einzurichten, wie er Lust hat, aber wenn ein Land im Laufe weniger Jahre die Einfuhr ans dem ankern immer mehr erschwert, so daß der Mangel an Aufträgen im wirth- schaftlichen Leben fühlbar wird, dann kann man doch wirklich nicht verlangen, daß man seine Sympathie dort nicht herab schraube. Wenn dann weiter in jenem großen weiten Lande jenseits des Wassers das Capital in größter Rücksichts losigkeit sich zusammenthut und nicht nur die Aus- und Aufsaugung seiner Mitbürger, sondern auch der Be wohner fremder Staaten systematisch betreibt, dann darf man doch auch nicht annekmen, daß dies die Sympathie erhöhe. Wenn ein Petroleumtrust die Preise in Deutschland, dem Hauptabnehmer amerikanischen Petro leums, dictirt, wenn Speculanten, wie Leiter, in unserem Lande das Brod vertheuern, wenn große Gesellschaften jeden Tag aus der Erde wachsen, die die Production anderer Länder „controliren" wollen, wie jetzt der Nähfäden-Trust, auch dann kann man sich nicht Wundern» wenn die Herzen weniger schnell schlagen, wenn wir von Amerika hören. Indessen, wie gesagt, die wirtbschastlichen Verhältnisse geben noch nicht den Ausschlag. Es kommen auch andere Momente hinzu. Da ist z. B. die Presse. White will, daß man auf sie kein Gewicht lege. Ja, wenn die Presse nicht als der Dolmetsch der Gefühle eiueö Volkes gelten soll, wo soll man denn sonst die Volks stimmung erfahren? Und diese amerikanische Presse ist in den letzten Jahren nicht liebenswürdiger gegen uns geworden. Natürlich nicht immer und nicht in allen Zeitungen hört man Mißtrauen gegen unsere Politik, aber doch vielfach wird jeder Fortschritt, den wir machen, bemängelt, jeder Schritt zur Befreiung aus europäischen wirthschafttichcn Ver hältnissen mit unliebenswürdigen Glossen begleitet, jeder in unserem Volksleben wurzelnde Ausdruck conservativer Färbung von den „freien" Amerikanern mit Lächeln oder Spott ver merkt. Wir sagen ausdrücklich, daß wir hierfür nicht die amerikanische Regierung verantwortlich machen, ebensowenig wie Herr White die deutsche für unsere Anschauungen, aber das Gefühl beschleicht uns, daß in der freien Republik, die aller vier Jahre ihr Oberhaupt wechselt, doch einmal solche Ideen Einlaß finden könnten und daß wir uns deshalb vorsehen müssen. Nicht vergessen ist von uns, wie Amerika 1870 die Neutralität gewahrt hat. Die Presse ist auch in Amerika eine Macht, nur größer als bei unS, und sie ist es, die sich zunächst ein wenig Mäßigung auferlegen müßte. Wir wollen nicht sagen, man thue etwas, um unsere Gefühle zu verletzen, aber man vermeidet nicht, es zu thun. Da ist z. B. nun ein Stimmführer dieser Presse, Herr Poultney Bigelow. Fußend auf seiner Schul kameradschaft mit dem deutschen Kaiser, hat Herr Bigelow sich in die Oeffentlichkeit gedrängt, und obwohl er früher zeitweise Zutritt zu dem Hause des Kaisers gehabt hat, ließ er sich nicht abhalten, in niedrig-gehässiger Weise über Deutschland und die deutsche Politik herznfallen. Es ist zu bedauern, daß an gesehene Zeitschriften in England und Amerika Herrn Bigelow nach wie vor ihre Spalten öffnen. Auch jetzt wieder entbält die Iulinummer des „Century Magazine" über den Charakter und das Leben Kaiser Wilbelm'S einen Artikel Bigelow'S, der von hämischen und thörichten Urthcilen strotzt. Wir wollen unsere Leser mit den Bemerkungen Bigelow'S über das be kannte Telegramm des Kaisers an den Präsidenten Krüger verschonen; aber was Herr Bigelow über daS Jahr zehnt deutscher Geschichte etwa von 1871—81 sagt, muß vor der Vergessenheit bewahrt bleiben. Nach Bigelow »belastete" Fürst Bismarck Deutschland „mit einer Million Quadratmeilen pesterfüllten, heißen Landes, das aus Höflich keit ein Colonialreich genannt wird". Nach