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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.08.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-08-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980830014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898083001
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898083001
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-08
- Tag1898-08-30
- Monat1898-08
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Wie wir vorhersagteo, geben sie fast unisono sehr deutlich zu verstehen, daß sie als Voraussetzung einer Abrüstung Frank reichs die Rückgabe der „geraubten" Provinzen Elsaß und Lothringen erwarten. Erfolgt diese nicht, so ist Frank reich für einen „FriedeuStraum" de» Zaren unter keinen Um ständen zu haben. Selbstverständlich glaubt jenseits der Vogesen Niemand daran, daß Deutschland herauSgäbe, waS es mit dem Blute seiner Söhne in ehrlichem Kampfe wiedergewonnen hat und nun schon länger als ein Vierteljahrhundert besitzt. Man hält deswegen den Vorschlag des Zaren für zwecklos, ja eS fehlt nicht an Stimmen — und sie werden sich ver mehre» — welche das Bündniß mit Rußland für werthloS bezeichnen und an der Bündnißtreue Rußland« stark zu zweifeln anfangen. Za Italien verhält man sich skeptisch, während Ungarn dem Zaren zujubelt und kleinere Staaten wie Belgien und Schweden sich zustimmend verhalten. Den Ausschlag geben selbstverständlich die Großmächte, in erster Linie nach Frankreich natürlich England. Bis gestern Abend waren folgende Nachrichten eingelaufen: * Pari», LS. August. (Telegramm.) Der „Matin" schreibt über den russischen Abrüstung-Vorschlag, die Sprache sei würdig des hochherzigen jugendlichen Herrschers, eS sei jedoch nicht Sache der Franzosen, laut zu sagen, warum sie die Ab- rüstungsidee für »Inen Traom halten. Die befriedigten Völker mögen ihre Truppen heimschicken und ihre Waffen in Werkzeuge verwandeln. Das sei aber nicht die Aufgabe der vom Un glücke betroffenen Völker, die am Horizonte nicht da blutige Roth der Schlachten, sondern das Morgenrolh der Gerechtigkeit und der Vergeltung suchen. ES scheint uns übrigens, fährt der „Matin" fort, daß unser Verbündeter nicht vergessen dürfte, daß unsere Grenzen weniger unversehrt und unverletzbar sind als seine eigenen und daß er uns nicht in die Nothwendigkeit versetzen sollte, der Conferenz unseren Beistand zu versagen oder laut auszu- sprechen, unter welchen Bedingungen wir theilnehmen können. — In ähnlichem Sinne äußert sich der „Figaro", der hinzufügt, die russischen Vorschläge erschienen in dem Augenblicke, in dem der angelsächsische Liberalismus viele Köpfe verwirrt, als wohlthätiges Ableitungsmitlel. — „Petit« Journal" erklärt, das Rundschreiben sei ein Act von unberechen barer Tragweite, der den Zaren hoch ehre. Die öffentliche Meinung Frankreichs werde die hochherzige Initiative des Kaisers einstimmig gutheißen. Man müsse hoffen, die Conferenz werde die den Weltfrieden betreffenden Fragen im Sinne der Gerechtigkeit und des Rechtes der Völker lösen. * Paris, 29. August. (Telegramm.) Die Blätter begrüßen das Rundschreiben des Kaisers von Rußland als eine edle und großmüthige Aeußerung der Menschlichkeit und sind fast ein- stimmig der Ansicht, daß sämmtliche Mächte an der Abrüstungs- Conserenz theilnehmen werden, doch äußern sie sich im Allgemeinen zweifelnd über das Ergebnis der Verhand lungen. „Gaulois" bemerkt, Frankreich würde bei einer Abrüstung nicht das gewinnen, was Rußland und die anderen Mächte gewinnen würden, weil das, wasFrank- reich jetzt fehle, ihm auch nach der Abrüstung wieder fehlen würde. Allerdings würde es ebenso, wie alle anderen Mächte den Vortheil haben, daß es finanziell erleichtert würde. Der „Soleil" drückt die Hoffnung aus, daß