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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.09.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-09-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980922027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898092202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898092202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-09
- Tag1898-09-22
- Monat1898-09
- Jahr1898
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Redaktion und Erveditio«: Johannes,ässe 8. DieExpedition ist Wochentags nnunterbroche» geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Otta Klruim'ö Eortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinunc), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und KöuigSplatz 7. Bezugs-PreiS hl dar Hauptexpedition oder de» im Ttaidt. veiirk und den Vororten errichteten SlvS- gavestekleii abgeholt: vierteljährlich.44.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in-Z Haus ö.öO. Durch di« Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbaudiendung ins Ausland: monatlich 7.00. Abend-Ausgabe. MMer TaMalt Anzeiger. Amtsbtatt des königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Notizer-Ämtes der Ltadt Leipzig. AnzeigenPreiS di? b gespalten? Petitzeile 20 Pfg. Sirclamen unter d«m Redoctiousstrich <4«e- fpaltrn) üt) iZ, vor den Fnmilienaachrichtea (6 gespalten) 40^- Kroßere Schristen laut unserem Preis» verzeichniß. Tabellarischer und Zisferajotz nach höherem Tarif. Extrs-Vcilagk« (gesalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Poslbefijrderung LO.—, mit Postbefürderung 70.—. Avnahmeschlnß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morge»-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Versag von E. Volz in Leipzig, 482. Donnerstag den 22. September 1898. 92. Jahrgang. politische Tagesschau. * Leipzig, 22. September. Das Vorspiel zu dem auf den socialdemotratischen Partei tagen üblichen Gezän k unter den „Genossen" hat dieses Jahr mit der Erörterung der Frage, ob die Socialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen sich betheiliaen soll, sehr frühzeitig begonnen. Jetzt, kurze Zeit vor dem Zusammen tritt des Parteitages, haben der Bericht der Partei leitung und daS Genfer Attentat neuen Anlaß zur Zwietracht gegeben. Die „Sächsische Arbeiterztg." hat begonnen, „sehr wesentliche Lücken" des Berichtes aus- zusüllen. Sie bemängelt zunächst, daß der Bericht zum „Militarismus" nicht Stellung nimmt, und stellt dem Parteitage die Aufgabe, zu erwägen, „ob es nicht rathsam ist, anläßlich der Neubewilligung der Präsenzstärke unseren Lolksmilizantrag zu erneuern". — In dem Hellen Licht, daS der Verlauf des spanisch-amerikanischen Krieges auf das Miliz system der Union hat fallen lassen, wird sich der socialdemo kratische Milizantrag besonders gut ausnehmen. — Die „Sächs. Arbeiterztg." erklärt es fernerhin für unerläßlich, daß der Partei tag die von der Svcialdemokratie gegenüber der Colonial- politik einzuhaltende Taktik klar bestimme. Unter den Gründen, mit denen das genannte Blatt die Colonialpolitik bekämpft, fehlt nicht die Behauptung, daß diese Politik für die europäischen Arbeiter die Concurrenz einer Arbeiter klasse heraufbeschwöre, die auf einem viel niederen kulturellen Niveau stehe. Der „Vorwärts", dem die „Sächs. Arbeiter zeitung" vorwirft, er habe die Erwerbung von Kiautschau nicht zur Agitation benutzt, wird über diese Illustration zu dem Dogma von der „Solidarität der Interessen des inter nationalen Proletariats" kaum sehr erfreut sein. — Seite