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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.08.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-08-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980815011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898081501
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898081501
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-08
- Tag1898-08-15
- Monat1898-08
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Ei» Morgen-AuSgab» «scheint um V«? Uhr, di» tzibend-Äu-gabe Wochentag» um b Uhr. Re-action und Erpedition: JuhanneSgafie 8. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- Abends 7 Uhr, Filialen: . ttt« Sl-Wm's Sortim. (Alfred bahn), Universitätsstraße 3 (Paulinuß-^ Louis Lösche, Kathartnenstr. 14, Part, und König-Platz 7. dkzugd-Pvei^ tu der Hauptexpkdition oder den im Stadt bezirk und den Bororten errichteten AuS- aabesiellen abgeholt: vierteljährlich bei zweimaliger täglicher Zustellung in« Hous b.5O. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich L.—. Dirrcte tägliche KreuzbandjrndunH ins Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. MpMcr TaMlltt Anzeiger. Amlsölatt -es königlichen Land- und Ätttlsgerichles Leipzig, -es Mathes «n- Volizei-Äntles -er Äla-t Leipzig. Auzetgeu-Prers die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclamia unter demRedactionsstrich (4ge- spalten) 50/iZ, vor den Fainilienuachrichtea (6gespalten) 40/ij. Größere Schriften laut unserem Preis- Ve^eichuiß. Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Tarif. krtra-Beilage» (gefalzt), nur mit der Morgen.Ausgabe, ohne Postbesürderuag SO.—, mit Postbeförderung 70.—. Armahmeschluß für Aryergeu: Abend-Au-gabe: Bormittag« IO Uhr. Morgen - Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhu. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Gtzpediti»» zu richten. Druck und Verlag von E. P olz tu Leipzig. Montag den 15. August 1898. S2. Jahrgang. AmtlicherTheil. Konkursverfahren. Ueber da- Vermögen de- Lederwaarenfabrikanten Fran; Bern hard Hanitzsch in Leipzig, Grimmaische Straße 13, Hof, Seiten gebäude, IV Treppen, wird heute, am 26. Juli 1898, Mittag« */«1 Uhr das Konkursverfahren eröffnet. Herr Rechtsanwalt von Metzsch hier wird zum Konkursverwalter ernannt. Kvnkursforderungen sind bis zum LI. August L8S8 b»i dem Gerichte anzumelden. ES wird zur Beschlußfassung über die Wahl eine- anderen Ver walter-, sowie über die Bestellung eine« GläubigerauSschuffeS und eintretenden Falles über die in 8 120 der Konkursorduung bezeich neten Gegenstände auf den 17. Angnst 18V8, vormittags 11V, Uhr, und zur Prüfung der angemeldetrn Forderungen auf den 12. September 1898, vormittags I I Uhr, vor dem unterzeichneten Gerichte, Zimmer 165, Termin an beraumt. Allen Personen, welche eine zur Konkursmasse gehörige Sache in Besitz haben oder zur Konkursmasse etwas schuldig sind, wird aufgegeben, nichts an den Gemcinschuldner zu verabfolgen oder zu leisten, auch die Verpflichtung auserlegt, von dem Besitze der Sache und von den Forderungen, für welche sie aus der Sache abgeson derte Befriedigung in Anspruch nehmen, dem Konkursverwalter bis zum 26. August 1898 Anzeige zu machen. Köuigliches Amtsgericht zu Leipzig, Abth. Hä.', am 2V. Juli 1898. Bekannt gemacht durch den