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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.09.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-09-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980901023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898090102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898090102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-09
- Tag1898-09-01
- Monat1898-09
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Gröbere Schriften laut unserem Preis» verzeichniß. Tabellarischer und Zissernsatz nach höherem Taris. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Cxpeditia» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Donnerstag den 1. September 1898. 92. Jahrgang. Die Dreyfus-Sphinr. -e. Überraschung folgt auf Ueberraschung, Sensation auf Sensation. Gestern sah die Welt in dem Oberst lieutenant Henry einen infamen Fälscher entlarvt, heute hat dieser Verbrecher sich selbst entleibt. Wir erhalten folgende schon durch Extrablatt bekannt gegebene Meldung: * Paris, 1. September. Lbcrstlicutcnant Henry hat sich im Gefängnisse entleibt, indem er sich mittels eines Nasirmesscrs die Kehle dnrchschnttt. Ter Gcneralstabschcf BoiSdcffre erbat wegen der Hcnry- Affairc seine Verabschiedung, bavaignac nahm ans Boisdeffrc'S Dringen unter Anerkennung der Loyalität des selben die Demission an. Das Entlassungsgesuch BoiSdeffre's an den Kricgsminister lautet: * Paris» 30. August. Herr Minister! Ich habe soeben den Beweis erhalten, daß mein Vertrauen zu dem Oberst lieutenant Henry, dem Chef des Nachrichtendienstes, nicht berechtigt war. Dieses Vertrauen, das ein unbegrenztes w»r, hat mich dahin geführt, mich täuschen zu lassen und ein Document für echt zu erklären, das es nicht war, und Ihnen als solches vorzulegen. Unter diesen Umständen habe ich die Ehre, Herr Minister, Sie um Enthebung von meinem Amte zu ersuchen. Boisdeffre. Der Kriegsminister antwortete: * Paris, 31. August. (Telegramm.) Mein lieber General! Es scheint mir noihwendig, daß Sie selbst als Hauptperson bei der Untersuchung der Handlung, die den von Ihnen in voller Loyalität begangenen Jrrthum veranlaßte, fungiren, und erst darnach kann ich, wenn Sie auf Ihrem Verlangen beharren, dem mir vorgclegten Gesuche entsprechen. Genehmigen Sie die Ver sicherung meiner herzlichen Gesinnung. Cavaignac. BoiSdcffre sprach hierauf dem Kricgsminister seinen Dank dafür aus, daß er an seine Loyalität glaube, ersuchte ihn aber zugleich unter der Versicherung seiner ehrfurchtsvollen Ergebenheit, auf seiner Bitte beharren zu dürfen. Wie schon gemeldet, nahm der Kriegsminister hierauf die Demission Boisdeffre'ö an. Leiter hat Oberstlicurcuant Henry sich durch seinen Selbst mord weiteren Verhören entzöge» und somit verhindert, daß völlige Klarheit in die dunkle Angelegenheit kommt. Mau ist daher wieder nur auf Eombinativnen angewiesen. Die Annahme, daß Henry gemeinschaftlich mit Dreyfus Spionage getrieben habe, läßt sich, soweit man jetzt sehen kann, schwer lich aufrecht erhalten, denn in der Sitzung des französischen Abgeordnetenhauses vom 7. Juli sagte der KriegSministcr Eavaiguac nach dem stenographischen Berichte: „Seine (des dritten Brieses) materielle Authentieität ergiebt sich für mich unter Anderem aus einer Thatsache, die ich mittheilen will: sie ergiebt sich aus der fcappirenden Aehnlichkeit mit einem unwichtigen Document, das