Bigelow trieb Deutschland, als Wilhelm II. die Regierung über nahm, durch die Art und Weise, wie Bismarck die Fragen der inneren und äußeren Politik behandelte, dem politischen Chaos entgegen. Wenn angesehene Monatsschriften der artiges nichtsnutziges Zeug verbreiten, was ist da von der TageSpresse zu erwarten? Muß da nicht schließlich der Deuticke, der sein Reich liebt, ärgerlich werden und Gleiches mit Gleichem vergelten? Keinem Menschen in Deutschland wird es einfallen, die Tüchtigkeit, den Geschäftssinn, die Ehr lichkeit und jetzt wieder die Vaterlandsliebe der Amerikaner in Zweifel zu ziehen, ihre Staatsmänner im Ernste verächt lich zu machen — in der deutschen Presse hat man niemals gelesen und wird niemals solche Urtheile über Washington oder Franklin lesen, wie sie die Amerikaner zu jeder Zeit über Bismarck zum Ausverkauf auf Lager haben. Was bat nun insbesondere bei dem Kriege gegen Spanien verstimmt? Doch nur der Trenbruch gegen Spanien. Wir wollen Spanien keine Lobrede halten, eS hat dies schon wegen seiner WirthschaftSpolitik uns gegenüber nicht verdient, aber wenn man zusah, wie dieses kleine Land sich gegen die von privater amerikanischer Seite genährte Revolution wehrte, wie cs seine Söhne immer wieder nach Cuba schickte, um das Erbtheil eines Christoph Columbus zu bewahren, wie es redlich bemüht war, die Ehre seiner Waffen auf recht zu erhalten gegenüber einem Feinde, der einem Löwen gleich seine Tatze auf die Mans legt, dann wird man das Mitgefühl verstehen. Und nicht nur das Mitgefühl mit dem schwächeren Gegner ist es, das wir Spanien entgegenbringen, auch ein noch im deutschen Volke vorhandenes Gefühl der Ritterlichkeit der einsamen Frau gegenüber, die Königin- Regentin heißt, aus deutschem Stamm ist und in ihrem Leben seit langer Zeit nichts als Sorgen und Trübsal kennen gelernt hat. Gewiß, mit solchen Gefühlen hat die Politik nichts zu schaffen, aber das Herz kehrt sich nicht an die Politik und schlägt seinen eigenen Schlag. Nun sagen die Amerikaner, daß sie aus Gründen der Menschlichkeit die Hand auf Cuba legen mußten. Wir zweifeln keinen Augenblick, daß der Unwille über das spanische Regiment auf Cuba berechtigt war, wir bezweifeln aber, daß er ausschlaggebend für den Krieg war. Hier haben sehr reale Motive mitgespielt und die Zuckersrage, die gerade unsere Landwirthschast aufs Innigste berührt, hat allein eine große Nolle übernommen, wie sie auch zur Annexion Hawaii'S geführt hat. Der moralische Schemel, auf den die Einmischung sich aufflellen will, ist morsch, für moralische Entrüstung kann man im eigenen Lande genug Grund finden — ist denn das Niedersckießen wehrloser Arbeiter durch die Pinktonpolizisten bei den Streiks in Penn- sylvanicn schon vergessen? Und nun die politische Seite der Frage? Kann eS im Ernste Deutschland und einer europäischen Macht, ins besondere einer Monarchie, gleichgiltig sein, ob sich die Republik Nordamerika vergrößert, ob der Schwerpunkt der Politik ans Europa nach Washington verlegt wird? Nicht nur die Farben auf der Landkarte ändern sich, wenn Amerika die Philippinen und Antillen sich ein verleibt, auch die Constellation der Mächte ändert sich und das greift tief in das Leben der Völker ein. Jede Politik ist darauf gerichtet, die Ehre und die Wohlfahrt des Volkes zu fördern. Wenn eine Macht, wie es Amerika thut, rück sichtslos nur seine eigenen Interessen in der WirtbschastS- politik vertritt, so müssen die anderen Länder sich ebenfalls rühren nnd ihre Interessen vertreten. Wenn Amerika im Begriff steht, die zwei größten und kostbarsten Inselgruppen für die Anderen abzusperren, und vielleicht bei erregtem Appetit ncch weiter geht, so ist es Pflicht der Selbsterhaltung, nicht