Gerichtsschreiber Sekr. Beck. Königl.BangcwerkcnschiilezuLeipzig. Die Antuclduugcu für das Semester 1898 99 werden vom 1. Juli a« jedem Sonntag vo» 11—12 und vom I. Sep tember täglich um dieselbe Jett angenommen. Die Meldefrist schließt am 18. September 1898 Mittag 12 Uhr. Schriftliche Meldungen können jederzeit an die Schule ge- richtet werden. Bei der Meldung erhält der Angemeldete eine ge druckte Mittheilung über die Zeit der Aufnahmeprüfungen. Auskünfte über die Aufnahme-Bedingungen werden gratis ab gegeben. Leipzig, den 23. Juni 1898. Die Direktion der Sgl. vangewerkeuschuke. Wilh. Hey. Städtebilder ans Sachsen. Wurzen. Nachdruck verboten. Die freundliche Muldenstadt Wurzen hat an dem wirthschaft- lichen Aufschwünge, den unser Vaterland in den letzten Jahr zehnten zu verzeichnen hatte, einen hervorragenden Antheil ge nommen; aus dem sonst stillen Landstävtchen hat sich eine Indu striestadt entwickelt, in der eine vielseitige Industrie sich bemerk lich macht, so daß dadurch die sonst weniger bekannte Stadt jetzt in allen Ländern der Erde rühmlichst genannt wird. Wechsel voll waren die Geschicke der Stadt im Laufe der Jahrhunderte, oft war ihr Dasein durch Krieg, Mord, Feuer, Krankheiten und sonstiges Mißgeschick in Frage gestellt, aber die zähe Aus dauer der Bewohner, ihre rastlose Thätigkeit, sowie die kluge Umsicht der städtischen Vertretung und nicht minder die landes väterliche Fürsorge ließen aus den Ruinen immer und immer wieder ein besser gewordenes Gemeinwesen und eine schönere, vortheilhafter gestaltete Stadt entstehen. Die Gründung der Stadt verliert sich im Dunkel der Geschichte. Sicherlich ist der Ort von den Wenden gegründet, die ja mit großer Vorliebe ihre Siedelungen an einem Gewässer anlegten. In alten deutschen Urkunden wird der Ort Worzyhn genannt, was so viel bedeutet, als „einen Ort, der an einem Flusse liegt". Neuerdings ist man über die Bedeutung des Namens anderer Ansicht. Nach vr. Gustav Hey, die slawischen Siedelungen im Königreich Sachsen, hat der Name der Stadt folgende Wandlungen durchgemacht. Ums Jahr 961 *üeß er Vurcine, 996 Vrscini, 1177 Worzin, 1233 de Wrcin, 1266 Wurcin, 1283 Worcyn, 1302 Worsin, 1358 Wurczin, 1360, 1406 bis 1417 in Urkunden ebenfalls Wurczin, 1361 Wurtzin, 1369 Worczyn, 1408 Wurtzin, 1411 Wurczen, Wor- czyhn, Wortzcen, Worzeen, Worczen, Wortzen. Alle diese Namen ließen sich vielleicht zurückführen auf Worceny, das Gut oder die Familie des Vrcen, Worcen - Drehers; also kurz: Sitz der Familie Dreher. Aus dem Dunkel der Geschichte tritt die Stadt Wurzen bestimmt ums Jahr 961 hervor. In einer Urkunde von diesem Jahr wird der Ort von Kaiser Otto l. „eine Skadt" genannt und Worzin oder Vurcin geschrieben. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts war Wurzen im Besitz des Grafen Esico von Merseburg, 995 kaufte es der Bischof Cico von Meißen, dadurch kam Wurzen zum Sprengel der Bischöfe von Meiß^ und übten dieselben die geistliche Gerichtsbarkeit über Wurzen aus. Dieser Kauf war insofern für die Stadt be deutungsvoll, als sie die Hauptstadt der Meißenschen Stifts lande ward, eine Zeit lang war Wurzen auch Residenz der Bischöfe. Ums Jahr 1114 errichtete der Bischof Herwig von Meißen in Wurzen eine kleine Kirche zu Ehren der Jungfrau Maria. Diese Kirche ist der Ursprung der Domkirche zu Wurzen. Der