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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.09.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-09-13
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980913027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898091302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898091302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-09
- Tag1898-09-13
- Monat1898-09
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Die Morgen-AuSgabe erscheint am '/,7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um ü Uhr. Nedaclion und Erpeditiou: JohanneSgasse 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Bezug-Preis tu d« Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten AuS- aabestellen abgeholt: vierteljährlich^4L0, bei zweimaliger täglicher Zustellung in- Hau- b.SO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliährlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbandiendung tuL Ausland: monatlich 7.SV. Filialen: ^tto Klemm'- Sortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinuw), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und Königsplatz 7. Abend-Ausgabe. KipMer Ta-MM Ämlsvlalt des Königlicheu Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und Nokizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. AnzetgenPreiS die 6gespaltme Petitzeile 20 Pfg. Reklame« unter dem Redaction-strich (4«o» spalten) vor deu Familteunachrichieu (6gespalteu) 40/^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mlt Poslbesorderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde srnher. Anzeige» sind stets au die Srpetzttta» zu richten. Druck und Verlag von E. Volz in Leipzig, E^O ^85. DLenStuK den 13. September 1898. 92. Jahrgang. Die Ermordung der Hailerin non Gelterreich. Die Bekämpfung des Anarchismus. Es ist erklärlich, daß angesichts der Genfer Tragödie von allen Seiten die Frage aufgeworfen wird, was zu ge schehen habe, um derartige fluchwürdige Thaten für die Zukunft unmöglich zu machen. Diejenigen machen sich die Aufgabe leicht, welche durch ein Berbot der anarchistischen Lehre die Aufgabe für gelöst betrachten. Es mag zugegeben werden, daß die offene Verbreitung der anarchistischen Lehre ihre Tendenzen Manchem zugänglich macht, der sie sonst nicht kennen gelernt hätte. Aber man darf doch nicht vergessen, daß Jemand, der Anarchist ist, dazu von Natur aus prädestimirt ist. „Ich war Anarchist, ohne es zu wissen",sagteLucchenibeiseinemVerhör. Er hatte fein gutes Aus kommen, war vom Prinzen von Aragon, bei dem er bedienstet gewesen war, gut behandelt und doch war er Anarchist. Mancher Andere, der Noth und Elend bis zur Neige kennen gelernt hat, der auch die verhetzendstcn Brandreden mit an gehört hat, er wird dennoch nicht zum Jünger der Propaganda der That. Es gehört unzweifelhaft eine ganz besondere psychische und wohl auch physische Veranlagung dazu, um Anarchist zu sein und anarchistisch zu handeln. Es ist die Bestie im Menschen, die im Anarchisten zum unumschränkten Ausdruck kommt. Kann man die Bestie im Menschen verbieten, durch ein Gesetz ver bieten? Nein, die Bestie bleibt, wie auch der Raub mord existirt trotz scharfer Gesetze, wie auch der Muttermörder nicht aus der Welt zu schaffen ge wesen ist, trotzdem jetzt der Scharfrichter und früher das entsetzliche Rad seiner wartete. „Man kann diese Schurkerei nicht fassen" sagte gestern der schwer geprüfte Kaiser, und man kann es in der That nicht. Der menschliche Geist martert sich aber, wie er diese Hydra vernichten könnte, er sinnt hin und her, aber der Herkules will nicht kommen, der eS vermag. Aus der Teufelsinsel führt ein Ver bannter ein qualvolles Dasein: der menschliche VergeltungS- trieb würde da diese Schurken hin wünschen, die durch ihre Bestialität Unzählige in Leid und Trauer, in Entsetzen und bange Furcht versetzen. Was nützt es, wenn diese Furie Lnccheni dem Scharfrichter verfällt? Ist daS eine befriedigende Sühne? Der Mordbube spottet ihrer, ja, er nimmt schon die Pose des Schauspielers an und freut sich deS Tages, da er sich auf dem Schaffst werde bewundern lassen können, seine wahnwitzige Eitelkeit läßt auch nicht eine Spur von Reue in ihm aufkommen, er fühlt sich als Held des Tages, dieser Schurke. ES ist immer dasselbe psychologische Bild von Herostratos, Ravachol, Reinsdorf, Caserio bis zu Luccheni, diese menschliche Bestie wärmt sich an dem Höllenseuer ihrer Verruchtheit, ihre Eitelkeit ist der Nährboden ihrer wahn witzigen That. „Da giebt eS nur ein Mittel: so oft die menschliche Gesellschaft niedergeschmetlert vor einem so ungeheuerlichen Ereigniß steht, sollte sie sich bewußt werden, daß eS nur eine Rettung giebt und das ist EbristuS, die Rückkehr zu den Lehren deS Christenthums, völlige Freiheit der Kirche und ihrer göttlichen Sendung" — also läßt sich die „Germania" vernehmen, sie denkt dabei natür lich nur an die unentwegte ultramontane Kirche. Nun ist es doch wunderbar, daß die Anarchisten fast durch weg katholischen Ländern entstammen. Es mag zugegeben werden, daß der romanische südliche Volkscharakler an sich roh und gewaltthätig ist. Er ist aber auch zu Excentricilälen un gemein g-ncigt. Wie muß auf solche Eharakicrc die katholische Kirche wirken, die die Sinne systematisch umnebelt, die durch die Ausstattung ihrer Prunkkirchen, durch Weih rauch und mystische Gebräuche rxcentrische Naturen zur Verzückung und zu manch verderblichem Thun reizt. Der Beichtstuhl kann die Bestie im Menschen nicht er sticken, wie die Geschichte lehrt, aber es ist bezeichnend, daß die ultramontane Kirche selbst diesen traurigen Anlaß herholt, um ihre die Cultur bedrohenden Prätensioncn geltend zu machen. „Der Zweck heiligt die Mittel." DaS führte die religiöse Bestie zu Meuchelmorden und derselbe Stand punkt drückt der politischen Bestie den Mordstahl in die Hand. Nein, die ultramontane Kirche kann uns ihre allein jcligmachende Mission nicht glaubhaft machen. Aber was soll man thun gegen den Anarchismus? Die Frage wird noch lange unbeantwortet bleiben. Vielleicht nützt cs etwas, die Bestie durch bestialische Mittel zurückzu schrecken, vielleicht nützt die Aussicht aus körperliche Qualen, auf eine TeufelSiusel. Der Tod ist keine Strafe. — Einige kleine Mittel werden vielleicht angewendet werden müssen. Wie wir, so fordern nun auch andere Blätter, selbst italienische, daß die Schweiz, daS Asyl Aller, die die anderen Völker von sich abweisen, ihrer staatlichen Pflicht endlich nachkomme. Ein Land, daS von Touristen sich nährt, muß diese Touristen auch schützen können. Aber ein großes, wirklich brauchbares Mittel bat noch Niemand genannt, obwohl Alle den lebhaftesten Wunsch haben, eS zu ergründen. lieber internationale Maßnahme» gegen die Anarchisten wird uns aus Berliner unterrichteten Kreisen geschrieben: Es kann nicht fehlen, daß anläßlich der Ermordung der Kaiserin Elisabeth die Frage nach einem internationalen Vorgehen gegen den Anarchismus wieder aufgeworfen wird. Ob eine Anregung in dieser Richtung von irgend einer Macht zu erwarten steht, darüber ist bisher an hiesiger amtlicher Stelle nichts bekannt. Wie erinnerlich, haben früher derartige Bestrebungen keine praktischen Ergebnisse gehabt, da die Meinungsverschiedenheiten grundsätzlicher Art nicht überwunden werden konnten. Wir schließen nun die heute vorliegenden Nachrichten an: Das anarchistische Bekenntnis Luccheni s. * Genf, 13. September. (Telegramm.) Der Mörder Luccheni schrieb in seinerGefängnißzelle einen Brief, den er an den Director des Blattes „Don Marzio" in Neapel richten wollte. DaS Schriftstück, in sehr schlechtem Italienisch ge schrieben, erweckt keineswegs die Vorstellung, daß man sich einem Individuum gegenüber befinde, das nicht im Vollbesitze seiner geistigen Fähigkeiten sei. In ironischen Rede wendungen bittet der Mörder den Director deS Blattes, dem zu widersprechen, daß er ein geborener Verbrecher nach Lombroso's Theorie sei, oder die That aus Noth begangen habe. Den Schluß des Briefes bilden zu weiteren Mordthaten aufreizende Redensarten. * Genf, 13. September. (Telegr.) In der Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter sprach dcrMörder auch von dem Briefe an den Dircctor des Blattes „Don Marzio" und sagte, er wollte zeigen, daß er weder ein Narr noch ein Nothleidender sei. Er erkannte neuerdings die Feile als sein Eigcnlhnm an und sagte, sie sei nicht abgebrochen gewesen, als er die Kaiserin stieß. Ec habe sich die Mordwaffe kürzlich in der Bude eines EiscnhändlerS auf der Place de la Riponne in Lausanne gekauft. Er habe dieses Werkzeug gewählt, weil er diese Waffe für die gefährlichste und unfehlbarste hielt. Er bereitete sie sich eigens zu diesem Zwecke zu. — Der Mörder spricht correct französisch. Er erzählte sein ganzes Leben. Danach ist er in Paris von unbe kannten Eltern geboren. Er bewahrt keine Erinnerung an Paris. Seine ersten Eindrücke knüpfen sich an den Aufenthalt, den er als Kind im HvSpital zu Parma batte. Zehn Jahre alt, wurde er entlassen, um für sich selbst weiter zu sorgen. Er blieb bis zum 20. Lebensjahre in Parma in verschiedenen Stellungen. Er erfüllte sodann seine Militairpflicht in Caserta und Neapel. Er sei hierauf als Diener beim Prinzen Aragon beschäftigt gewesen. Er giebt zu, durch seinen Dicnstgeber sehr gut behandelt worden zu sein, und sagt, „er habe trotzdem stets seine Ideen gehabt". „Welche Ideen?" fragt ter Richter. Der Mörder antwortet: „Ich war Anarchist, ohne eS zn wissen." Nach dem er den Dienst aufgegeben batte, durchwanderte er Italien, arbeitete sodann 8 Monate lang als Erdarbeiter in Schonenberg (Canton Zürich) und begab sich 1894 nach Wien, wo er nur kurze Zeit verweilte. Dann ging er nach Pest, wo er sich 14 Tage aufhielt und die Kaiserin zwei Mal sah. Auf die Empfehlung des italienischen Consuls hin wurde ihm eine Eisenbahnfahr karte nach Fiume gegeben, von wo er sich zu Fuße nach Triest begab. Der dortige Consul verweigerte ihm jeden Beistand, übergab ihn der Polizei, die ihn 4 Tage ein sperrte und dann an die Grenze brachte. Er arbeitete hierauf in vielen Städten Italiens, bevor er nach Lausanne kam, wo er zahlreiche socialistische und anarchistische Versammlungen besuchte. Der Mörder sagt, er habe nicht an der Bewegung theilgenommen, die anläßlich der Unruhen in Mailand unter den Italienern auS- brach. Er arbeitete damals in Salvan (Canton Wallis) und kehrte nach Lausanne erst vor 14 Tagen zurück. Der Mörder giebt alle ihm vorgelegten Fragen zu, zeigt aber keine Neue. Er habe durch seine That die Sache deS Anarchismus fördern wollen. Er leugnet, Mit schuldige zu haben; er spricht klar und deutlich. — Drei der von der hiesigen Polizei Verhafteten sind noch in Haft, einer ist sehr verdächtig und erklärt, Anarchist zu sein. Politische Folgen des Attentats. * Mailand, 12. September. Die Nachricht von der Er mordung der Kaiserin von Oesterreich rief hier die größte Bestürzung hervor. Die liberale „Lombardia" befürchtet Maßregeln der Schweiz wider die vielen Tausende italienischer Arbeiter, die alljährlich in der Sommer zeit die Schweiz überschwemmen. „Perseveranza" und „Cm- riere" ergehen sich in heftigen Anklagen wider die Schweiz, die von jeher den Revolutionairen aller Art ein Asyl ge währt hat. Der „Corriere" zählt alle Congrefse seit 1866 auf, die in der Schweiz von internationalen Socia- listen und Anarchisten abgehalten worden sind, und nennt die Schweiz ein Brutnest von Rebellen und Demagogen aller Art. Die „Perseveranza" wendet sich wider die Schweizerblätter, die gegen die Entsendung italienischer Polizeibeamten in die Schweiz proteslirt haben. Die Unthat in Genf zeige, wie nothwcndig die Maßregel sei. AuS Parma wird berichtet: Luccheni ist ein Findelkind, in Paris von einem Dienstmädchen auS Parma geboren. Der Vater ist unbekannt. Das Kind kam nach Parma, wo es im Findelhause aufgehoben wurde. Im fünften Lebensjahre wurde cs wieder nach Paris abgeholt. Luccheni diente beim Militair in Parma. ^V. Wie», 13. September. (P r i va t t e l e g r a m m.) Der „N. F. P." wird aus Laibach gemeldet: Die Aus schreitungen gegen die Italiener haben hier einen solchen Umfang angenommen, daß Militair aufgrboten werden mußte. Zwei Compagnien Infanterie besetzten die Ziegeleien in Welisch, wo es zu einem blutigen Kampfe zwischen Slowenen und den angegriffenen Italienern gekommen war, und stellten die Ruhe wieder her. Die Lage ist aber noch immer bedenklich. (Siehe die folgende Meldung. D. Red.) * Wien, 13. September. (Tel.) Wie das „K. K. Corr.-Bur." aus Laibach meldet, sind di« Blätbermeldungrn über blutige AusschreitungengegenJtaliener und dadurch ver anlaßtes Einschreiten eines Bataillons Infanterie völlig u n - richtig. Die Tumultuanten wurden zerstreut, ohne daß das Militair zur Thätigkeit kam. Weitgehende Vorsichtsmaßregeln sind getroffen. * Triest, 13. September. (Tel.) Gestern Abend wiederholten sich die antiitalienischen Kundgebungen. Die Po lizei, die von Militair unterstützt wurde, zerstreute die Demon stranten. Ein Sicherheitswachmvnn wurde durch'einen Stein wurf ziemlich schwer verletzt, andere erlitten leichtere Ver letzungen. 21 Personen wurden verhaftet. Um Mitternacht war die Ruhe wieder hergestellt. Die Todeswunde. * AuS Gons, 12. September, wird der „N. Fr. Pr." be richtet: Der Freundlichkeit deS I)r. Golay, welcher die Autopsie an der Leiche der Kaiserin vmmahm, verdanke ich folgende» Auszug aus dem amtlichen Protokoll: Das In strument, mit welchem die That begangen wurde, war ein spitziges, dreieckig zugeschliffeneS Eisen oder ein Stahlstück. Dasselbe ist bei der vierten Rippe in den Körper eingedrungen; diese Rippe war von der Wucht deS Stoßes zer brochen. Die Wunde hat einen Umfang von 2i/z mm. DaS Instrument nahm den Weg an der vierten Rippe entlang, durchstach die Lunge und den Herzbeutel und drang ins Herz, die linke Herzkammer durchschneidend. Die Waffe durchquerte daS Herz von oben nach unten und trat bei dem untern Theile der linken Herzkammer wieder auS dem Herzen heraus. Der Verlauf der Wunde F-uill-tsn. Henny Hurrah! 11) Roman von Ernst Claus«,.. Nachdruck verboten. Damit warf er den Rest der Cigarre in den Aschenbecher un!d stand auf. Axel pflegte jeden Abend einen Spaziergang zum Thor hinaus zu machen — im Stillen wunderte er sich selbst, daß er bereits begann, ganz philiströse Gewohnheiten anzunehmen — und traf auf der Landstraße fast regelmäßig mit Philipp König zusammen. Si« waren zuerst mehrere Male, sich scharf fixirend, an einander vorüber gegangen, bis Axel eines Tages stehen bleibend rief: „Philipp König! Weiß Gott! Nun hab' ich's!" „Ja, Herr Sternfeld, der bin ich! Ich war neugierig, wann Sie sich auf mich besinnen würden!" Er lachte über das ganze Gesicht und zeigte dabei eine Reihe starker, glänzend weißer Zähne unter dem borstigen, schwarzen Schnurrbart. Während die obere Gesichtshälfte etwas Freund liches und Weiches hatte, woran die großen, braunen, sinnenden Augen die Hauptschuld trugen, lag in den kräftigen und breit entwickelten Kinnladen eine unbeugsame Energie und zähe Aus dauer. — Axel mußte an den kleinen Tertianer Philipp König denken, der immer sitzen blieb und seinen untersten Platz mit fanatischem Eifer vertheidigte. — Von den Lehrern wurde er für einen erklärten Schwachkopf gehalten, obgleich alle Mit schüler wußten, daß er es faustdick hinter den Ohren und nur die Eigentümlichkeit hatte, sich immer gerade mit anderen Dingen zu beschäftigen, als auf dem Stundenplan standen. Sein Vater besaß ein kleines Uhrengeschäft in Tonsdorf, einem Marktflecken, ungefähr eine halbe Stunde Eisenbahnfahrt entfernt. — Axel erinnerte sich, daß König ein ausgesprochenes Zeichentalent besaß. Als dessen Vater starb, mußt« der Sohn die Schule verlassen, und so hatte Axel ihn fast vergessen. — „Was machen Sie denn hier? Und was ist aus Ihnen geworden?" „Ich bin Kunstschlosser! Und was aus mir geworden ist, können Sie sich mal, wenn Sie wollen, in meiner Werkstatt am Roßmarkt ansehen. Ich war sehr traurig, als ich hörte, daß Sie hier Zeichenlehrer geworden seien!" „Und warum?" fragte Axel. „Ich freue mich, ein sicheres Brod zu haben." „Hm", machte Philipp König. „Gewiß, das ist ja ganz schön — ich bin ja nur ein einfacher Handwerker, aber als ich vor zwei Jahren durch München kam, habe ich in einer Privatausstellung ein Bild von Ihnen gesehen." „Welches, König? War es „Die letzte Rast"?" „Ja, und deshalb thut es mir leid!" Sie schwiegen beide. Axel hatte das Gefühl, als thäte ihm etwas weh in der Brust. Es hielt nicht lange an, und als er einige Tage später in die Werkstatt von König kam, hatte er es schon vergessen. Er war erstaunt gewesen, in diesem einstmaligen Schulkameraden nicht nur einen fleißigen Handwerker, sondern in gewisser Weise einen Künstler wiederzufinden. — Der Mann fertigte Modelle zu schmiedeeisernen Thoren, Kaminverzierungen, Thiirbeschlägen und Candelabern an, deren Originalität und stilvolle Auf fassung Axel als Künstler in Erstaunen setzte. — König klagte über den Mangel an Anregung und kunstverständigen Leuten hier in der Stadt, und Sternfeld bot ihm an, des Sonntags Morgens zu ihm zu kommen, wenn ihm damit gedient sein könnte! König hatte sich von unten heraufgearbeitet, und man merkte seinen Manieren wohl an, daß er aus ganz kleinen Verhältnissen stammte. Eines Sonntags öffnet« Hedwig ihm die Wohnungsthür. Er fragte ganz verwirrt nach Axel und wollte sofort, als er hörte, daß dieser nicht zu Hause sei, Reißaus nehmen. Nur mit Mühe gelang es Hedwig, ihn zum Eintreten zu bewegen, da ihr Bruder nur einen kleinen Weg vorhätte und bald zurück kehren müßte. Er drehte, ins Zimmer tretend, seinen schwarzen Filzhut verlegen in der Hand. „Wissen Sie wohl, daß ich Sie ganz gut kenne?" sagte Hedwig, ihm einen Stuhl anbietend. „Ach, Sie meinen von Kugler her?" „Ja, Sie kommen oft in den Laden, um Zeichenmaterialien zu kaufen!" Er wurde roth, wie ein junges Mädchen, dem Blick ihrer freundlichen blauen Augen begegnend. Sie hatte eS angenehm empfunden, wie höflich dieser Mann ihr gegenüber aufgetreten war bei einem kleinen Vorfall, wo sie ichm in der Zerstreutheit eine Mark zu viel auf einen Geld schein herauSgegeben hatte. Er war in den Laden zurück gekommen, um den erst nachträglich entdeckten Jrrthum zu be richtigen. — Ein anderes Mal machte ein Herr den Versuch, als sie in der Dämmerung nach Hause ging, sie anzusprechen; es geschah in einer ziemlich einsamen Straße. Da überholte sie Philipp König, sah sich noch einmal um, blieb stehen und bat gerade in dem Augenblick, wo jener Zu bringling die ersten Worte an sie richtete, diesen um Feuer für sein« Cigarre, und weiter eilend, hörte sie ihn ganz laut hinter sich sagen: „Lassen Sie die Dame nur gehen, ich kenne dieselbe." „Ich freue mich", sagte Hedwig nun, „Ihnen persönlich danken zu können für Ihren damaligen Ritterdienst." — „O, bitte sehr, Fräulein Sternfeld." Der Ausdruck „ritterlich" setzte ihn noch mehr in Verlegen heit; er wußte damit gar nichts anzufangen. — Sie bemerkte das und sagte ablenkend: „Können Sie mir nicht einmal Ihre Zeichnungen zeigen? Mein Brüder erzählte mir davon." Dazu war er bereit und verlor im selben Augenblick alles Gekünstelte und Verlegene. — Hier fühlte er sich in seinem Fahrwasser und war voll Eifer, Alles zu erklären. Wenn Hedwig auch nicht viel davon begriff, so verstand sie es doch, voller Interesse zuzuhören. „Ich habe hier ein Fräulein König kennen gelernt", sagte Hedwig endlich. „Das junge Mädcken ist ebenfalls eine Kundin unseres Geschäfts. Ist dieselbe mit Ihnen verwandt?" Er schlug die Augen nieder. „Sie ist meine Schwester!" In seine Züge trat ein Ausdruck, der sie veranlaßte, keine weiteren Fragen zu thun, und da er beharrlich schwieg, war sie froh, als Axel gleich darauf eintrat. Am Tage nach jenem Gespräch mit Uexhus überholte Axel den Kunstschlosser König auf der Mschendorfer Landstraße und ging eine Weile, mit ihm plaudernd, zusammen. — Während des Gespräches sagte dieser plötzlich: „Entschuldigen Sie, dort sehe ich meine Schwester!" und ging über die Straß« hinüber auf ein junges, schlankes, sebr einfach, aber doch mit einer gewissen Eleganz gekleidetes Mädchen zu. — Die Geschwister sprachen einige Worte miteinander und dann kam König zurück. — Axel lüftete den Hut. Die junge Dame dankte freundlich und schritt ihren Weg weiter der Stadt zu. Es fiel ihm auf, daß sie kränklich und zart aussah. „War das Ihre Schwester?" fragte er den zu ihm zurück kehrenden König. — „Ich weiß zwar durch Hedwig von der selben, kenne ste aber nicht." Der Kunstschlosser antwortete nicht gleich, sondern schritt mit gesenktem Kopf neben ihm her. — „Ich will Ihnen etwas erzählen, Herr Sternfeld, weil ick Vertrauen zu Ihnen habe. Sie wundern sich vielleicht, daß ich nicht auch mit meiner Schwester zusammen lebe; aber bei uns liegt die Sache etwas anders. Als mein Vater starb, kam ich in die Lehre; wir erbten jedes nur einige Hundert Mark Es konnte gar keine Rede davon sein, daß ich für meine ältere Schwester sorgte. Sie blieb hier zurück und brachte sich mit Wcißsticken durch. Da sie aber Beanlagung zum Zeichnen und Malen besaß, setzte sie es durch, dies Talent hier so weit aus zubilden, daß sic nach einigenJahrenAufträge von einer größeren Firma für Neujahrskartenmuster bekam. — Sie macht das sehr hübsch, verdient ein schönes Stück Geld und ist ganz unabhängig — So fand ich sie, als ich hierher kam, um mit einem kleinen Capital eine Schlosserei zu übernehmen." — „Aber das ist ja famos von Ihrer Schlvestcr! Warum sagen Sie das Alles in solch traurigem Ton?" „Sie werden gleich hören! Ich tvollte Dora damals zu mir nehmen, aber — si« wollte nicht; sie war daran gewöhnt, ganz selbstständig zu leben." Er schwieg und schlug mit dem Spazierstock einige Male in den Schneewall zur Seite des Weges. Ein Haufe Krähen kam langsam vom Felde her über sie fortgezogen, und Axel fühlte, daß Philipp König noch etwas Trauriges auf dem Herzen hatte. „Das heißt, eigentlich war das nicht der Grund", führ dec Letztere fort — „es ist mir lieb, daß ich mal mit Jemandem darüber sprechen kann. Meine Schwester hat es mir ganz offen gestanden, daß sie seit Jahren ein festes Verhältniß mit einem Officier hier in der Stadt hätte!" Axel fühlte, wie ihm die Röthe ins Gesicht stieg. „Das ist ja sehr — traurig! Ich kann mir denken, wie Si; außer sich sein müssen! Donnerwetter, ja!" Er zerrte erregt an seiner Cravatte und knöpfte den Rock auf: „Immerhin ist es ein Glück, daß Sie gleich der Sache ein Ende machen konnten!" Der Andere nickte mit dem Kopfe. „Das war auch mein erster Gedanke. Am liebsten hätte ich den Menschen —", er blieb eine« Augenblick stehen und ballte die sehnigen Fäuste, „also ich sprach mit meiner Schwester, so vernünftig, wie es möglich war, bot ihr meinen Schutz an, wollte sie zu mir ins Haus nehmen. Es war eine heiße Auseinander- sehung und schließlich — schließlich habe ich sie in Frieden gelassen!" Er senkte bei den letzten, leise gesprochenen Worten das
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