von derselben Person geschrieben und wie das andere mit Blaustift auf dem gleichen, ganz eigenartigen Papier geschrieben ist, welches Lieser Persön lichkeit sür ihre Correspondenz zu Lienen pflegte; jenes Document ist Latirt von 1894 und ist seit diesem Datum aus den Archiven de-s Kriegsministeriums nicht herausgekommen." Mit dieser Persönlichkeit meint der Kriegsminister, wie die ganze französische Presse, ohne dementirt zu werden, es ausgesprochen und unzählige Male wiederholt hat, den deutschen Militärattache v. ^chwarzkoppcu, der seinem italienischen College» Panizzardi jene Mittheiluuz in Bezug auf Dreyfus gemacht haben sollte. Es liegt also offen bar eine Fälschung vor, denn Oberstlieutenant Henry hat erstens sich der Schriftzüge von Schwarzkoppen's bedient, er hat zweitens wie dieser in dem 1894 angeblich auf der deutschen Botschaft gestohlenen Briefe mit Blaustift geschrieben und er hat drittens fast genau dasselbe Papier, wie der Attache benutzt. Der Fälscher Henry hat also den Verdacht nicht nur auf Dreyfus, sondern auch auf die beiden Militair- attacheS hinlenken wollen. Hatte nun Henry thatsächlich nur, wie er dem KriegS- minister gestand, die Absicht, einen neuen Beweis für die Schuld des Dreyfus beizubringen, weil Diejenigen, welche zur Verurtheilung des Capitains führten, entweder unzureichend oder ungeeignet waren, der Oeffentlichkeit übergeben zu werden? Was konnte ihn dazu veranlassen? Nicht er, sondern weit höher gestellte Personen tragen die Verant wortung für das Urtheil. Henry war, als Dreyfus degradirt wurde, noch eine untergeordnete Persönlichkeit. Hat er nun, um lediglich das Kriegsministerium und die Generalstäbler Boisdeffre, Pellieux und Gonse weiß zu brennen, zu dem ver brecherischen Mittel der Fälschung gegriffen, hat er es viel leicht mit ihren Einverständniß gethan? Bis gestern könnte man geneigt sein, dies zu glauben, heute, nachdem der Fälscher sich selbst der irdischen Gerechtigkeit entzogen, fällt ein solcher Glaube doch schwer. Ganz Frankreich, soweit es nicht im Dreyfus-Lager steht, — auch die Deputirtenkammer — war einverstanden damit, daß, um die Ehre des Vater landes, das Bündniß mit Rußland und die Möglichkeit der Revanche zu retten, der Justiz Gewalt angethan werden könne, ja müsse, und daß Diejenigen, die ihr Gewalt an- thaten, durchaus nicht ehrlos seien. Henry durfte mindestens der Absolution seiner Landsleute gewiß sein, wenn er einen^ Brief des deutschen Militärattaches fälschte, um damit zu verhindern, daß das Vaterland in Gefahr kam. Man hätte ihn vielleicht ebenso wie Ehreu-Esterhazy auf offener Straße umarmt und geküßt, zumal er keinen „Ulanenbrief" ge schrieben hatte, wie dieser. Nein, Henry's Selbstmord scheint darauf binzndeuten, daß der Freund Paty de Clam's und Esterhazy's, Lieser schon zur Genüge compromittirten Ehrenmänner, mehr auf dem Ge wissen hatte, als die Fälschung eines Briefes, und die von uns schon während des Zolaprocesses ausgesprochene Ver- muthung taucht wieder auf und gewinnt an Wahr scheinlichkeit, daß der Verfasser des Schreibens die Absicht hatte, den Verdacht der Spionage von sich und seinen Complicen abzulenke». Der Hauptbeweis für die Schuld Dreyfus' ist als Fälschung erkannt, weshalb sollte nicht auch das berüchtigte Bordereau, dessen Schrift der des Dreyfus und der Esterhazy's zum Verwechseln ähnlich sieht, von Esterhazy im Einverständniß mit Henry gefälscht sein? Henry