ursprüngliche Bau der Marienkirche ward 1476 durchs Feuer zerstört. Mehrere Bischöfe haben den Aufbau wieder veranlaßt und bewirkt, daß er vergrößert werde; 1542 ward die Stifts kirche zur Pfarrkirche gemacht. Der stattliche Bau hatte im 30jährigen Kriege sehr zu leiden, denn die Schweden suchten das mit Kupfer gedeckte Dach abzubrechen, was ihnen auch zum Theil gelang; dieser Theil ist nun mit Ziegeldach versehen worden. Die zwei ziemlich hohen Thürme der Kirche sind eine Zierde der Stadt. In dem nördlichen der beiden Thürme finden sich zwei ziemlich alte Glocken, die kleinere trägt die Jahreszahl 1517, die größere 1521. Eine gründliche Erneuerung der Dom kirche fand in den Jahren 1817—1818 statt, in ihr befinden sich auch mehrere bischöfliche Gräber. Bemerkenswerth ist die Geschichte der beiden Domthürme. Der südlich« ist der ursprüngliche; der nörd liche, welcher einmal abbrannte, ist, da das Domstift damals kein Geld hatte, m seinem obersten Theile ähnlich dem anderen, aber einfacher, vom Staate aufgebaut worden. Dieser Theil des Thurmes gehört dem Staate, wird von ihm unterhalten und hat sogar ein besonderes Folium im Grund- und Hypothekenbuche, eine Seltenheit und Eigenthümlichkeit, die Wohl kaum noch einmal Vorkommen dürfte. Bis zum Jahre 1481 unterstand Wurzen der geistlichen Gerichtsbarkeit, in diesem Jahre trat Bischof Johann V. dem Magistrat die Gerichte über Stadt und Weichbild gegen eine jährliche Zahlung von 22 Gulden 18 Groschen ab, wodurch die Stadtkanzlei schriftsässig ward. Bischof Johann VII. er weiterte die Gerichtsbarkeit der Stadt 1536, Bischof Johann IX. von Haugwitz bestätigte 1580 die Ober-Gerichte und ließ die Steine setzen, die das Weichbild der Stadt Wurzen bezeichneten. Um 1555 erlangte der Rath der, Stadt das Recht, die Kirchen- und Schuldicner dem Stiftscapitel Vor schlägen zu - dürfen. Vor dem dreißigjährigen Kriege hatte die Stadt aus Landgütern, die aber im und nach demselben veräußert werden mußten, ansehnliche Einnahmen. Aus dem Wein- und Salzschank stossen dem Rathe ebenfalls Gelder zu, dem Rathe stand das alleinige Recht zu, diese Schankstätten zu verpachten. Eine Ausnahme machten die Angehörigen des Domes. Nach einer Vereinbarung vom Jahre 1432 durften die auf dem Dome Bier und Wein schenken, aber nicht auf das Land, in die Stadt oder Crostigal; die Bürger der Stadt aber durften auch nicht auf den Dom zu Biere gehen. Durch Kurfürst Johann Georg I. ward dem Rathe 1655 das Recht abermals bestätigt und ihm ein neues Privilegium über den Weinschank gegeben. Fernere Einnahmen kamen dem Rathe aus dem Städtegelde, Geleit- und Wollgelde, welches er nach einer Vereinbarung von 1540 erheben durfte, auch die im Besitz des Rathes befindliche Badestube brachte gewisse Einkünfte, ebenso gehörte das halbe Fährengeld dem Rathe. Um die Stadt her besaß der Rath einen ansehnlichen Grundbesitz und erweiterte denselben durch Zukauf. So gelangte das Hermannsholz zwischen Zschepa und Lüptitz in Rathssitz, ebenso das Dorf Müglenz, ferner das Holz bei Schildau und 29 Acker Holz um Collmen. Diesen ansehnlichen Besitz mußte leider der Rath in den Nöthen des dreißigjährigen Krieges veräußern, ebenso die Apotheke, die vorher allein dem Rathe zustand. Außer dem Rathhause ist auch das Schloß ein be- merkenswerthes, geschichtlich interessantes