Frankreich Sicherheit dafür erhalte, daß eS seine berechtigtsten Hoffnungen im Osten nicht auf zugeben brauche. „AutoritS" und „Libre Parole" zollen der Anregung des Kaisers ohne Einschränkung ihre Anerkennung. Das „Journal" fragt, ob nicht der kaiserliche Vorschlag eher Ver stimmung als Beruhigung Hervorrufen werde, trotzdem sei er rin glückliches Zeichen für die Zukunft. „Radikal" wünscht dem hochherzigen Vorschlag allen Erfolg, doch sei eS noth- wendig, vorher gewisse Fragen zu regeln, deren sich der französische Patriotismus niemals entäußern könne. „Rappel" hält es gleichfalls für nothwendig, gewisse, dem Rechte zugefügte Schäden wieder abzu stellen. „Siöcle" führt au», bei dem Wiedererwachen der mili- tairischen Leidenschaften habe dieser Versuch ein erhöhtes Interesse. „Petit Journal" meint, daß bei der abzuhaltenden Conferenz die Hauptfrage, deren Lösung im Interesse de» Friedens noth wendig sei, gemäß dem unverjährbaren Rechte der Völker geregelt werd,. „Petite Rbpublique" sagt, der Kaiser habe eine große That gethan, deren Plötzlichkeit noch ihre Trag weite erhöhe, aber der Socialismus allein könne die Träume des Kaisers zur Verwirklichung bringen. * London» 2S. August. (Telegramm.) In einer PeterS- burger Meldung der „TimeS" heißt e», eS sei Grund zu der An nahme vorhanden, daß der Vorschlag de» Zaren der Gegen- stand eines Meinungsaustausche» zwischen den Höfen von Petersburg und Berlin bildete, und daß aller Wahrscheinlich, leit nach zum Mindesten die Unterstützung durch Deutschland im Voraus gesichert sei. (Voss. Ztg.) * Rom, L9. August. (Telegramm.) Die Anregung des Zaren erregt mehr Verwunderung als Befriedigung. „Po- polo Romano" meint, die Conferenz könnte gedeihen, wenn der Zar Frankreich preiSgebe, sonst nur um den Preis der Auslösung des Zweibundes. „Tribuna" ist der gleichen Ansicht. „Don- chisciotte" sieht in der Conserenz die Ursache zu neuen Berwicke- lungen. Italien wird sie beschicken. (Boss. Ztg.) * Pest, 29. August. (Telegramm.) Sämmtliche Blätter besprechen in enthusiastischer Weise die Kundgebung des Kaiser- von Rußland und halten sie für da- bedeutendste Ereigniß der letzten Jahrzehnte. * Brüssel, 29. August. (Telegramm.) Die hiesigen Blätter besprechen die Vorschläge des Zaren, betreffend eine allgemeine europäische Conferenz, und drücken den Wunsch auS, daß diese osficielle Note an die Vertreter der Großmächte mit Erfolg ge- krönt werde. (Magdeb. Ztg.) * Stockholm, 29. August. (Telegramm.) Einem Mitarbeiter der „Dagens Nyheter" gegenüber äußerte der Minister deS Arabern, Graf DouglaS, die kleinen Mächte, darunter Schweden, würden natürlich die Einladung Rußlands mit Dankbarkeit an nehmen. Es sei jedoch klar, daß der Erfolg der Verhandlungen auf der Stellung der Großmächte beruh«. Falls irgend Jemand im Stande sei, solch einen Vorschlag glücklich durckzusührru, so sei e- der Monarch, der nicht von einem Parlamente gebunden ist und mit noch größeren Kriegsrüstungrn drohen kann, falls sein Plan nicht gelingt. Die Wehrpflicht in unseren Colonien. IV. Die Ausübung der beiden wichtigsten Rechte deS deutschen Staatsbürgers, deS Wahlrechts und der Wehr pflicht, in unseren Colonien hängt von der Entscheidung der Frage ab, ob unsere Colonien Bestandtheile des Reiches sind oder nicht. Diese Frage hat das Reichsgericht nach Mittheilungen der „Jurist. Wochenschrift" in einem Proceß, den der Kläger Freiherr v. Schele wegen vermvgenSrechtlicher Ansprüche aus seiner früheren Stellung als Gouverneur des ostafrikanischen Schutzgebietes gegen den ReichssiScuS an gestrengt hatte, in folgender Werse entschieden: „Nach dem deutschen Staatsrecht bilden die deutschen Schutz, gebiete, da sie verfassungsmäßig nicht dein Reiche rinverleibt sind, keinen Bestandtheil des Reiche-, wohl aber, weil sie durch