saß 1894 schon im geheimen Nachrichten-, d. h. im Spionage-Bureau und bekam sogar die Acten deS Dreyfus-Procefses zur Aufbewahrung. Man hatte den Bock zum Gärtner gemacht. Zweifellos ist der, welcher über die Spionage Wachen soll, am sichersten vor Entdeckung, wenn er selbst Spionage treibt. Und noch Eins. Unmittelbar nach der Verhaftung Henry's erfolgte, nach einem uns zugegangenen Telegramm, die Dienstentlassung Esterhazy's. Beides scheint miteinander im innigsten Zusammenhang zu stehen und darauf hinzudeuten, daß die Genannten Complicen waren. Der Kriegs minister Cavaignac glaubt allerdings auch heute noch an die Schuld Dreyfus' — und thatsächlich ist seine Unschuld noch nicht erwiesen, so lange nicht feststeht, daß das Bordereau eine Fälschung ist —, aber er hat doch die Demission des Generalstabschefs Boisdeffre genehmigen müssen, der sich sür die Schuld des Dreyfus auf Grund des Henry- Briefes eingeschworen hatte. Er widersetzt sich, wie uns telegraphisch gemeldet wird, mit Entschiedenheit der so fortigen Entlassung gewisser anderer Generäle, wie Pellieux' und Gonse's vom Generalstab, die ebenfalls mit großem Applomb sich auf den ominösen Brief berufen batten, und droht mit seiner Demission, wenn diese geben müßten, aber der Cabinctspräsident Brisson und die Minister Trouillet und Marnöjouls bestehen energisch auf der Entlassung. Höchstwahrscheinlich kommt es auch gegen den Willen des Kriegsministers nun doch noch zu einer Revision des Dreyfusprocesses, da die übrigen Minister fast ausnahmslos dafür sind. Sie ist jetzt absolut nicht mehr zu umgehen. Ob sie den Ercapitain aus seiner Verbannung auf der Teufelsinsel befreien wird, steht aller dings noch dahin, zweifellos aber hat der Glaube an seine Unschuld einen neuen mächtigen Vorschub erhalten und die „Jntellectuellen", die nun schon über Jahresfrist für ihn kämpfen, werden jetzt erst recht nicht ruhen und Alles auf bieten, um das Näthsel der Sphinx zu lösen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 1. September. Herr Eugen Richter ist trotz seiner Antipathie gegen die Freisinnige Vereinigung geneigt, die Bedeutung politischer Ereignisse am Courszettel zu messen. Als Fürst Bismarck aus seinen Aemtern schied, fand der freisinnige Staatsmann die Gleichgiltigkeit des Vorganges gebührend durch den Um stand gekennzeichnet, daß an der Berliner Börse am 20. März 1890 die deutschen und preußischen Consols nur um einige Groschen billiger waren als die Tage vorher. Ganz taug lich bat sich das Lieblingsthermometer des Herrn Richter freilich in diesem Falle nicht erwiesen, aber er hat ihm sein Vertrauen bewahrt, und am 29. August las er von ihm ab, daß die russische Kundgebung ein gewaltiges Ereigniß sei und daß es für die nächste Zeit die Börsenverhältnisse stark beeinflussen werde. Es war aber wieder nichts, denn am 30. trat eine Ermattung ein, die Blätter wie die „National- Zeitung" auf den russischen Vorschlag zurückführten. Ein Aufathmen der Geschäftswelt infolge der Note des Grafen Murawjew wird sich also gegen künftige Forderungen für das deutsche Heer nicht ins Feld führen lasten. Der Tod deS Samoanerhäuptliugs Malietoa wird im Verein mit der Absicht der Amerikaner, in Pago-Pago eine Flvttenstation einzurichten, die Samoasragc zweifellos in ein neues Stadium, und zwar hoffentlich endlich in das Stadium der Entscheidung, bringen. Nach den auS Neu-Seeland eingetroffenen Nachrichten