an Seite mit dem Centralorgan wendet sich die „Sächs. Arbeiter zeitung" gegen die „Rhein isch-Westfäl. Arbeiterztg.", die anläßlich des Genfer Attentats die Anwendung der Prügelstrafe gegen Anarchisten erst beiläufig in einer Notiz, dann grundsätzlich in einem Leitartikel empfohlen hat. In letzterem führt sie aus: „Wenn Prügel wirklich zur Verhinderung von Morden dienen, so sind sie berechtigt. Der Gewinn, den die Prügel bringen, übersteigt dann den Schaden, den sie anrichten, bei Weitem. Die entgegengesetzte Ansicht halten wir für verbohrte Principienreiterei. Es kommt also daraus an, ob Prügel wirklich einen Mord zu ver hindern geeignet sind. Diese Frage bejahen wir, soweit es sich um anarchistische Morde handelt. So ziemlich alle anarchistischen Attentäter sind von einer unsinnigen Ruhmsucht erfüllt gewesen. Diese war ein wesentlicher Beweggrund der That. Solche Herostrate züchten helfen jene Ordnungsblätter, die sich mit den Bildern der Mörder „schmücken". Prügel aber entehren. Sie befriedigen nicht die Ruhmsucht, sondern bewirken das gerade Gegentheil; sie machen einen Menschen zum Gegenstand des Spottes und der Verachtung, wenigstens wenn sie auf Befehl einer mit Ansehen umkleideten Stelle, der Justiz, ertheilt werden. Wenn auch einige Anarchisten so verdreht sein könnten, ihre Hiebe als einen Grund des Stolzes hiuzustellen, so wird das Urtheil der übrigen Menschen diese Anschauung sicher ersticken. In solchen Dingen regiert das gemeinschaftliche Urtheil der Einzelnen." Diesen Standpunkt brandmarkt der „Vorwärts" als eines Socialdemokraten unwürdig, weil es nicht die Auf gabe der Socialdemokratie sei, Zwangsmittel zur Ab schreckung von Verbrechen zu ersinnen, deren Untergrund die socialen Nothstäude bildeten: „Diese Nothstände zu bekämpfen und diejenigen, welche sie aufrecht erhalten, zu verdammen — I das ist unsere Aufgabe". Das socialdemokratische Central-1 orAan theilt also vollständig die Ansicht der Anarchisten- I blätter „Armer Konrad" und „Neues Leben", welche j die Gesellschaft für das Verbrechen Luccheni's verantwortlich machen. Hoffentlich erhält der socialdemokratische Parteitag Gelegenheit, vielleicht bei der Berathung eines VerdammungS- urtheils gegen die „Rhein.-Westf. Arbeiterztg", diese Ueberein- stimmung zwischen Socialdemokratie und Anarchismus seiner seits zu bekunden. Die Meldung der Wiener „Polit. Corr." aus Rom, daß die angekündigte Initiative der italienischen Regierung betreffs der internationalen Bekämpfung des Anarchismus bereits erfolgt sei, daß ein eifriger Gedanken austausch zwischen den Mächten stattfinde, daß man überall von der Nothwendigkeit einer engeren gegenseitigen Unter stützung der Staaten durchdrungen und daß eine allgemeine Einigung in naher Zeit zu erwarten sei, scheint bestätigt zu werden durch den Umstand, daß die Berliner officiöse Telegraphcn-Agentur sie verbreitet. Wenn aber eine Einigung wirklich in naher Aussicht steht, so muß die englische Negierung zu Ansichten sich bekehrt haben, die nichts mit denen gemein haben, von denen sie sich bisher hat leiten lassen und denen erst jetzt wieder der „Spectator" folgender maßen Ausdruck giebt: „Obgleich der Zusammenhang zwischen Anarchismus und Mord eine neue Illustration durch die Ermordung der Kaiserin von Oesterreich erhalten hat, kann man nicht sagen, daß neues Licht auf die Maßnahmen geworfen worden sei, wodurch diese Verbindung harmlos gemacht werden kann. Es besteht allgemein die Neigung nach strengeren Unterdrückungsmaßregeln. Die festländischen Monarchien haben seit lange mit Mißfallen