Reichsgesetz vom 17. April 1886 unter die Schutzgewalt, d. h. Staatshoheit des Reiches gestellt sind, «in Zubehör de-Reiches. Di« Ausübung der Schutzgewalt ist dem Kaiser übertragen. An die Zustimmung des Bunde-rathes uud des Reichstage- ist der Kaiser dabei nicht gebunden. Es steht ihm also auf dem Gebiete der Gesetzgebung daS Recht zu, Beiordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Eben deshalb rrgiebt sich von selbst, daß die Leitung der Verwaltung in den Schutzgebieten dem Reichskanzler als dem verantwortlichen ReichSminister zustrht, zu dessen Unter« stützung bei der Verwaltung die Colonialabtheilung de» Auswärtigen Amte- eingesetzt ist. Der Umstand, daß dir Schutzgebiete nur ein Zubehör, keinen Bestandtheil des Reiche« bilden, ist, wie gesagt, entscheidend für gewisse Rechtsverhältnisse, vor Allem für das Wahlrecht und die Wehrpflicht. Beide Rechte sind dem Gesetze nach territorialen Charakters, d. l>. ihre Aus übung ist gebunden au den Aufenthalt in einem Bundesstaate oder in den Reichslanvea. Da nun die Schutzgebiete nicht dem Bestände des Reiches einverleibt, sondern nur ein Zubehör desselben sind, so muß der in den Colonien oder im AuSlande ansässige wahlberechtigte Deutsche in sein« Heimath zurückkehren, wenn er sein Wahlrecht ausüben will. Da es aber nur ein Wahlrecht, keine Wahlpflicht giebt, so hindert diese Bestimmung Niemand in seinem Erwerb. Anders steht es aber mit der Wehr pflicht. Jeder Deutsche ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, seine militairischen Leistungen zu erfüllen. Es ist daS für den, der sich zn ständigem Aufenthalt in den Colonien oder im AuSlande niedergelassen hat, mit großen Unannehmlichkeiten verknüpft. Denn die Reise in die Heimath kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Im Interesse der Besiedelung unserer Colonien sind daher verschiedene Versuche gemacht, die bestehenden Bestimmungen über die Wehr- FerriHetoir» Russische Censur. -!»<tdruck derb ölen. ' Bücher sind oft gefährlicher als Menschen, und in noch höherem Maße gilt dies von der täglich in ungezählten Tausenden von Blättern in alle Welt flatternden Zeitungs literatur. Nicht gebunden an Zeit und Ort, wirken Bücher und Zeitungen, mächtig für die von ihnen vertretenen Ideen werbend, wenn auch nicht so intensiv wie daS gesprochen« Wort, so doch nachhaltiger und aus unvergleichlich weitere Kreise. Das ge druckt« Wort ist der beflügelte Träger der Aufklärung, der Pionier der fortschreitenden Cultur, der Herold neuer Epochen. Nie wäre ohne Gutenberg's „schwarze Kunst" die Reformation möglich gewesen, nie aber auch die groß« französische Revolution und das unheimliche Anwachsen der internationalen Umsturz bewegung unserer Tage. Kein Wunder daher, daß die Machthaber in Staat und Kirche zu den verschiedensten Zeiten Versuche gemacht haben, die Freiheit der Presse zu beschränken, indem sie durch ihre Polizeiorgane bereits gedruckte Schriften theils ganz confisciren, theils als geführt ich angesehene Stellen aus denselben ausmerzen oder aber auf dem Wege der berüchtigten Präventivcensur über haupt nur Das unter die Presse gelangen ließen, was ihnen un verdächtig erschien. Auch in Deutschland hat es bekanntlich solche Zeiten gegeben, aber wie anderwärts sind sie auch bei uns wohl für immer vorüber. Durch daS RiichSgesetz vom Jahre 1874 sind die die Presse einer Censur unterwerfenden Bestimmungen fast ausnahmslos außer Kraft gesetzt, weil in einem konstitutio nellen Staate das Volk das Recht und die Pflicht hat, an der Leitung seiner Geschichte selbst theilzunehmen, und weil die Ge setzgeber sich sagten, daß die unvermeidlichen Fehlgriffe der Censoren nicht minder aufreizend wirken, als die Ausschreitun gen einzelner Autoren, die ohnehin in den Augen der großen Menge durch Derurtheilung