haben die Consuln der betbeiligtcn Mächte „die Negierung" übernommen. Da in Wirklichkeit aus den Samoa-Inseln der sogenannte König nichts zu regieren hat, so wird die Thätigkeit der Consuln wahrscheinlich darauf gerichtet sein, die Neu wahl des OberhäuptlingS zu beaufsichtigen. Wir werden damit zu rechnen haben, daß vornehmlich seitens der Ver einigten Staaten Alles aufgeboten wird, um in dem neuen König ein möglichst gefügiges Werkzeug für amerikanische Interessen zu gewinnen. Tie drei Hauptstämme der Aäna, Atua und Tuamasanga werden dabei aller Wahrscheinlichkeit nach gegen einander ausgespielt werden, und cS ist nicht unmöglich, daß man demnächst von einem Kriege auf Samoa, daS heißt von den bei der Königswahl üblichen Schlägereien hört und daß aus den entstehenden sogenannten Unruhen der Ausgangspunct für die bewaffnete Intervention durch eine der betheiligten Mackie genommen wird. Malietoa ist bekanntlich insbesondere stur seiner Wiedereinsetzung in die Königswürde nickls weiter als ein neutraler Strohmann gewesen, welcher den ihm gewähr leisteten Tribut in Ruhe verzehrte und sogar seine frühe: c Hauptbeschäftigung, nämlich daS Waschen der Wäsche für die Matrosen der Kriegsschiffe, aufgegeben hatte. Die unter König Tamasese eingeleiteten Reformen, welche auf eine cnlturelle Hebung derSamoaner abzielteu, sind längstwieder eingeschlafen. Die materielle Seite der Sache liegt sür Deutschland klar. Die Absicht der Amerikaner, Pago-Pago zur Flotten station zu entwickeln, würde den Rest deutschen Ansehens ans den Inseln vernichten, wenn nickt eine Compensativn erfolgt. Daß es die Absicht der Amerikaner ist, durch die Anlegung der Station in Pago-Pago die ganze Inselgruppe uuter ihren Einfluß zu bringen, liegt auf der Hand. Es ist unr die Conseqnenz der seit 1888 fortgesetzten Wühlereien. Die Insel Tutuila, auf welcher Pago-Pago liegt, hat an sich gar keinen Werth. Wenn eS also, wie neuerdings ver schiedentlich vorgeschlagen wird, zu einer Theilung käme, so wäre Tutuila ein recht mäßiger Gewinn für Amerika. Aber auch die größte Insel Savaii ist für Culturzwecke so ziemlich unbrauchbar, denn sie wird fast ganz durch ziemlich hohe Gebirge eingenommen. Die kleineren Inseln kommen gar nicht in Betracht. Es bleibt also nur die Insel Upolu mit der Hauptstadt Apia übrig. Daß alle Culturinteressen auf Upolu deutsch sind, ist so ost betont worden, daß eS nicht wiederholt zu werden braucht. Daß diese Interessen seit Jahren allmählich, aber sicher Lurch die unerhörten Wühlereien aus Len Inseln zurückgedrängt werden, ist ebenfalls bekannt. Die von deutscher Seite seil fast 20 Jahren betonte Bedeutung der Insel als Etappe und wichtigster Verkehrsknvtenpunct im Stillen Ocean bildet sür Amerika eingestandenermaßen den Hauptgrund sür die Er richtung der erwähnten Station auf Tutuila. Man darf mit Recht darauf gespannt sei», was für uns Deutsche übrig bleiben wird, die wir neben jenen Verkehrsintcrcsscn noch LaS directe praktische Interesse der Plantagenan lagen uno höchst bedeutender Geldaufwendungen aus Leu Inseln besitzen. In Berliner diplomatischen Kreisen wird über den Ur sprung des russischen Fricdensprogramms mit größter Bestimmtbeit Folgendes erzählt: Bald nach dem Rücktritt Hanotanx' ließ Frankreich auf vertraulichem Wege unter Hinweis auf die wachsende Mißstimmung seiner öffent lichen Meinung in Petersburg wiederholt Vorstellungen machen, in denen der Wunsch