auf die vergleichs mäßige Freiheit geschaut, welche Anarchisten in der Schweiz und in England genießen, und es ist nur natürlich, daß der jüngste Mord als unheilvolles Resultat dieser Freiheit betrachtet und als Text erneuter Ermahnungen, ihr ein Ende zu fetzen, benutzt wird. Wir sehen jedoch nicht ein, wie ein noch so erbarmungs loses Gesetz das Verbrechen Luccheni's hätte verhindern können. Alles in Mein bildet das einzige wirkliche Abschreckungsmittel die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung und Bestrafung, und in dem vor liegenden Fall bestand fast gar keine Hoffnung, zu entwischen. Anarchisten, welchen Leben und Freiheit Werth ist, wählen nicht den Genfer Quai als Ort und 2 Uhr Nachmittags als Zeit der Ver übung eines Mordes." Schon wiederholt wurde nachgewiesen, daß der an geblichen Toleranz der englischen Regierung den An archisten und anderen Verbrechern gegenüber, die London als internationale Freistätte betrachten, ein gut Stück selbstsüchtiger Berechnung zu Grunde liegt. So lange man den statu« <zuo in dieser Beziehung aufrecht erhält, werden die besagten Auswürflinge der Menschheit sich hüten, sich die gewahrte Gastfreundschaft dadurch zu verscherzen, daß sie an Ort und Stelle ihre Helbenthaten verüben. Nur sehr thörichte Leute zerstören das Haus, das sie vor dem Unwetter schützt. Man wird daher die Auslassung des „Spectator" ebensowenig als Kundgebung einer hervor ragend toleranten Weltanschauung, wie als Beweis politischer Naivität ansehen dürfen, und wenn das Blatt der Mitwelt die erstaunte Frage vorlegt, wie in aller Welt dem Unwesen der Anarchisten durch strengere Unterdrückungsmaßregeln ein Ziel gesetzt werden sollte, so genügt eS Wohl, auf manche Vorgänge in der Geschichte Irlands zu verweisen, die merk würdiger Weise weder für eine besondere Toleranz, noch für eine übermäßig naive Weltanschauung sprechen. Der „Spectator" behauptet, das einzige wirkliche Abschreckungs mittel bilde die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung und Bestrafung, und da Luccheni gezeigt habe, daß ihm an Leben und Freiheit nichts gelegen sei, so sei auch nicht abrusehen, wie man durch die Abschreckungslheorie gleichartige Verbrechen Verbindern wolle. Zunächst ist darauf zu erwidern, daß die englische Regierung in den Colonien der Abschreckungstheorie weit weniger skeptisch gegenübersteht, wie u. A. die Maßregeln gegen die Mata- bele bewiesen haben. Dann aber ist zu bemerken, daß es sich bei einem internationalen Vorgehen gegen die Anarchie in erster Linie um einen erziehlichen Act handeln würde. Gerade wenn man behauptet, daß die anarchistischen Mordbuben Halb- oder Ganzverrückle seien, wie immer wieder denen entgegengerufen wird, die nur das Verbrecherthum im Anarchismus betonen, muß man doch dafür sorgen, daß diese Halb- oder Ganzverrückten bei Zeiten unschädlich gemacht werden, ehe sich ihre Wahn ideen in allerhand SchreckenSthatcn umsetzen. Das alles liegt so klar zu Tage, daß es geradezu eine beleidigende Geringschätzung des englischen Begriffsvermögens bedeuten würde, wenn man die Ausführungen des „Spectator" ernst nehmen wollte. Sie sind vielmehr lediglich als ein schüchterner Versuch aufzufassen, die Wahrheit zu verschleiern, die darin liegt, daß England hinsichtlich der Anarchistenfrage bisher nach dem Satze gehandelt hat: Jeder ist sich selbst der Nächste. Der leidige Lprachcnkampf in Oesterreich wird bald wieder schärfere Formen annehmen. Am Montag bat, wie wir berichteten, in Wien eine Besprechung der Obmänner des Clubs der Rechten mit dem Ministerpräsidenten Grafen Thun über LaS Arbeitsprogramm des Abgeordnetenhauses stattgefunden. Die Clubobmänner sprachen sich „unverbind lich" über die Lage aus, wobei jeder Parteiführer der Reckten seinen Standpunkt präcisirte, ohne daß irgend welche Ver- mittelungsvorschläze gemacht wurden. Allgemein wurde'be tont, daß die Arbeitsfähigkeit^ deS Abgeordnetenhauses von der Haltung der Linken abbänge. Würde die Linke sich un nachgiebig erweisen und die Einstellung der Obstruktion von der Aufhebung der Sprachenverordnuuzen abhängig machen, dann, so sagt man in den Kreisen der Mehrheit, bleibe der Regierung nichts übrig, als das Abgeordnetenhaus neuerlich zu entlassen und den Ausgleich im Wege des K 14 (Notkverord- nung durch die Krone) durchzuführen. Von einer Nachgiebig keit der Rechten, insbesondere der Tschechen, scheint keine Rede gewesen zu sein. Die Besprechung soll heute fortgesetzt wer den. Unter den Abgeordneten der deutschen Opposition wird, wie unS ein Wiener Privattelegramm meldet, die Frage erwogen, ob es nicht zweckmäßig sei, unter voller Auf rechterhaltung der schärfsten Opposition gegen daS Cabinet Thun in der Form der Obstructions-Taktik eine Aenve- rung eintreten zu lassen in der Weise, daß die Ausgleichs vorlage in die Verhandlungen gezogen werde, um zu ver hindern, daß der als schädlich erkannte Badcni'sche Ausgleich im Wege der Nolhverorduung nack Paragraph 14 des Staats grundgesetzes octroyirt werde. Diese Frage wird die über morgen zusammentretende Conserenz der Obmänner der Linken und der deutschen Oppositionsparteien in ihren ersten Ver handlungen beschäftigen. Der Vertheidiger des Obersten Picquart, Labori, hat Wohl Recht, wenn er die Vertagung des gegen diese» wegen Verraths militairischer Geheimnisse schwebenden Processes als eine neue Machenschaft der Militairpartei bezeichnet, welche zu dem Zwecke in Scene gesetzt werte, Picquart der Civil- lustiz zu entreißen und ihn in die Hände der Militairs zu liefern, die ihn, der am meisten Licht über den Dreyfus- Scantal verbreitet hat und noch in manche dunkle Ecke leuchten kann, sehr bald muudtodt macken werden. Wir dachten vor läufig nur an eine lange Gefängnißhaft, Picquart selbst hat, wie wir im heutigen Morgenblatt berichteten, in öffentlicher Gerichtssitzung den furchtbaren Verdacht ausgesprochen, daß man ihn im Gefängniß ermorden könne. Bekanntlich haben französische Blätter behauptet — und es ist ihnen nicht widersprochen worden —, daß man in der rechten Hand Hcnry's das zugeklappte Rasirmesser gefunden, mit dem er sich die Kehle durchgescknitten hatte, was nickt auf Selbst mord deutete. Daß die Erhebung einer neuen Anklage gegen Picquart durch das Militairgericht — es handelt sich um die angebliche Fälschung jenes im Zola-Proceß vielgenannten Rohrpostbriefes, der den Verdacht der Spionage auf Esterhazy lenkte — thatsächlich auf Betreiben des arg com- promittirten Generalstabs geschieht, wird durch die folgende uns heute übermittelte Nachricht bestätigt: * Paris, 22. September. (Telegramm.) Wie die „Agcnce Havas" erfährt, steht die Regierung der neuen Untersuchung gegen den Obersten Picquart vollkommen fern. Die Initiative dazu gehe von der Militairbehörde aus. Ta das Zuchkpolizei- gerickt die Vertagung der Verhandlung auf unbestimmte Zeit be- schlossen habe, schreite nunmehr die Militairjustiz ein und es könne nicht mehr die Rede davon sein, dem Vorgehen der Militair behörde ein Hinderniß in den Weg zu legen. Die neue Unter suchung werde daher unbehindert ihren Laus nehmen. Wie wir schon in einem Theile des heutigen Morgeii- blattes