Gebäude. Das alte Schloß lag vordem vor dem Eilenburger Thore. Da es nicht besonders ansehnlich war, ließ es Bischof Johann von Sahlhausen von 1491 bis 1497 von Grund auf neu aufführen. Don dem Baue berichtet er selbst: „Item zu Wurtzen haben wir das Schloß mit zweyen Thormen, einen ausgeführten Graben, und dem Thorme beym Thore, der zwey Gewölbe und einen sehr Liessen Grund hat, von Grund uffs neue gebauet, kost uns uffs wenigste 14 000 Rthlr." Das Schloß ward vielfach durch Brände heim gesucht, so am 13. April 1519 und im Jahre 1631. Nicht aber allein das Schloß, sondern auch die Stadt selbst ist im Laufe der Jahrhunderte wiederholt durch größere Brände empfindlich heimgesucht worden, solche werden erwähnt um 1465, 1470, 1519. Die Feuersbrunst in diesem Jahre war besonders umfänglich, sie legte den Dom, die Kirche, das Schloß, das Rath haus, die Stadt, Vorstädte und den Crostigal in Asche; es blieb nur die alte Stadt und die Vorstadt vor dem Eilen- burgischen Thore verschont. Das Merkwürdigste bei dieser Feuersbrunst war, daß die beiden Kirchen zu St. Wentzel und St. Jacob, welche beide mitten im Feuer standen, unversehrt blieben. Es kam da über die Stadt eine große Bedrängniß, welche durch die Hilfe des Herzogs Georg, der 100 Schock Brett aus dem Amte zu Schellenberg sandte, durch den Rath zu Leipzig, der einen Wagen mit Brod und drei Faß Bier, die Pauliner Mönche, die drei Wagen mit Brod, Getränke, Erbsen, den Rath zu Torgau, der drei Malter Korn, den Rath zu Grimma und Andere, die Baumaterial und Nahrungsmittel sandten, etwas ge mildert wurde. Weitere Brände suchten die Stadt heim in den Jahren 1532, 1575, 1578, 1598, 1602, 1603, 1617, 1630, 1631, 1637,1642,1646, hauptsächlich aber 1704. Auch von schweren Krankheiten und Seuchen ward die Stadt Wurzen wiederholt heimgesucht; besonders war es die Pest, die Einkehr hielt. Von solchen Pesterschcinungen wird be richtet aus den Jahren 1519, 1577, 1594, 1595 und 1598. Die gräßlichste Seuche trat 1607 auf; Wurzen zählte damals 5000 Einwohner, davon erlagen 1450 der Pest. Im Mai begann die Krankheit und erst Ende November ließ das Sterben nach, vom 9. bis 13. August erreichte die Seuche ihren Höhepunct. Im August starben 308 Personen, Alle wurden hinausgesungen, das Begraben begann früh um acht Uhr und währte bis Abends sechs Uhr. Zur Pest gesellte sich auch noch Hungersnoth, da nur noch ein einziger Bäcker Brod buk und von auswärts keine Zu fuhr der Ansteckung wegen erfolgte. Die Bauern nahmen das Geld von den Bürgern nicht früher, als bis dasselbe gewaschen worden war. Um der Noth etwas zu steuern, erließ der Kurfürst 2000 Gulden Landessteuer, der Schaden, der den Bürgern er wuchs, ward auf 16 000 Gulden geschätzt. Die Pest kehrte 1625, 1632 und 1680 wieder, im letzteren Jahre starben wiederum 129 Personen. An die Pest vom Jahre 1607 erinnert noch heute das P c si ch ä u s ch e n auf dem alten Kirchhofe an der Lindenstraße. Das selbe besteht aus vier gemauerten Säulen mit einem spitzen Ziegeldachs darauf. Die eine Seite hat eine Rückwand, an welcher ein überlebensgroßer Christus am Kreuze aus Sandstein angebracht ist, während die drei anderen Seiten offen sind. Neben dem Crucifixe sind zwei Steintafeln angebracht, die linke trägt in lateinischer Sprache eine kurze Aufzeichnung der Namen der Rathsmitglieder und