ruhig zuzuschen. Und sollen wir dem, der unS wirthschaftlich be droht, noch ferner Sympathie entgegenbringen? White hat Recht — deutsche Wissenschaft ist in Amerika wohlgelitten, deutsche Gelehrsamkeit wohlgeachtel. Aber diese Wissenschaft ist nur die exacte Wissenschaft. Der tiefere Geist, der in ihr steckt, das Streben nach dem Ideal eines geistig freien Menschenthums, hat nur wenig Früchte getragen; das, was uns die Bezeichnung des Volkes, der Dichter und Denker eingebracht bat, die tiefere, innere Herzensbildung, die in der Anerkennung des Anderen, oft in der Verleugnung des eigenen Ich, ihre Freude findet, das hat Amerika nicht von uns erhalten oder nicht — angenommen. Auch unsere Landsleute haben sie drüben zum Theil in der Jagd nach dem Dollar verloren. Wir reichen den Amerikanern gern die Hand als stamm verwandtes Volk, aber der warme Händedruck von uns, der mit freiem Blick gegeben wird, muß auch frei und ohne Hintergedanken zurückgegeben werden. Der spanisch-amerikanische Krieg. Nunmehr kann auch Herr Sagasta den Verlust der spanischen Flotte nicht mehr leugnen. Beim Verlassen des Palais am Dienstag Nachmittag erklärte er einem Vertreter der „Ageucia Fabria", eS bestätige sich, daß das Geschwader Cervera's ge sch la gen,der „AlmiranteOquendo" verbrannt, die „Jnfanta Teresa" gescheitert und Admiral Cervera gefangen sei. Die betreffende Depesche sei noch nicht genau dechiffrirt (!). Tie Nachricht sei von mehreren Schiffbrüchigen telegraphirt worden. Tie Familie Cervera'S habe noch keine weiteren Nachrichten erhalten. — Sämmtliche Behörden und militairische Vereinignngcn beschlossen, an die Truppen in Santiago und die Bemannung deS Geschwaders Cer vera's ein herzliches Glückwun) cktelegram m zu richten und ihnen Auszeichnungen und Belohnungen zuzuerkennen. Wenn man glauben wollte, daß nunmehr die Minister in Madrid ein Einsehen haben und Frieden schließen müßten, so bat man sich arg getäuscht. Am Dienstag Abend bat ein Ministerrath nach kurzer Berathunz beschlossen, nicht in die Fr iedenSverhandlungen einzutreten, sondern den Krieg bis zum Aeußersten, so lange noch ein spanischer Soldat auf kubanischem Boden stehe, fortzufübren. Man liebt zwar den Spanierstolz, aber wenn die Herren in Madrid so eigensinnig stolz sind, so werden sie nicht mehr viel Gegenliebe finden. Auf was hoffen denn kiese Herren noch? Wollen sie vielleicht auch noch Havanna in Grund und Boten geschossen haben? ES scheint fast so. Ueber Santiago verlautet nichts Neues. Ob es sich über geben hat, ob die Amerikaner mit der Beschießung begonnen haben, darüber liegt noch keine Meldung vor. Es scheint, als ob Sampson noch warte, bis die Ausländer die Statt verlassen haben. So gestattete er den britischen Kriegs schiffen „PallaS" und „Alert" und dem österreichisch ungarischen Kriegsschiff „Maria Theresia", in Santiago ein- znfabren, um die fremden Unterthanen fortzubringen. Ein englisches Schiff ist bereits von Santiago nach Kingston ab gegangen. Auch dürfte er erst die Minenschlingcn ans der Hafeneinfahrt entfernen, was ihm nickt sofort gelang. Kinley selbst bat Sampson angewiesen, mit Shafter zu berathen, ob es der Flotte möglich sei, in den Hafen einzulaufen, um die Stadt zu beschießen. Ueber die bereits gemeldeten Vorgänge liegen noch folgende nähere Mittheilungen vor: * New Nork, 5. Juli. General Shafter bestätigt, daß General Pando mit 6000 Mann in Santiago eingetroffen ist; die Truppen seien bereits aus die verschiedenen Befestigungen vertheilt. — D e Commandanten der spanischen Schiffe „ViScaya", „Furor" und „Pluton" sind gefangen genommen worden. Drei Osficiere und sechs Mann des „Pluton" haben sich an Bord de« Aviso» geflüchtet, welcher