nach einer inten siveren politischen Bethätignng des franco- russischen Bündnisses deutlich erkennbar war. Die russische Regierung verharrte diesen Vorstellungen gegenüber in dem Entschluß, sich zu keiner durch die eigenen Interessen des Zarenreiches nicht gebotenen Action drängen zu lassen; andererseits wollte sie eS vermeiden, eine ver stimmend wirkende Antwort zu ertheilen. In diesem Zu sammenhang wurde die Anregung des in Petersburg von hoher Seite schon seit längerer Zeit gehegten AbrüstungS- gedankenS für zweckmäßig erachtet. Diese Auffassung hat einiges sür sich. Thatsächlich ist der Nusscncnthusiasmus in Frankreich bedeutend abgeküblt und andererseits soll in Peters burg schon längere Zeit die Möglichkeit erwogen worden sein, den unbequemen Bundesgenossen mit einem anderen zu ver tauschen. Die Wendung, welche jetzt die Dreyfusaffaire ge nommen hat, dürfte schwerlich dazu beitragen, die Achtung Feuilletsn. . . , Henny Hurrah! 1f Roman von Ernst Clausen. Nachdruck verboten. „Axel, Du bist auf der Akademie vollständig verwildert! Mama würde es proletarische Manieren nennen, wenn ein junger Herr im Gespräch mit einer Dame die Cigarre nicht aus dem Munde nimmt." Er wurde wirklich etwas roth bei dieser Zurechtweisung, fast so roth, daß die Farbe seines gesunden, jungen Gesichts mit dem Ponceau ihres roth gefrorenen Näschens in Concurrenz trat; aber da er noch in dem jugendlichen Alter war, wo man weder über die Erziehungsversuche einer jungen Dame lachen, noch die richtige Antwort darauf finden kann, sondern sich mit Gegenan griffen zu retten pflegt, sagte er: „Du sowohl, wie Deine Mutter, ihr wißt sicher nicht einmal, was das Wort Proletarier bedeutet." Dabei setzte er den Schlittschuh mit dem Hacken auf das Eis, sodaß einige Splitter umherflogen. „Oho, natürlich weiß ich es!" Sie warf den Kopf mit der einfachen runden Pelzmütze in die Höhe und ihre Hände vergruben sich im Muff. „Na, dann schieß los, Henny!" „So spricht man auch nicht mit einer Dame, verehrter Vetter im dritten Grade! Also — Proletarier ist einer — wenn er —" Er lachte, weniger über ihr nachdenkliches Zögern, als über diesen Anfang einer Worterklärung. „Wenn er nichts hat, meinst Du wahrscheinlich?" „Unsinn! laß mich! Also, Proletarier ist einer, welcher nur gerade so viel oder weniger hat und verdient, als zum Leben noihwendig ist! Stimmts?" „Na, so ungefähr! Nicht ganz, Henny! Demnach sind wir zum Beispiel, Du, ich, unsere Eltern Proletarier!" „Willst Du das nicht einmal meiner Mutter sagen? Wirk lich, Axel, seit Du auf der Akademie bist —" „Laß doch diese ewigen Anspielungen auf München." Er wurde wüthend. — Sie hatte es immer sehr gern gesehen, wenn er die Stirn in zwei senkrechten Falten über der Wurzel der etwas großen Nase zusammenzog ugd mit den grauen tief liegenden Augen Jemanden recht feindlich anblihte. Henny nannte das sein Heldengesicht und hatte schon als Backfisch, als er noch Secundaner war, mit Vorliebe ihn so lange geneckt, biH er die Heldenaugen hergab. — Diesmal ließ er es bei dem Ge sicht bewenden und sagte ernsthaft: „Ja, Henny, es ist wirklich wahr! Wir Sprößlinge aus un bemittelten, pensionirten Officiersfamilien sind mehr oder weniger heutzutage in einer schiefen Lage, besonders ihr Mäd chen, die Ihr nicht arbeitet, nichts lernt, nichts thut." „Man sollte wohl Putzmamsell werden?" „Und warum nicht? Ist es nicht bester, als das Gnadenbrot» von Eltern und