nach allgemeinem Rechte weit mehr von ihrem Nimbus verlieren, als durch Verschließung deS MundeS. Ob zu Zeiten imminenter Gefahr für den socialen Frieden und das gemeine Wohl, wie nach den Attentaten eines Hödel und Nobiling aus Kaiser Wilhelm I., eS unabweisbar erscheinen kann, durch Ausnahmegesetze die Preßfreiheit vorübergehend ge wissen Beschränkungen zu unterwerfen, mag hier ununtersucht bleiben. Jedenfalls widerspricht eS dem gesunden Empfinden und ist ein Hohn auf die Cultur am AuSgange de» IS. Jahr hunderts, w«nn solche Ausnahmezustände da» Normale sind und die Bevormundung einer ganzen Volkes als dauernde Maßregel mit geflissentlicher Rigorosität brutal gehandhabt wird. In Rußland ist eS so, und «S kommt dort noch hinzu, daß die Gewalt, den Geist zu tödten, vielfach in den Händen höchst ungebildeter subalterner Polizeiorgane liegt, dir nicht selten einen Gebrauch davon machen, der vielleicht wirkungsvoll ist, aber dem Fluche der Lächerlichkeit anheimfällt. George Brande», der bekannte dänische Literarhistoriker, der wiederholt Reisen nach Rußland gemacht hat, wo er, der erklärte Gegner jeden Autoritätsglauben», u. A. in Warschau unter den Augen der CerSsnr seine klassischen Vorlesungen über die roman tisch« Literatur Polen» tm IS. Jahrlstrndrrt hielt, kann «in Liedchen von den Vexationen erzählen, denen er im Reiche des politischen und geistigen Despotismus ausgesetzt gewesen ist. Er giebt, ein scharfer Beobachter und vornehm - satyrisch«r Schilder» fremden Volkscharakters, in seinem soeben bei Albert Langen (Paris, Leipzig und München) erschienenen, von Adele Neustädter vortrefflich übersetzten, ebenso Inhalt- wie umfang reichen Werke „Polen" Einiges von den Censurscherereien zum Besten, über die er sich zwar mit dem Humor eines fein gebildeten Geistes hinwegzusetzen wußte, die ihn aber doch seine Aufgabe, die Polen über ihre eigene Literatur aufzuklären, erheblich und fühlbar erschwerten. Schon in Granica, der russischen Grenzstation, begannen die Plackereien in widerwärtigster Art. George Brandes' Gepäck wurde der vorgeschriebenen peinlichen Zollrevision unter zogen, und das Erste, das man in seiner Reisetasche fand, waren zwei Nunnern der „Nouvelle Revue", in der er im Eisenbahn coup« gelesen hatte. „Was ist das?" fragte der Oberste der uniformirten Zollbeamten auf Deutsch. „Die Nouvelle Revue." — „Ja, was ist das?" — „Eine französische Zeitschrift." — „Was steht darin?" — „Verstehen Sie Französisch?" — „Nein." — „Ist hier Jemand, der Französisch versteht?" — „Nein." — „Nun, es steht Allerlei darin; es sind zwei Nummern; jede enthält zehn Artikel. Es ist unmöglich mit einigen Worten zu sagen, was darin steht." — „So nehmen wir sie, sie werden nach Warschau zur Censur geschickt." — „Ist diese Zeitschrift verboten?" — „Alles, was ich nicht kenne, ist ver- bok^en, und ich kenne diese Zeitschrift nicht." — Er begann in den Heften zu blättern, besah sie von vorn und hinten und schien nach Papieren zwischen den Seiten der umfangreichen Bogen zu suchen. Man erhielt den Eindruck wie von den alten Lithographien, die einen großen Affen vorstellen, der den Mantl- sack des Reisenden findet und in seinen Büchern blättert. Nun begann aber erst die eigentliche Untersuchung. Jedes Buch, jede Broschüre wurde hervorgeholt und zur Seite gelegt; jede Zeitung, selbst die Blätter, die um die Schuhe unseres Reisenden gewickelt werden, wurden herausgenommen, geplättet, und auf einen Haufen gelegt. Man fragte, in welcher Sprache die Bücher geschrieben seien und was darin stünde. Da die Aus kunft nicht genügte, nahm man sie alle gegen eine Quittung über — 15 Pfund Literatur weg. Gleichzeitig forderte man drei Rubel für die Uebersendung dieses höchst verdächtigen Bündels nach Warschau. Brandes wollte wenigstens seine dänischen