Geistlichen, welche damals am- tirten, die rechte enthält folgende Verse: „äls sookrodn kuuclert sieden iadr Odristi 6edurt clis ckadrrrcdl var Kat 6ott cler Herr vack keinem Rakt Lin kedeckliek Uest in «kiese Ltackt Oesekielii, «la» >u seeds Konuts trist vis selb tust ausxestvrden ist van tutren dumkert «Iran xesodwinät IVex^ratt an Lian IVeid u. Linät Feuilleton. Sein Frühlingbote. Von Edward Stilgebaurr. Nachdruck verboten. Seit 45 Jahren war Justus Jeremias Häberlin viermal an jedem Tag denselben Weg von seiner Wohnung ins Bureau und von seinem Bureau in die Wohnung gegangen. Denn der Gemüthsmensch Justus Jeremias Häberlin war seit 45 Jahren Buchhalter bei I. I. Maier <L Söhne. Nur die Sonntage hatten in diesen 45 Jahren eine löbliche Ausnahme gebildet, die Sonn tage hatte er dazu benutzt, seinen bescheidenen Neigungen nach zugehen, Natur zu kneipen in der nächsten Nähe der Siadt. Natur, so viel eben der Geldbeutel eines armen Buchhalters bei I. I. Maier <L Söhne gestattet, und wenn das Wetter schlecht war, hatte er Musik gemacht, es lagen sogar heimliche Kompo sitionen in seinem Schreibtische, Compositionen, die das Licht der Sonne scheuten. Denn Justus Jeremias Häberlin war nicht nur ein Gemüthsmensch, er war trotz seines hohen Alters schüchtern wie ein junges Reh. An Regensonntagen war das Pianino in der guten Stube seiner Mutter seine einzige Freude. Er liebte das alte Pianino. Und wenn »r spielte, fuhr sein Finger zunächst zierlich streichend über die Tasten, ehe er sie anschlug, so daß man den Ton immer schon voraus ahnte, ehe man ihn wirklich zu hören bekam. Und dieser schüchterne Mensch, der seine ganze freie Zeit dazu benutzte, um, wenn es schön war, im Weichbilde seiner Vaterstadt umherzustreifen, oder wenn es regnete, sein altes Pianino zu spielen, war Buchhalter bei I. I. Maier <L Söhne geworden. In seiner innersten Seele haßte er die Zahlen, mit denen er nun seit 45 Jahren zu thun hatte, aber je mehr er sie im Laufe seines Lebens Haffen lernte, um so treulicher hielt er auf seinem Posten aus. Denn dieser Posten nährte ihn und seine alte Mutter, und die Zahlen, die er zusammenzählte, setzten sich für ihn und die Mutter in klingende Münze um, sicherten ihm und der Mutter ein Dasein, das an Einförmigkeit und Regelmäßigkeit in der ganzen großen Stadt seinesgleichen zu suchen hatte. Von dieser Einförmigkeit em pfand die Mutter nichts, und auch er verlernte allmählich, sie zu empfinden. Schon in frühen Jahren bequemte seine Jugend sich dem Alter an und allmählich hatte er sich der Mutter immer mehr genähert, ohne daß das ihm selber eigentlich klar geworden wäre. Denn seine schüchterne Natur empfand kein anderes Bedllrfniß al» daS eine, sich unterzuordnen und an zupassen. Die Mutter ist da- Unglück für Justus Jeremias Häberlin, sagten die Leute, und die Leute hatten Recht. Seine Mutter war sein Unglück. Als Herr Häberlin senior starb, war Justuschen fünf Jahre alt. In einer alten Gaffe, in die weder viel Sonnenschein noch viel Regen fallen konnte, denn die Dächer der gegenüberliegnden Häuser berührten sich beinahe, hatte Herr Häberlin senior seiner Frau und seinem Justuschen ein Hau» hinterlassen. Ein Haus oder lieber ein Häuschen, denn nach der Straße hatte es gerade zwei Fenster in der Front, wie auch zwei Fensterchen, während seine Mauern nach hinten in einen spitzen Winkel zusammenliefen. Diesen Winkel füllte die Küche aus. Nach ihres Mannes Tode fing Frau Häberlin im Unterhause einen Handel mit künstlichen Blumen an. Künstliche Blumen waren nämlich damals noch ein Modeartikel, und das Grab des Herrn Häberlin senior schmückt noch heute ein wunder voller Kranz aus künstlichen Blumen. Allein mit den Jahren ging das Geschäft immer mehr zurück, und als Justuschen ans Geldverdienen denken konnte, lohnte es sich nicht mehr, d»n Laden offen zu halten. Man gab ihn einem Metzger, der doch seine 100 Thaler Miethe zahlte, die man so sicher hatte. Im Uebrigen war das Häuschen der Frau Häberlin rasch eingetheilt. Das eine Zimmer des ersten Stockes und den Küchenwinkel bewohnte sie selber, den zweiten Stock reservirte sie für Justuschen; damit war das Haus der Frau Häberlin voll. Ein Jahr nach Herrn Häberlin's Tode kam Justuschen in die Schule. Das war ein schwerer Entschluß für die Mutter, aber es mußte doch sein. In der Wahl der Schule leitete sie nur ein Grundsatz, nämlich der: Justuschen muß möglichst in meiner Nähe sein, und so wählte sie die in der nächsten Hauptstraße gelegene Volksschule, und als Justuschen nach drei Jahren bat und bettelte, sie sollte ihn doch jetzt aufs Gymnasium schicken, da flehte die Mutter unter Thränen, es sei ihr Tod, wenn Justuschen jeden Tag durch die halbe Stadt in die Schule laufen müßte, und Justuschen verzichtete auf seine Ausbildung und blieb, wo er ge wesen, damit die Mutter sich nicht Uber den Schulweg zu ängstigen brauchte. Das war das erste große Leid, das die Mutter ihm angethan hatte. Als er confirmirt und der Volksschule entwachsen war, regte sich noch einmal, zum letzten Male in seinem Leben, der Thaten- drang in Justuschen's Seele. Als Knabe hatte er bei einem alten Bekannten des Herrn Häberlin sen. Violinstunden gehabt, nun wollte er sich ausbilden und Mitglied des Theaterorchesters wer den. Als er der Mutter von seinen Plänen erzählte, bekam sie Weinkrämpfe und stöhnend und schluchzend stellte sie ihm vor, daß das Theater der Anfang alles Uebels, daß die Oper ein wahrer Sündenpfuhl der Hölle sei, so daß Justuschen schließlich selber weinte und wegen seiner ketzerischen Ideen die Mutter um Verzeihung bat. Am folgenden Morgen stand er in dem Direc- tionszimmer der Firma I. I. Maier L Söhne und Herr Maier acccptirte ihn aus alter Nachbarschaft und Freundschaft von Herrn Häberlin sen. al- Lehrling, er versprach sogar für Neu jahr eine Gratification von 20 Gulden, und Justus Jeremias Häberlin war über diesen Edelmuth ebenso gerührt wie feine Mutter. Noch einmal während seiner Lehrzeit theilte sich Justus- chens verschlossene Seele einem Freunde mit. Zwei Jahre nach dem er bei I. I. Maier in die Lehre getreten war, kam der Sohn des Operndirigenten als Jüngster in daS Haus von Justuschens Chef. Diesem sprach er einmal von seinen Compositionen, ja, er ging so weit, ihm einige Blätter anzuvertrauen und sie so dem Vater seines Freunde« vorzulegen. Der Bescheid de» Opern dirigenten lautete wenig tröstlich, er solle wa« lernen, ihm fehlten die elementarsten Kenntnisse und sein Talent könnte sich vielleicht entwickeln. An diesem Tage schlich sich Justus Jeremias Häber lin wie ein begossener Pudel nach Hause. Er verschloß die Blätter, die ihm der Freund zurllckgegeben, in der hintersten Ecke seiner Lommode. — Hier hatte er seine letzte Hoffnung bearaben. — Ans Hcirathen hatte Justus Jeremias Häberlin nie gedacht, nie denken können. Einmal hatte er ja die Mutter, die ihm die Wirthschaft führte, die Hausfrau hatte er von Kindesbeinen an nie entbehrt, und dann war das Einkommen zu klein, das Häus chen zu klein, eine Frau von heutzutage stellte ganz andere An sprüche, sagte die Mutter. Zu einer GeldHeirath hätte sich Justus Jeremias Häberlin nie entschließen können, vielleicht hätte ihn ein Mädchen mit Geld auch gar nicht genommen. Aus sich war er auch viel zu sehr Gemüthsmensch, um den Gedanken an eine Ver besserung seiner Lage durch eine Heirath aufkommen zu lassen, und die Mutter, Du lieber Gott, die Mutter hätte das alte Häus chen nie verlassen, hätte nie die Führung der Wirthschaft in andere Hände niedergelegt. Seit er als Commis mit einem Gehalt von 800 Thalern bei I. I. Maier angestellt war, hatte er sich daran gewöhnt, an jedem Ersten sein Geld den Händen der Mutter anzuvertrauen und sie, wenn er etwas nöthig hatte, um Taschengeld zu bitten. So hatte es der Fünfundzwanzig jährige gemacht, so war es geblieben, auch heute noch, nachdem er in diesem Frühjahr seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert hatte und die Mutter mit ihren 89 Jahren ihn jedes Mal, wenn sie Geld ausgab, fragte: „Justuschen, ist das eine Mark, oder ein großes Zwanzigpfennigstllck, ich sehe so schlecht, und das moderne Geld, da dran kann ich mich gar nicht gewöhnen." Die bald dreißig Jahre alte Währung galt Frau Häberlin immer noch für eine Neuerung, an die sie sich nicht gewöhnen konnte. Immer stiller, immer in sich gekehrter, und schließlich immer langsamer war Justus Jeremias Häberlin jeden Tag viermal seinen Weg von seiner Wohnung ins Bureau und von seinem Bureau in seine Wohnung gegangen. Die langen blonden Haare, die er mit Vorliebe wachsen ließ, bis sie sich im Nacken lockten, waren von Winter zu Winter lichter geworden, sie hatten angefangen zu bleichen, und nun waren sie weiß wie frischge fallener Schnee; von dem vielen Zahlenlesen bei I. I. Maier L Söhne waren die Hellen blauen Augen hinter Justus Jeremias' goldener Brille nach und nach trübe und schwach geworden, mehr und mehr hatte sich sein Rücken gekrümmt und langsamer, immer langsamer hatte er den Weg von fünf Minuten zurückgelegt, der das Häuschen der Frau Häberlin von dem Geschäftshaus I. I. Maier <L Söhne trennte. Die beiden Häuser lagen mitten in der Stadt. Auf dem Wege, den er wie seine Hosentasche kannte, mußte Justus einen breiten Platz überschreiten, der zu beiden Seiten mit Lindenbäumen bepflanzt war. Die Linden wachsen langsam, aber in 45 Jahren wachsen die Linden doch; sie waren dicker und breitästiger geworden, je lichter und grauer seine eigenen Haare wurden. Das hatte Justus Jeremias Häberlin wohl gemerkt. Je älter er wurde, desto länger dehnte sich sein Weg von und zu I. I. Maier L Söhne und desto länger weilte er auf jenem Platze und betrachtete die alten Lindenbäume. Denn diese Lindenbäume waren seine Freunde, sie waren die einzigen Zeugen von dem Leben draußen in der Natur, die einzigen, die ihm aus der Enge der Gassen im Laufe seines Lebens jeden Tag entgegentraten. Mit ihnen verlebte er die Jahreszeiten; sie verkündeten ihm im Schwellen ihrer zarten Knospen das Nahen des Frühling-, im Falben und Fallen ihrer Blätter da« Kommen des Winter-, Sie, und sie allein machten auf dem wohlbekannten Wege Stimmungen in seiner Seele, sie machten ihm die ersten Wochen de» Frühling- zu ein« festtäglichen Z»it, sie liehen seinem November das eigenthümliche graue Gepräge, sie weckten in jedem Herbst das Lied vom Welken und Sterben in seinem Innersten. Und vor Allem war es einer von diesen Lindenbäumen, die Justus Jeremias Häberlin in sein Herz ge schlossen hatte, und den er ganz besonders seinen Frühlings boten nannte. Er war älter als die anderen, viel älter als Justus Jeremias selber; er stand dicht an der Ecke, an der er den Platz jeden Tag vier Mal zu beschreiten pflegte, und mit ihm hatte er oft in Gedanken verloren geheime Zwiesprach getauscht. Auch schien er kräftiger vollsaftig als die anderen; im April zeigte er vor allen anderen die ersten zarten grünen Spitzen, und im November hielt er das Laub am längsten, und wenn im Herbst die Regentropfen von den braunen Blättern seines Baumes träu felten, dann war es Justus, als weine der Baum tausend Thrä nen über die Vergänglichkeit des Frühlings und des Glücks. An einem Montag Morgen in den letzten Wochen, als Justus Jeremias Häberlin den Morgengang nach seinem Geschäfte an trat, hatte er ein merkwürdiges Treiben auf dem Platze bemerkt. Auf dem Rückwege um die Mittagszeit war ihm Alles klar ge worden. Die Holzfäller waren an seinem Frühlingsboten. Ein rauher Nordost wehte über den Platz, wo Justus Jeremias Häberlin nahe seinem Baume, in sein dünnes Ueberzieherchen ge hüllt, Posto gefaßt hatte. — „Was macht Ihr denn hier?" hatte er mit beinahe zitternder Stimme die Fäller gefragt. Und di- Fäller hatten ihm geantwortet: „Die Bäume sollen hier fort, es soll eine Anlage gemacht werden." „Auch der da?" forschte Justus ängstlich, obwohl er sah, daß man die Erde um den Baum schon herausgehoben hatte. — „Jawohl", hatte der Mann gesagt und hatte weiter gegraben. Und Justus hatte das Mittag essen und die alte Mutter und den rauhen Nordost und seinen dünnen Ueberziehcr vergessen, und war stehen geblieben, und mit fliegendem Athem und gerötheten Wangen hatte er zugesehen, wie sse seinen Frühlingsboten fällten; es war ihm gewesen, als richte ten sich die Schläge der Axt gegen seine eigenen Knochen, als schnitt die Säge in sein eigenes Mark und Bein, und als der stolze Baum, der seit 45 Jahren sein Frühlingsbote gewesen, das hohe Haupt in den Straßenkoth des Platzes gesenkt hatte, da war er davongerannt in wildem, unbeschreiblichem Weh, als trüge er die Todeswunde in seinem eigenen Herzen. Von diesem Tage an ist Justus Jeremias Häberlin seinen Weg nicht mehr gegangen. Ein Anfall von Grippe, den er sich in dem rauhen Nordost geholt, hielt ihn zu Hause, und selbst die Pflege seiner 89 jährigen Mutter fruchtete nichts. Der raube Wind und der lange Äufenthalt im Freien, der mit jener Auf regung verbunden, hatte an da- Mark seines Lebens gegriffen. Der Siebenzigjährige erlag einer Lungenentzündung, die die Grippe im Gefolge hatte, und ward acht Tage, nachdem man seinen Frühlingsboten gefällt, auf demselben Wege, den er seit 45 Jahren vier Mal an jedem Tage gemacht hatte, noch vor der Mutter zur letzten Ruhe gefahren.
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