meldeten, hatte sich gestern Nachmittag ein Geu- darmerierittineisler nach dem Gefängniß de la Santo begeben, um für den Fall, daß das Zuchtpvlizeigericht die Freilassung des Obersten Picquart angcvrduet hätte, diesen wiederum fest zunehmen und nach dem Militairgefängniß Cberchc-Midi zu bringen, der Director des Gefängnisses verweigerte jedoch die Auslieferung, da er noch keinen Befehl dazu erhalten hatte. Auch in diesem Jahre wird von der englischen Flottcnliga das Gedächtniß des Sieges bei Trafalgar festlich begangen werden. Es ist eine angemessene Schmückung der Nelson-Säule in Trafalgar-Square geplant und außerdem soll an sämmtliche Lordmayors und Mayors des Vereinigten Königreichs das Er suchen gerichtet werden, ihrerseits Gedächtnißfeiern zu ver anstalten, wie es auch vergangenes Jahr geschehen. Die Flotten liga betont, daß es ihr dabei weniger auf geräuschvolle Kund gebungen marinefreundlichen Charakters, als darauf ankomme, dem britischen Publicum die Lehren des entscheidenden Nelson'schen Sieges recht eindringlich zu Gemüthe zu führen. Bekanntlich vollendete der Tag von Trafalgar, was der Kampf bei Abukir begonnen hatte: das unbestrittene Ueber- gewicht — um nicht zu sagen: die Alleinherrschaft — Groß britanniens zur See. Daß die Ereignisse des letzt verflossenen Jahres reich an ernsten Lehren und Mahnungen nicht nur für das englische Volk sind, sondern für a l l e Völker, welche Verständniß für die Unentbehrlichkeit einer rationellen über seeischen Politik besitzen, kann wohl nicht in Abrede gestellt werden. Der spanisch-amerikanische Krieg, die Entwickelung der Dinge in Ostasien und Afrika kommen hierfür vorzugsweise in Betracht. Es wäre ja höchst müßig, sich in Speculationen darüber zu ergehen, welchen Verlauf der spanisch amerikanische Feirrlleton. Henny Hurrah! lös Roman von Ernst Clauseu. Nachdruck verboten. Horst Hemskott war ein schlechter Gesellschafter, als er am anderen Tage zur verabredeten Stunde in die Kneipe kam. Ein silbig starrte er vor sich hin, und Axel litt noch an den Folgen des gestrigen Tages und war müde. „Es ist doch eine verdammte Geschichte", meinte Horst endlich. „Wir schleppen uns fürchterlich mit unserer moralischen Kindheit herum und vergessen dabei unsere Rechte; Alles soll immer fein mittel sein, nicht zu schlecht und nicht zu gut! Ich hab's satt! — Geschunden habe ich mich, gehungert auch, bis ich so weit kam wie ich jetzt bin, aber das sage ich Dir, ich will mich schadlos halten! Na, Du kennst das ja Alles aus Erfahrung!" Axel nickte mit dem Kopf. „Du hast es doch besser gehabt, Hemskott, allein in der Welt und aus einer Künstlerfamilie stammend. Du hast ganz anderes Blut in den Adern." „Hm, mag sein! Und ist das Blut darum besser?" „Mindestens nicht so dickflüssig! Und wenn Einer wie ich Künstler wird, dann fühlt man erst so recht den Widerspruch zwischen dem Schwung, den man nehmen muß, und der ererbten correcten Zwangsjacke, die uns die Arnze nicht freigiebt." Hemskott blickte lange in seinen Bierkrug und klappte den Deckel mechanisch auf und zu. „Ich sage Dir, Axel, ich habe solche Lust zu nehmen, was ich bekommen kann, Alles, Alles! Und ich will's auch thun! Das weiß der Teufel, bei allen guten Dingen, die man haben möchte, wird Einem das ganze Leben lang zugerufen: Du darfst nicht! Wie gesagt, ich hab's satt, und ich denke, wir gehen nun zu Bett, das darf man nämlich meistens! — Es kann sein, daß ich morgen Abend abreise; eure Luft bekommt mir nicht, ihr habt ja wohl noch immer alte Festungswälle!" „Ich hoffe. Du würdest noch einige Zeit bleiben!" „Ich sage nur, es könnte sein! Wer weiß! Auf jeden Fall hörst Du bald etwas von mir. — Du bist doch der Alte geblieben, Axel, und andere Freunde habe ich nicht, wenn man über dreißig Jahre alt wird, erwirbt man höchsten» noch Bekannte, und die sind auch danach!" Dann bezahlten sie und gingen. — Axel fühlte sich unruhig. Er zögerte fast, sein Wohnzimmer zu betreten, ja, er glaubte, darin noch den Geruch eines feinen Parfums zu spüren. — Aber das Zimmer sah aus wie immer; über dem Schreibtisch hing seines Vaters großes Bild und blickte mit ernsten Augen auf den Sohn, der unwillkürlich mit der Lampe in der Hand vor demselben stehen geblieben war. Hatten diese ernste Augen heute Abend nicht auf fremde Gesichter und auf fremde Leidenschaften geblickt? Axel stellte die Lampe auf den Tisch; auf dem Teppich vor dem alten Lehn stuhl lag etwas am Boden; er bückte sich und hob eine Rose auf; sie war welk und hing müde am geknickten Stengel. Und dann fiel ihm ein, daß Hedwig's bleiches Gesicht sich sonst an das dunkle Polster dieses Stuhles gedrückt hatte, und plötzlich sah er in ferner Erinnerung seiner Mutter zarte Gestalt darin ruhen, deren wellige, weiße Haare so ehrwürdig leuchteten, wenn die Lampe auf dem Tisch stand. Alte Zimmereinrichtungen wecken allerhand Gedanken! Axel fröstelte und beeilte sich, sein Bett aufzusuchen. * * * Die Stunden waren Ella Serfried langsam dahingeschlichen während des folgenden Tages. Mittags hatte sie ein Telegramm ihres Mannes erhalten, worin ihr derselbe seine Ankunft für den nächsten Tag ankündigte. — Sie hatte es theilnahmslos aus der Hand gelegt. Was ging sie das an? Das Alles würde ja nachher sein. — Dem Mädchen, welches ihr gegen Abend die Lampe brachte, sagte sie, daß sie sich leidend fühle und zu Bett gehen wolle. — Sie ging auch in das Schlafzimmer und begann hastig einige Kleinigkeiten in eine Handtasche zu packen. Das war schnell geschehen. Dann nahm sie einen Winterpelz und einen einfachen Reisehut aus dem Schrank und legte beides auf einen Stuhl be reit. Sie füllte sogar das kleine Fläschchen ihres Reisenecessaires mit Lau cke OolvM». Nun war es acht Uhr! Noch ein« Stund«! Sie setzte sich auf einen Stuhl gerade der Uhr gegenüber und schaute sich im Zimmer um. — Darin hatte sie nun jahrelang gelebt und doch war ihr kein Gegenstand lieb und vertraut ge worden. — Nichts befand sich darin, woran sich freundliche Er innerungen knüpften. — Trotz der eleganten Ausstattung waren hier nur reale Dinge vor sich gegangen. Kein Wort, kein Geständniß, nichts Heimliches gab es hier, wovon die Vorhänge, der Toilettentisch hätten traute Erinnerungen austauschen können. — Sollte sie ihrem Mann einige Zeilen zurllcklassen? Doch wozu? Nein, sie gab den Gedanken sogleich auf. — Wie konnte nur dieser Horst Hemskott solche Gewalt über sie behalten? Wie war es möglich, daß ein Mann eine Frau so sehr beherrschte? Und sie wiederholte, sich mechanisch selbst die Antwort gebend, fröstelnd und doch lächelnd all' die heißen, leidenschaftlichen Worte, welche er ihr gestern Abend ins Ohr geflüstert hatte. War sie überhaupt noch verantwortlich für Das, was sie thun wollte? — Sie hatte sich gar nicht einmal dagegen wehren können; sie handelte unter einem Einfluß, einem Willen, der stärker war als alle Vernunftgründe! — Und trotzdem dies Zittern und Zagen, das sie den ganzen Tag verfolgt hatte! Ella sprang auf und trat vor den Spiegel. „Du bist schön, wunderschön geworden!" das waren Horst's Worte gewesen. Wie hatte sie durstig den Tonfall seiner Stimme, den Blick seiner Augen getrunken. — Hatte sie damals, als sie Serfried ihr Jawort gab, überhaupt gewußt, was sie thut? Weiß irgend ein Mädchen in der Welt, welche Leidenschaften in der Natur der Frau schlummern? Aber ihre Mutter, ihre Schwestern, die Welt, die Menschen, die sie kannte? Ja das war fürchterlich! An ihren Mann dachte sie nicht in diesem Augenblick. Der stand ja ganz außerhalb ihres Seelenlebens, war ja doch nur ein vom Gesetz sanctionirter Statist in ihrem Dasein gewesen. — Noch eine halbe Stunde! Da beugte sie lauschend den Kopf gegen die Thür... Im Hause unten hörte man das Schlagen von Thüren, auch eilige Schritte und undeutliche Stimmen. Kreideweiß werdend, öffnete sie behutsam die Thür und legte das Ohr an die Spalte. „Bringen Sie den Koffer in mein Zimmer", hörte sie ihren Mann sagen. Sie flog zurück und warf Tasche und Mantel in den Kleider schrank. Der schwere Schritt des Commerzienraths war schon im Nebenraum vernehmbar. Sie stand mitten im Zimmer, beide Hände krampfhaft auf das wild pochende Herz gepreßt. — Seefried trat ein. „Du, Du wolltest doch erst morgen kommen", sagte sie lang sam, ohne sich zu rühren. Er schien das Eigenthümliche dieser Frage gar nicht zu em pfinden. — „So? Ja gewiß! Ich telegraphirte doch Wohl!" Trotz ihrer eigenen Erregung bemerkte sie, daß er vollständig gebrochen und machtlos neben der Thür auf einen Stuhl sank. „Was ist Dir, bist Du krank?" „Nein, das nicht, Ella! Aber ein ruinirter Mann!" „Was sagst Du da? Ich begreife nicht." — Er versuchte in abgerissenen Sätzen ihr eine Erklärung zu geben. Sie hörte den Klang seiner heiseren Stimme, ohne den Sinn der Worte erfassen zu können. Sie fühlte auch kein Mitleid mit dem Mann dort vor ihr, der den Kopf tief zwischen die Schultern gesenkt hielt, sie machte sich auch gar nicht klar, was das für sie bedeutete; nur ein Ge danke fetzte sich fest in ihrem Hirn. Jetzt fartgehen? Jetzt davonlaufen? Den da verlassen? Nie und nimmer! Das könnte sie nicht ertragen, schon die Vor stellung machte sie rasend, von all den hämischen Gesichtern und spöttischen Bemerkungen, die man über sic machen würde. Sie glaubte schon die Leute zischeln zu hören: Jetzt, da der Mann ruinirt ist, läßt sie ihn sitzen und geht mit einem Schrift steller durch! Nein, das war kein Heroismus der Leidenschaft mehr! Und Horst? Ihr Blick irrte wieder zum Zifferblatt der Uhr, wo gerade der Zeiger aussetztc. — In zwanzig Minuten ging der Zug. „Ist Alles verloren? Bist Du ein Bettler?" fragte sie, ohne die Uhr aus den Augen zu lassen. „Was heißt Alles? — Ich bin in zu viel Unternehmungen engagirt! Nein, nein! So verzweifelt ist es noch nicht, wir müssen uns einschränken, dies Haus hier aufgeben, nach Berlin ziehen —" Er sah unsicher auf und wunderte sich doch, daß sie noch immer so unbeweglich dastand, die Augen über seinem Kopf auf eine Stelle au der Wand gerichtet. „Ich bewundere Deine Ruhe, Ella!" „Müssen wir sofort diese Stadt verlassen?" „Es wird das Beste sein, Ella! Uebrigens habe ich schon früher für Dich ein Capital sicher gelegt, das von keinen geschäft lichen Unglücksfällen betroffen werden kann!" — Er schwieg. — In seinem Kopfe rumorten nur endlose Zahlenreihen. Fünf Minuten nach neun Uhr! Sie athmete schwer auf. So, nun war es nicht mehr mög lich, den Zug zu erreichen! Laogsam ging sie an den Klingelzug. „Einerlei! Wir werden uns danach einrichten müssen! Du wirst nach der Reise hungrig sein!" Sie bestellte das Abendessen. — Dann sah sie ihn an, zögerte, hatte einen Augenblick das Gefühl, als müsse sie an ihn
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