der „Associated Preß" gehört. * Havanna, ö. Juli. Tie amerikanischen Schiffe er neuerten den Angriff auf Tunas, wurden jedoch zurück- geschlagen. Die Spanier hatten 5 Verwundete. Einige Häuser wurden beschädigt. Die Kabelverbindung mit Santiago ist wieder hergestellt. Tie Regierung hat keinerlei Nachricht von einer erneuten Beschießung Santiago» und ersuchte den Genrralcapitai» Bianca um Mittheiluug von Einzelheiten über die Seeschlacht. Ueber die Lage auf den Philippinen theilt der spanische Consul in Singapore mit, der General Augustin habe ihn beauftragt, der Regierung im Drahtwege mitzutheilen, daß die Lage in Manila noch immer dieselbe sei. Die Familie des Generalgouverneurs habe sich zu Schiff aus Macacebe flüchten können; sie habe die ganze Nacht über amerikanische Schiff- glücklich passirt und sei ohne Zwischen fall in Manila einzetroffen. Die Colonne deS Generals Morret werde in Macacebe belagert und sei daselbst Angriffen ausgesetzt. Zum Schluß verzeichnen wir noch einen amerikanischen Uallon ck'essuz-, der allerdings schon mehrmals aufgestiegen und somit nicht mehr neu ist: * Washington, 5. Juli. Gleich nach Empfang de« Bericht» Sampsou « kündigte Marinesecretair Lang an, Watson'« fliegen des Geschwader werde unverzüglich nach der spanischen Küste abgehen. — Eine Shanghaier Drahtung de« „Bur. Reut." besagt, Spanien habe Deutschland einen Hafen der Philippinen abgetreten; das Abkomnien datire vor der gegenwärtigen Lage. Feuilleton. Lauernblnt. 24s Roman in drei Büchern. Von Gerhard von Amyntor. (Dagobert von Gerhardt.) NaLdnick vkrborcn. Dort ließ er seinen Koffer im Hausflur, indem er ihn der Obhut des im Keller hausenden Vicewirths übergab, und stieg möglichst geräuschlos drei Treppen in die Höhe, um an Frau Meerholt's Thür zu klopfen. Das „Herein!", das er deutlich als einen Ruf Sabinens erkannte, verursachte ihm ein freudiges Aufathmen. „Gott sei Dank! Sie ist anwesend!" Er öffnete aber nicht, sondern klopfte zum zweiten Male. Auch auf das wiederum ertönende „Herein!" drückte er noch immer nicht auf die Klinke, sondern fuhr leise zu klopfen fort; da wurde die Thür ungeduldig aufgerissen und eine weibliche Stimme fragte verweisend: „Wer klopft denn da in einem fort?" „Ich bin's, schöne Sabine. Bist Du allein?" „Ach, Peter! Du bist es? Ich bin allein; nur Mutter ist noch drinnen." „Die braucht mich erst nicht zu sehen; ich möchte Dich gern unter vier Augen sprechen." „Dann komm hier in die Küche." Sie öffnete eine andere Thür auf dem Flur und forderte ihn mit einer Handbewegung zum Eintritt auf. „Deine Mutter wird mich aber hier finden." „Unbesorgt! Sie hat Dein Klopfen gar nicht gehört." Er wußte, daß die alte Frau etwas schwerhörig war, und schlüpfte beruhigt in die halbdunkle Küche. „Du hast doch nichts ausgefressen", fragte Sabine, „daß Du so geheimnißvoll thust?" „Man will mich ausweisen", versetzte er, Wohl vorbereitet auf diese Lüge; „man möchte sich des socialdemokratischrn Agitators entledigen ; die Polizei fahndet nach mir. Ich bin den Schergen zuvorgekommen, indem ich meine Wohnung aufgegeben und meiner Wirthin weisgemacht habe, ich müßte sofort nach Ham burg abreisen. Statt nach Hamburg bin ich aber zu Dir ge fahren; Du mußt mir helfen einen Unterschlupf finden bei irgend Jemand, auf den man sich verlassen kann und der Einen nicht etwa gleich bei der Polizei anmeldet." Sabine sann nach; der zukünftige Schwager, der einst selbst ihr Bräutigam gewesen war, that ihr leid; sie wollte versuchen, ihm beizustehen. „Weißt Du", hob sie nach einer Weile an, „wenn Dir Einer aus der Patsche helfen kann, so ist es der alte Gebauer unten." „Wer ist das?" „Unser Vicewirth." „Der Kellerbewohner, dem ich meinen Koffer