Bücher behalten, da man in Rußland doch nicht dänisch verstände und sie also in Polen keinen Schaden anrichten könnten. Die Antwort war: „In der Censur versteht man alle Sprachen." — „Aber den Censor, der russischer Regierunysbeamter ist, kann ich doch nicht verführen und die Uebrigen kennen die Sprache nicht, also . . .?" — „Das ist von Ihrem Gesichtspunkte aus richtig" lautete die Antwort, und man behielt auS dem eigenen Gesichtspunkte die Bücher. Im Haufen lag ein dänisch-sranzösischeS Lexikon. Brandes suchte dem Zollbeamten deutlich zu macken, waS für ein Ding und namentlich waS für ein unschuldiges Ding daS sei. Vergeblich. Man zerbrach sich den Kopf darüber und schien zu überlegen. Endlich überreichte man dem ungeduldig Wartenden nach reiflicher Ueberlegunq den ersten Theil, die Buchstaben A—L, legte jedoch mit ernsten Mienen den 2h«il M—Ö zu der anrüchigen, vom Tensor zu prüfenden Literatur zurück. Wenn er die Sachen wiederhaben wollte, sollte er sich an das Ccnsor- comits in Warschau wenden, er habe ja seine Quittung. Dieses Censorcomittz befindet sich in der Nähe des Theater platzes. Im Hof sind riesige Ballen von Zeitungen und Büchern aufgestapelt und ausgebreitct. Es ist die eingelaufene Tagespost. Jede einzelne Zeitung, die ankommt, wird aus dem Kreuzbande genommen und untersucht, was mißfällt wird geschwärzt. Jedes Buch wird geöffnet und durchblättert. Unregelmäßigkeiten und Verzögerungen in der Zustellung sind daher das Gewöhnliche. Man erhält mitunter drei, vier Zeitungen auf einmal, und wiederum in vier, fünf Tagen keine Zeitung. In einem anderen Raume werden die inländischen Zeitungen geprüft. Um 11 Uhr Vormittags gehen von den Zeitungs redactionen alle Correcturen nach der Censur ab. Man streicht nach Lust und Laune, je nachdem man mehr oder weniger per sönliche Animosität gegen den Verfasser hat, je nachdem man Zugeständnisse von ihm zu erreichen hofft, und je nachdem man mehr oder weniger bestochen ist. Um 4 Uhr kommen die Correc turen nach den Redaktionen zurück. Das Gestrichene muß durch Reserveartikel erseht werden, die man bei Zeiten hat censoriren lassen und als Füllstoff bereit liegen hat. An einer anderen Stelle werden alle fremden Bücher ge prüft, wie weit man sic zum Verlauf in einer Buchhandlung zu lassen darf oder nicht. Selbstverständlich werden die im eigenen Lande erscheinenden Bücher mit äußerster Strenge nach polizei widrigem, staatsgefährlichem Inhalt durchforscht. Sogar die Klassiker des Alterthums werden untersucht. Man hat den Fall gehabt, daß der VerS: „ne* timeo csusoreg kuturo8" ge strichen wurde, weil man ihn übersetzte: „Ich fürchte nicht die Censoren der Zukunft", statt sinngemäß „der Zukunft U r - theil". Ueber Polens Vergangenheit strich man vor Jagiello das Wort König von Polen und ersetzte es durch Herzog, obgleich es nie Herzöge von Polen gegeben hat. Ja, selbst die Kochbücher werden aufmerksam und so kleinlich censorirt, daß einmal die Worte: „über einem gelinden Feuer gekocht werden" (auf polnisch: „über einem freien Feuer) gestrichen wurden, weil das Wort frei in dem Satze vorkam! Bei seinem zweiten Besuche hatte Brandes Gelegenheit, die Censur am eigenen Leibe noch genauer kennen zu lernen. Seinen Vorträgen über die polnische Literatur dieses Jahrhunderts, die von den inländischen Kritikern sonst nur philologisch behandelt ist, stellte man die größten Schwierigkeiten entgegen. Die Erlaubniß zum Sprechen wurde gegeben, wollten und konnten doch die ent scheidenden Personen vor Europa — und Georg Brandes' Ruf geht weit über die Grenzen der alten Welt hinaus — nicht als Barabaren gelten. Mitte Januar ließ der Verfasser den Grafen Tolstoi, den Polizeipräsidenten von Warschau um Er laubniß ersuchen, literarische Vorträge zu wohlthätigrn Zwecken zu halten. Mitte Februar kam die Antwort. ES war erlaubt, drei Mal im russischen Februar (dessen erster unserem drei zehnten entspricht) zu reden. Der Präsident der Censur, Herr Ryzow, zu dem Brandes persönlich fuhr, war erfreut, daß dieser französisch sprechen wollte, „Dann können Sie viel sagen. Sie wenden sich an die gute Gesellschaft. Anders stünde eS, wenn Sie deutsch sprechen würden, es giebt so viele unruhige, un- geblidete Köpfe, die deutsch verstehen." Seine Scellenz versprach schnellste Erledigung, nur müßten von jedem Dortrage zwei französische Exemplar« und «in russisches dem Curator der Universität eingeliefert werden. Sie wurden geliefert. Da weigerte sich Apuchtin, die Censur des russischen Textes zu beginnen, ehe er alle Vorträge hätte. Das war schlimm, denn Brandes wollte aus dem im ersten Vortrage Gestrichenen ersehen, was er in den anderen wagen könnte. Da es klar war, daß der russische Februar zu Ende gehen werde, ehe die Vorträge von der Censur zizrückkämen, und da der Verfasser einsah, daß er zur Beherrschung des Stoffes deren vier brauchen werde, bat er den Polizeipräsidenten, vier Vorträge halten zu dürfen und ersuchte um Fristverlängerung über den russischen Februar hinaus. Die Zahl vier ließ sich nicht be willigen, weil drei Vorträge eine Unterhaltung, vier dagegen schon ein „Unterrricht" seien. Man fürchtete di« Etablirung einer Art politischer Universität. Wegen der Fristerstreckung war Folgendes zu thun: ein schriftliches Ersuchen an den Polizeimeister zu richten, dieser würde es dann Apuchtin zuschicken und dieser würd« es an den Gouverneur General Gurko expediren, dieser werde dann mög licher Weise in Petersburg anfragen, ob es bewilligt werden könnte, und es werde auch durch dieselben Instanzen in umge kehrter Ordnung zurückkommen. Daß die Antwort erst in etwa fünf Wochen zurück sein könnte, und daß dann der März zu Ende sei, und der Verfasser unbedingt am 1. April abreisen müßte, sei seine Sache und ginge die Behörde nichts an. Das war sehr niedcrschlagend für Brandes, aber er faßte Muth,, den einzigen, noch möglichen Ausweg zu beschreiten, d. h. General Gurko seine Bitte persönlich vorzutragen. Nach stunden langem Antichambriren und mancherlei Demüthigungen gelang es endlich, die zwei Worte „Befohlen, Gurko" Herauszubittcn, und die Vorträge konnten gehalten werden. Natürlich von der Censur gekürzt und nä nsum kolovine zugestutzt. Seine Bücher und Zeitungen erhielt Brandes zurück, nachdem er persönlich bei Sr. Excellenz, dem Censorpräsid«nten um Be schleunigung gebeten hatte und solche ihm auch bereit willigst zugesagt war. Aber welche Beschkunigung! Eine dänische Zeitung z. B. vom 31. Juli wurde ihm mit einer Stempelmarke der Petersburger Censur am 12. August zuge schickt! Man hatte wirklich Alles nach Petersburg geschickt, wo immer genug Finnländer in der Censur sind, die dänisch ver- stehen. Man nimmt keine Rücksicht auf die Bequemlichkeit des Lesers, wenn eS sich darum handelt, die fremde Presse zu über wachen. Ganze Revue-Artikel werden ausgeschnitten. Alles, was aus politischen, moralischen, oder religiösen Gründen mißbilligt werden kann, wird so geschwärzt, daß kein Buchstabe lesbar ist. Das ist die russische Censur. 6'est In xuerro, der Krieg gegen Alles deS Umstürze» Verdächtige, aber auch der Krieg gegen alle freieren Regungen de» Geistes, der Krieg gegen den Geist selbst. DaS ist das System chinesischer Absperrung, der Ver dummung und Verdumpfung. Wie lange wird eS dem Ansturm der modernen Ideen noch Stand halten? ES hat Jahrhunderte überdauert. Man schaudert bei dem Gedanken, daß e» auch Vas zwanzigste Säculum überleben kann. Ja, man nimmt sich in Warschau und Petersburg Zeit, diel, sehr viel Zeit, um mit der Zeit fortzuschreitea. —
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