Verwandten zu essen und auf eine gute Partie zu warten?" Nun wurde sie glühend roth und sah ihn mit einem flüchtigen Blick unsicher an.' „Es ist besser, wir brechen dies Thema ab. — Du hast ganz merkwürdige Begriffe vom Leben und von Standes-Rücksichten." „Von letzteren habe ich überhaupt keinen Begriff", siel er schlagfertig ein." „Nun, dann steht meine Weltanschauung auf einem anderen Standpunct." Es war so komisch, dies gewichtige Wort von den jungen Lippen zu hören und dabei dies beinahe noch in kindlichen Linien steckende, junge Gesicht zu sehen. „Na, Henny, werde nur nicht eklig; wir wollen uns darüber nicht zanken! Komm!" Er gak> ihr die Hand und flog dann mit ihr über die weitge dehnte Eisfläche davon aus dem Schwarm der übrigen Schlitt schuhläufer heraus. Den Wind im Rücken, benutzten sie denselben als gewandte Läufer, und als sic so dem gleichsam vor ihnen herflimmernden eigenen Schatten nachglitten, den ihnen die schon tiefstehende Nachmittagssonne unter dem Stahl der Schlittschuhe herauszuzaubcrn schien, da fühlten sie sich beide so jugendfrisch, gesund und froh, daß man von Proletariersorgen mindestens auf ihren Gesichtern nichts bemerken konnte. In Ausübung einer körperlichen Geschicklichkeit, die mehr Spiel als Arbeit ist, inmitten einer frostklaren Winterlandschaft mit dem glitzernden Rauhfrost, der seinen Krystallzauber über jeden trocknen Grashalm spannt, ist kein Mensch Proletarier, am wenigsten Henny,' Freifräulein von Tressing. „Hurrah, ist das schön!" rief sie, als er, einen Bogen be schreibend, sie am ausgestreckten Arm in vollen Schwung brachte und so über die spiegelblanke Fläche dahinfliegen ließ. — Er lächelte ebenso vergnügt wie sie, besonders weil sein Künstler auge sich freute an ihrer so leicht und gefällig dahinsausenden Gestalt. Sie war doch ein MordSmädel geworden, diese Cousine dritten Grades. Ihre Väter waren weitläufige Vettern, was die beiden pensionirten Officiere und deren Familien naher zusammen hielt, als die oft nicht übereinstimmenden Lebensanschauungen. — Wie er ihr so nachschaute, glitt plötzlich ein Schatten von Trauer über sein Gesicht bei der Erinnerung an ein Gespräch, welches er am vergangenen Abend mit seinem Vater gehabt hatte. Zwei Jahre lang war Axel nicht im Elternhause gewesen, weil die Reise von München nach Norddeutschland zu theuer war. — Als er sich gestern, behaglich mit dem Vater zusammensitzend, nach Tressing's erkundigte, meinte dieser: „Henny ist übrigens so gut wie verlobt mit einem reichen Amerikaner, einem Mr. Brown, der hier an der Seefried'schen Fabrikanlage betheiligt ist." Axel hatte die kurze Bemerkung äußerlich ruhig hingenom men, aber Vater und Sohn saßen eine Weile schweigend ein ander gegenüber, bis der erstere seinen inneren Gedankenweg mit den Worten schloß: „Auch eine der Spcculationen, mit denen sich unser ver armter Adel befaßt, und zwar eine von den allererbärmlichsten." „Wieso, Vater, glaubst Du —" Dieser lachte bitter. „Glaubst Du, mein Junge, daß ein Mädchen wie Henny sich wirklich in solch eine trockene Geldseele von Amerikaner verlieben könnte? Abgekartete Geschichte! Besonders von der Alten, die sich wahrscheinlich dann endlich einen neuen Hut aus Paris kom men lassen kann." Axel war betroffen, daß sein Vater so bitter über die Ge schichte sprach, aber er wußte, wie lieb der alte Mann gerade diese Nichte hatte. Henny Hurrah! — Ja, jetzt übte sie dort mit dem fanatischen Eifer der Jugend das Beschreiben von zierlichen Bogen auf einem Bein. — Henny Hurrah! Den Spitznamen hatte ihr Axel als Schüler gegeben; er war so bezeichnend für den Backfisch, daß er sich blitzschnell durch alle Elasten des Gymnasiums und der höheren Töchterschule verbreitete. — Wie war sie damals wüthend auf ihn gewesen! Es wäre beinahe zu Thätlichkeiten von ihrer Seite gekommen, aber allmählich beruhigte sie sich, ge wöhnte sich an jenes „Hurrah", vielleicht, weil es doch gut zu ihrem Naturell paßte; sie zuckte nicht einmal mehr mit der Wimper, selbst wenn ihr jüngerer Bruder Bodo sie so nannte. — Wenn sie des Morgens kurz vor acht Uhr im Sturmschritt, sie ging nie gesittet wie andere Mitschülerinnen der Selecta — durch die Bäckerstraße flog, um noch zur rechten Zeit in die Schule zu kommen, da guckte ihr der dicke Colonialwaarenhändler Kern lachend nach, nahm die Läden vom Schaufenster und dacht«: „Henny Hurrah! Immer fix!" und der Barbier Hahn, den sie beinahe vom Trottoir herunterstürmte, riß den Hut her unter und murmelte: „Henny Hurrah hat's eilig!" - Fügte es der Zufall, Laß Axel Sternfelo, mit den Schul büchern unter dem Arm aus der Dammthorstraße heraussausend, mit ihr an der Ecke carambolirte, dann rief er: „Henny Hurrah!" stürmte hundert Schritte stumm neben ihr her, bog dann rechts ab über den Marktplatz, während sie links hinabflog, so daß ihre langen, blonden Zöpfe kaum mitkommen konnten, bis sie athemlos ohne Hurrah im Klassenzimmer auf ihren Platz schlüpfte, gerade ehe d«r Lehrer eintrat. Daran dachte jetzt Axel und schliff den rechten Fuß auf dem Eise hin und her, erst langsam, dann immer schneller und schneller, bis eine scharfgeschnittene Furche entstand, in welcher der Schlittschuh schließlich stecken blieb, genau wie seine Ge danken an diesem Mr. Brown anrannten. „Du Henny, cs ist spät! Wir müssen nach Hause!" rief er ihr zu. Im Näherkommcn meinte sie triumphirend: „Auf dem rechten Fuße kann ich die Bogen schon ganz fein! Links will es noch nicht gehen; weißt Du, ich habe mir mal den Fuß verrenkt." Er nickte nur mit dem Kopfe, gab ihr bie Hand und dachte daran, daß er ihr damals den Lcderstrumpf vorgelesen hätte, und daß sie Beide geweint hatten über den tragischen Tod des Delawarenhäuptlings Unkas. Merkwürdig, wie solche Erinne rungen fast hinter jedem geäußerten Wort herzuklettern pflegen, wenn man zusammen jung gewesen fft und zwei Jahre getrennt war! — Er schnallte ihr die Schlittschuhe ab, nachdem man mit Mühe Henny's Bruder Bodo und die jüngere Schwester Lotte aufgesammelt hatte, die noch in dem Alter waren, wo man lieber durch den futztiesen Schnee zur Seite des festgctrctencn Weges stapft und sich gegenseitig in den verschneiten Chausscegraben hineinzuschupsen versucht. Das Geschwisterpaar Bodo und Lotte trieben dies Spiel mit zäher Ausdauer, etwa dr^ßig Schritt hinter Axel und Henny hcrgehend. Axel war einsilbig; er blickte weit voraus, wo hinter den alten Thürmen der Stadt die untergehendc Sonne in gelbrothcn Dunstmassen verschwand. „Du, Axel!" „Ja?" — Er fuhr beinah erschreckt zusammen. „Sag' mal, ist es wirklich wahr, daß Ihr Maler nach lebenden Modellen zeichnet?" „Das versteht sich." „Anck nach weiblichen? . „Gewiß! Erst recht!" Hierauf Pause. — Der Schnee knirschte und guictschte unter ihren raschen Schritten, unF Henny druckste an einer letzten
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