zur Beaufsich tigung gegeben habe? Er ist lahm und hustet wie ein Pferd." „Derselbe. Komm mit! Wir wollen gleich zu ihm hinunter gehen." Sie huschten Beide über die hohen steilen Treppen hinab und klopften an einer Thür de» Kellergeschosses. Ein mittelgroßer Mann, mit freundlich blickenden gut- miithigen Augen, starkem blonden Schnurrbart und einem, wie es schien, etwas verkümmerten, krummgezogenen Arm humpelte ihnen entgegen und fragte mit leicht belegter Stimme: „Ei, Fräulein Meerholt, was verschafft mir denn die hohe Ehre? Sie bringen mir förmlich Sonnenschein in diese finstere Höhle!" Ein kräftiges Aufhusten schloß diese artige Bemerkung. „Guten Tag, Herr Gebauer; ich habe eine Bitte an Sie: Wollen Sie diesem Herrn hier wohl auf einige Zeit ein Unter kommen in Ihrer Wohnung gönnen?" Der Kriegsinvalid«, der nach dem französischen Feldzuge noch Jahre lang Weichensteller bei einer Eisenbahn gewesen und nun doppelt pensionirt war, sah den Fremden musternd an, und offenbar befriedigt von dem gewonnenen Eindrücke, erwiderte er in munterem Tone, aber von neuen Hustenanfällen unterbrochen: „Warum denn nicht? Wenns dem feinen Herrn hier nicht zu ungemüthlich ist; dort hinten in der zweiten Stube ist Platz genug; da kann er ganz allein Hausen." „Und was soll ich an Miethe entrichten?" fragte Peter, der im Geheimen ausgerechnet hatte, wie viel er ungefähr noch durch Sabinens freundliche Vermittelung von seinem Bruder würde herausschlagen können. Der Alte warf den Kopf in den Nacken und sagte sorglos und ungekünstelt: „An Miethe? Gar nischt! Vermiethen darf ick ja die Stube nicht, wenigstens nicht ohne Erlaubniß des Wirthe», der sie sicher nicht geben würde; aber 'n guten Freund, 'n an genehmen Besuch, so uff 'ne Woche oder 'nen Monat hier cam- piren zu lassen, det kann mir Keener nicht verbieten; des is reene Privatangelegenheit und geht Keenen wa» an." „Sie sind ein Prachtmensch, Herr Gebauer," sagte Peter und klopfte dem wiederum hustenden Alten auf die Schulter, „Sie be trachten die Sache genau so, wie ich sie betrachtet zu sehen wünsch«. Sie werden sich daher auch meinem Wunsche fügen und meine polizeiliche Anmeldung unterlassen, nicht wahr?" Der Invalide schaute den so Verdächtiges Begehrenden von der Seite an, stieß durch die gespitzten Lippen einen leise pfei fenden Ton und fragte gemüthlich: „Wat haben Sie denn uff'm Gwissen?" „Etwas, das Sie als alter Soldat vielleicht nicht recht ver stehen werden: Ich bin Socialdemotrat und man will mich ver haften." „Da geschieht Ihnen ganz recht!" erklärte der Alte mit voll kommenster Aufrichtigkeit. „Nee, hören Sie, eenen von de So- cialisten beherberge ick nicht; ick bin 'n oller Krieger und habe vor meinen Kaiser und vor mein Vaterland mir hier diesen Flügel und hier dieses Spazierholz zusammenknallen lassen, so daß ick nur noch umherkrabble wie 'ne kranke Padde; aber mit so 'n socialdemokratischrn Stänker theile ich meine Bude nicht! Bomben Element! Ick bin 'n königlicher" — neue Hustenunter brechung — „und meinetwegen kann de Polizei Sie und Ihre ganze Sippschaft von Armeleutedummmachern ins Loch stecken!" „Aber, Herr Gebauer", beschwichtigte ihn Sabine, die um irgend eine Ausflucht so leicht nicht verlegen war und zudem die im Grunde gutmüthige Natur de» alten Knasterbartes aus viel facher Erfahrung kannte, „Sie verkennen diesen Herrn ganz und gar; eben weil er nicht so will, wie die rothen Parteiführer, des halb ist er mit ihnen zusammengerathen und man hat ihn our- gestoßen und nun steht er allein und ohne Anhang da, ohne daß ihm die Polizei seine früheren Beziehungen vergessen will." „Ausgestoßen haben sie ihn? Weil er nicht mehr mitmachen will?" fragte Gebauer mit einem jetzt viel wohlgefälligeren Schielblick nach dem Fremden, „das ist was anders! Wenn er's mit der Bagage nicht mehr hält, dann ist er mein Mann und kann hier bleiben, so lange er will; und wenn ihn die Polizei suchen sollte, weil er früher einmal jenen Stänkern zulieb Dumm heiten gemacht hat, nun, so wird sie ihn hier bei mir gewiß nicht finden; anmelden werde ich 'n nicht, ick kann det verfluchte Je- schmiere so wie so nich leiden, aber" — hier wandte er sich direkt an Peter — „Sie müssen ooch keene neuen Dummheiten mehr machen und sich 'n birken still verhalten . . . ." „Das heißt nur den Tag über; zur Nacht gestatten Sie mir doch wohl auszugehen" fragte Peter. Gebauer lächelte. „Wenn ick nur jünger wäre und noch meine gesunden Knochen hätte, ick ginge mit!" So war das Abkommen geschlossen; der Alte hatte einen Hausgast und die Aussicht auf ein anständige» Gastgeschenk ge wonnen und Peter athmete wieder freier auf, weil er vorläufig hier sicher sein konnte vor der Gefahr einer Verhaftung. — Wie die Füchse ihre besondere Art haben, ihre Spur im Schnee oder Sande mit der hin und her gezogenen Ruthe zu ver wischen, so verfällt der durch sein schlechtes Gewissen oder durch den Arm des Gesetzes bedrohte Uebelthäter fast immer auf die selben Kniffe und Schliche, um sich den rächenden irdischen Ge walten zu entziehen. Der mit seinem Diener offenkundig nach dem Bahnhofe Friedrichstraße abgefahrene Marquis Carvalho hatte unbewußt eine ganz ähnliche Komödie gespielt wie Peter Dechner. Auf seinen Kisten und Kasten, die er durch seinen Gepäckträger abseitigen ließ, stand groß und breit sein voller Name gemalt; der Gepäckträger fragte den als LivrSediener fungirenden Fritz, nach welchem Bahnhofe in London die Stücke aufzugeben wären. Fritz wiederholte die Frage an seinen Herrn unter deutlicher Betonung der Anrede: „Nach welchem Bahnhofe, Herr Marquis?" und Carvalho gab ebenso laut und deutlich zur Antwort: „London, Victoria-Station." Am Schalter, an dem die Fahrscheine zu lösen waren, wieder holte sich eine ähnliche Scene. Fritz forderte zwei Billette nach London, eines erster, das andere zweiter Classe. Der Beamte fragte: „Nach welcher Station?" und Fritz, der sich stellte, al» ob er verstanden hätte: '„Für wen?" gab deutlich zur Antwort: „Für den Herrn Marquis Carvalho und Bedienung." Das Gepäck wurde verladen, Herr und Diener nahmen ihre Plätze in zwei verschiedenen Wagenabtheilen und der Zug fuhr von dannen. Aber schon in Charlottenburg stieg der Marquis wieder aus, händigte seinem sitzenbleibenden Diener schnell noch seinen Ge päckschein ein, flüsterte ihm heimlich noch etwas zu und verließ dann möglichst unauffällig den Bahnhof, um sich dem neuen Straßenzuge zuzuwenden, der sich läng» des Bahndammes bis in dir Gegend des Zoologischen Garten» hinzieht. Fritz fuhr inzwischen weiter nach London. In der Hardenbergstraße trat Carvalho in eine neu ein gerichtete Barbierstube und ließ dort den Schnurr- und Knebel bart abnehmen — er mußte, wie er dem Bartkünstler komisch seufzend mittheilte, dies Opfer bringen „wegen einer Theater vorstellung", in der er mitzuwirken hatte. Gänzlich veränderten Aussehen» begab er sich nun nach der Berliner Straße, sprang dort auf einen Pferdebahnwagen, ließ sich bi» zum Branden burger Thore mitfahren, wechselte dort den Wagen und fuhr nach dem Potsdamer Bahnhöfe. Er trug noch die Reisemütze, die er in der Eisenbahn aufgesetzt hatte, und sein Paletotkragen war gegen die kühle Luft de» inzwischen weit vorgerückten Abend» hoch aufgeschlaaen. Auf dem Potsdamer Bahnhof ließ er sich vom Pförtner ein dort für ihn lagernde» Köfferchen geben, ging mit demselben
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite