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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.09.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-09-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980924012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898092401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898092401
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-09
- Tag1898-09-24
- Monat1898-09
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Morgen-Ausgabe eipMcr TlMblalt Di» Morgen-Ausgab« erscheint um '/,? Uh«, dir Abend-Au-gabe Wochentag» um S Uhr. UeLaction und Erpe-itio«: JohanneSgaffe 8. Di« Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geössnrt von früh 8 bi» Abend» 7 Uh«. Filialen: ktt» Klemm'« Lartim. (Alfred HahnX Universitätöstraße 3 (Paulinus), Laut» Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und Königsplatz 7. Anzeiger. Amtsblatt -es Königliche« Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Aathes und Nolizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. Bezug-PE tn der Hauptexpedition oder den im Gtadd> bewirk und den Vororten erricht»«« Aus- «alcstellen abgrholt: vierteljährlich ^l 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in» LauS ./i 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandlrnduag in» Au-land: monatlich 7.50. i85. Sonnabend den 24. September 1898. Anzeigen Prei- dle 6 gespaltene Petitzeile 20 Psg. Reklamen unter dem RedactionSsrrich (4 g«» spalten) 50-H, vor Len Familiennachrichtei (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis» ve^eichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilage« (gefalzt), nur mit der Morgen»Ausgabe, ohne Postbeförderuag «4 60.—, mit Poftbrförderung 70.—. — Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Nureigen sind stet» an d-< Expedition zu richten. Druck uud Verlag von E. Polz ta Leipzig 92. Jahrgang. Die Prügelstrafe und -er Radikalismus. 12 Durch die Ermordung der Kaiserin Elisabeth ist die Frage der Wiedereinführung der Prügelstrafe in Deutschland auf die Tagesordnung gesetzt worden. Zur Orientirung der Leser über den Stand der Erörterung haben wir nickt nöthig, mitzutheilen oder zu wiederholen, was von der Seite, die man politisch „die Rechte" nennt, zur Sache vorgebracht worden ist. Die konservative Doktrin hat die Unzulässigkeit der Strafe der körperlichen Zücktigung niemals allgemein anerkannt, eS mußte ihren Vertretern jedoch als ein aus sichtsloses Beginnen erscheinen, im Widerspruch mit der herr schenden Gelehrtenmeinung die Gesetzgebung für sich zu ge winnen. Das dürfte sich nun ändern. Populär zu sein, hat der Gedanke der Prügelstrafe eigentlich nie aufgehört, und jetzt ertönen aus dem radikalen Lager Stimmen, die sie entweder direkt fordern oder doch mindestens vor der Erörterung ihrer Zweckdienlichkeit nicht mehr zurückschrecken. Es ist schon kurz erwähnt worden, daß ein sccialdemokratisches Blatt gegen anarchistische Mörder die Anwendung des Stockes verlangt. Wir kommen noch auf diese bemerkenSwerthe Stellungnahme zurück. Zuerst mag das Wort die „Frankfurter Zeitung", schreibe die „Frankfurter Zeitung", haben, die, nicht unter dem frischen Eindruck der Genfer Unthat, sondern vierzehn Tage später, also bei ruhig gewordenem Blute, erklärte: „Es scheint doch richtig zu sein, daß bei gewissen Bestialitäten, bei Rohheits verbrechen schlimmster Art die Prügelstrafe wenigstens diskutabel ist." In jener Begründung begegnet sich das demokratische Blatt mit den meisten neuerdings für die Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung eintretenden Federn. Es hebt den Abschreckungszweck der Strafe hervor und meint: Luccheni, den die Aussicht auf lebenslängliches Zuchthaus nicht von seiner That ab gehalten, „wäre wirklich vielleicht ein wenig ernüchtert worden, wenn ihm eine gute Tracht Prügel gewinkt hätte". Andere haben den Gedanken weiter auSgesponnen, indem sie ansführten, die anarchistischen Grauelthaten ent sprängen zumeist der Eitelkeit, und die Vorstellung, mit der einen Seite mit einer Bank und mit der anderen mit un gebrannter Asche in Berührung zu kommen, habe füt einen Menschen, der von sich reden machen wolle, nichts Verlockendes. Am eingehendsten entwickelt diese psychologische Auffassung die socialdemokratische „Rheinisch - Westfälische Arbeiterzeitung" und zwar gänzlich ungerührt durch Abmahnung und Bann fluchandrohung des „Vorwärts". Wir haben bereits mit- gctheilt, was das westdeutsche Blatt n a ch der erfolgten Ver mahnung durch das socialdemokratische Centralorgan auS- sührt, und lassen es seiner Logik und seiner Abstammung von einem socialdemokratischen Verfasser halber hier nochmals folgen: „Wenn Prügel wirklich zur Verhinderung von Morden dienen, so sind sie berechtigt. Der Gewinn, Len di» Prügel bringen, über steigt dann den Schaden, den sie anrichten, bei Weitem. Die ent gegengesetzte Ansicht halten wir für verbohrte Prinriplenreiterei. (Die „Franks. Ztg." spricht etwas höflicher von „Doktrinarismus". Red. d. „L. T.). Es kommt also darauf an, ob Prügel wirklich einen Mord zu verhindern geeignet sind. Diese Frage bejahen wir, soweit es sich um anarchistische Morde handelt. So ziemlich alle anarchistischen Attentäter sind von einer unsinnigen Ruhmsucht erfüllt gewesen. Diese war ein wesentlicher Beweggrund der That. Solche Herostrate züchten helfen jene Ordnungsblätter, die sich mit de» Bildern der Mörder „schmücken". Prügel aber entehren. Sie befriedigen nicht die Rubinsucht, sondern bewirken das gerade Gegen- theil; sie machen »inen Menschen zum Gegenstand des Spotte» und der Verachtung, wenigstens wenn sir aus Befehl einer mit Ansehen umkleideten Stelle, der Justiz, ertheilt werden. Wenn auch einige Anarchisten so verdreht sein könnten, ihre Hiebe als einen Grund des Stolze- hinzustellen, so wird da- Urtheil der übrigen Menschen diese Anschauung sicher ersticken. In solchen Dingen regiert das gemeinschaftliche Urtheil der Einzelnen." Diese Auseinandersetzung hat ohne Frage Vieles für sich. Zeigt man sich ihr zugänglich, so wird man die Prügelstrafe wohl nicht ausschließlich für anarchistische Verbrechen an drohen können, sondern, wie das oben erwähnte bürgerlich demokratische Frankfurter Blatt will, Nohheilsverbrechen schlimmster Art mit der körperlichen Strafe ahnden müssen. Was die „FrankfurterZtg." außer anarchistischen Verbrechen noch zu meinen scheint, deutet der konservative Verein zu Bünde i. W. in einer Petition an den Reichstag etwas näher an. Dieser verlangt: „Wiedereinführung schärfster Prügel strafen , namentlich wo eS sich um bestialische Verbrechen gegen Frauen und Kinder handelt. Sie ist die einzige Strafe, welche die entarteten Unmenschen noch fürchten." Gegen diese Gleichstellung der Entarteten mit den Verbrechern aus Ruhmsucht ist nichts einzuwendcn. Nur fragt es sich, ob die Anwendbarkeit der Prügelstrafe lediglich aus dem Gesichtspunkte der Abschreckung betrachtet werden soll. Burschen z. B-, die ein Vergnügen daran finden, Thiere zu martern oder junge Bäumchen zu zerstören, werden sich häufig durch die im Strafgesetzbuch angedrohten Prügel nicht ab halten lassen, ihrer Passion nachzugehen. Aber sie werden eS „nicht wieder thun", wenn sie die „gute Tracht" einmal erhalten haben. Die Prügelstrafe, nach den alten gesetzlichen Recepten angewendet, kann verrohen und muß verrohen. Aber wenn ihre Anwendung mit den nöthigen Cautclen, die wir uns ziemlich umfassend denken, umgeben ist, da kann sie auch bessern und birgt sie jedenfalls nicht die Gefahren für den Bestrafte» in sich, die mit Freiheitsstrafen verbunden sind und die jetzt für gewisse Vergehen trotz der beding n Begnadigung vollzogen werden müssen. Wie man aber ..ach hierüber denken mag, für Unthalen, wie die Genfer und sonstige „Robheitsverbrechen schlimmster Art", ist die Wieder einführung der Prügelstrafe außer von konservativer von demokratischer und focialdemokratischer Seite angeregt. Der deutsche Reichskanzler Hal also viel mehr gegründeten Anlaß, mit einer dahin abzielenden Vorlage an den Reichstag zu kommen, als der preußische Ministerpräsident sich bewogen sehen kann, vom preußischen Landtag ein AuSnahmevereinS- gesetz für einen einzelnen deutschen Bundesstaat zu verlangen. Deutsches Reich. 6.8. Berlin, 23. September. Einer der wichtigsten Posten in unserer Marine ist neu besetzt worden: an Stelle deS ContreadmiralS Barandon ist der Contreadmiral Bendemann Chef des Stabes des Oberkommandos der Marine geworden. Herr Bendemann ist am 27. August 1867 Unterlicutenant zur See geworden; als Lieutenant zur See, zu welcher Charge er am 19. März 1870 ausrückte, hatte er das Glück, sich vor dem Feinde auSzuzeichnen und mit dem jetzigen commandirenden Admiral v. Knorr sich das Eiserne Kreuz zu erwerben. Herr Bendemann war Officier auf dem „Meteor", mit dem der damalige Capitain-Lieutenant Knorr das bei Weitem stärkere französische Kriegsschiff „Bouvet" angriff und in die Flucht schlug. Am 17. Februar 1874 avancirte Herr Bendemann zum Capikainlieutenant und am 15. April 1880 zum Corvetlencapitai». Als solcher gehörte er dem Admiralitätsstab an und war Mitglied der Artillerie-Prüfungscommission; sodann ist er längere Zeit Commandant der Kreuzercorvette „Olga", die zum da maligen Kreuzerzeschwader (1886) unter dem Commando deS ContreadmiralS Knorr gehörte, gewesen. Am 22. Oktober 1887 rückte er zum Capitain zur See auf und ist als solcher zunächst Commanveur der I. Werstdivision gewesen, dann wurde er mit den sehr wichtigen Functionen des Stabschefs der Marinestation der Ostsee betraut und kurze Heil darauf zu dem noch wichtigeren Posten deS Chefs deS Stabes der Manöverflotte berufen. Als rangältester Capitain zur See hat er 1894 unseren erstklassigen Panzer „Brandenburg" commandirt; am Geburtstag des Kaisers 1895 wurde er zum Contreadmiral befördert, nachdem er vorher zum Inspekteur deS Torpedowesens ernannt worden war. Diesen Posten hat er mehrere Jahre bekleidet und auf ihm wesentlich zur Entwickelung und Vervollkommnung des Torpedowesens der Marine bcigetragen. Zuletzt war er, wie gesagt, Chef der 2. Division des I. Ge schwaders. Es ist sicherlich ein eigenthümliches Zu sammentreffen, daß die beiden Marineofsiciere, welche jetzt noch das Eiserne Kreuz von 1870/71 besitzen, in verant wortungsvollster Stelle zusammenwirken, der eine als com- mandirender Admiral, der andere als Chef des Stabes deS Oberkommandos. Der bisherige Chef deS Stabes, Contre admiral Barandon, hat einen neuen aktiven Posten nicht er halten, früher wurde er vielfach als künftiger Ches des Kreuzergeschwaders an Stelle des Herrn v. DiederichS bezeichnet. Da alle Commandanten der Kriegsschiffe unter Viceadmiral v. DiederichS abgelöst worden sind, so läßt die Ablösung deS Admirals durch den früheren Chef deS Stabes des Ober kommandos, Herrn Barandon, vielleicht auch nicht mehr lange auf sich warten. Berlin, 23. September. In wenigen Tagen, am 27. d. M., findet in München eine Versammlung des Ver bandes deutscher Arbeitsnachweise statt, welchem sämmtliche größeren allgemeinen Arbeitsnachweise Deutschlands beigetreten sind. Für die Tagung ist ein umfassendes Programm entworfen, das sich auf wichtige Ausgaben des Arbeitsnachweises und seiner Organisation erstreckt. So wird die Errichtung von Arbeitsnachweisen in kleineren Städten, die Arbeitsvcrmittelung für weibliche Personen und Dienstboten erörtert werden. Weiter ist zur Berathung gestellt, ob sich die Einführung der Gebühren freiheit bei der Arbeitsvermittelung empfiehlt und inwieweit die Arbeitsnachweise dazu beitragen können, der Landwirthschaft Arbeitskräfte zu erhalten und wieder zuzuführen u. s. f. Der Bedeutung gemäß, welche die segensreiche Thätigkeit des Ver bandes im Dienste des socialen Friedens bisher entwickelt, haben sich in dem Ausschuß des Verbandstages alle größeren Bundes staaten durch anerkannte Sachverständige auf diesem Gebiete vertreten lassen. So werden die preußischen Ministerien für Handel und Gewerbe und für Landwirthschaft, wie bereits zu gesagt ist, durch Commissarien vertreten sein, ebenso das öster reichische Handelsministerium, dazu kommen noch eine große Anzahl von Gemeinden, Berlin voran. Auch Landwirthschaft^- kammern, so die schlesische, gedenken die Tagung zu beschicken. Und eine große Zahl von Anmeldungen aus weiteren Kreisen bekundet, mit welchem Interesse den Berathungen entgegenge sehen wird. Eine wesentliche Aufgabe der Tagung besteht darin, für die öffentlichen unparteiischen Arbeitsnachweise das Ver trauen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu gewinnen. Ohne rege Betheiligung von beiden Seiten können sie sich nicht er sprießlich entwickeln, noch etwa die Grundlage zu einer centrali- sirten Organisation des Arbeitsnachweises über größere Theile des Reiches oder das Reich hin werden. Bisher haben, weil der Arbeitsnachweis ein wesentliches Hilfsmittel des wirthschaft- lichen Kampfes ist, die socialdemokratischen Einflüssen unter worfenen Gewerkschaften Arbeitsnachweise geschaffen, worauf die Arbeitgeberverbände nicht gezögert haben, ihrerseits ent sprechende Organisationen dagegen zu errichten. Es kommt aber bei dem Arbeitsnachweis nicht nur darauf an, daß absolute Sicherheit geboten ist gegen jedweden Mißbrauch auf irgend einer Seite, gegen jeden Versuch, die Gegenpartei zu schädigen; sie müssen auch von vornherein das volle Vertrauen wie o:r Arbeitgeber so der Arbeiter selbst besitzen dahin, daß auch nur der Versuch dazu durch die Organisation selbst und ihre Leitung von vornherein ausgeschlossen ist. Die allgemeinen Arbeitsnachweise tragen diesem Gedanken Rechnung, indem sie von dem Grundsätze ausgehen, daß in der Leitung der Arbeits nachweise auf neutralem Boden unter unabhängiger, un- intercssirter Leitung sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ge meinsamer Arbeit zur Erfüllung einer gemeinsamen Aufgabe ver binden sollen. Für die Förderung dieser Erkrnntniß im Dienste des socialen Friedens zu wirken, ist der Haupt zweck der Münchener Tagung, der ersten, welche die vereinigten allgemeinen Arbeitsnachweise abhaltcn und deren Verlauf auch darum von besonderer Bedeutung sein wird für die ganze künftige Arbeit auf diesem Gebiete. * Berlin, 23. September. Zu welchen Eonsequenzen der ambulante Gerichtsstand der Presse führt, be weist ein vom Oberlandesgerichtr Gießenals letzte Revisions instanz gegen die in Berlin erscheinende „Deutsche Warte" ge fälltes Urtheil. Der Hergang der Sache ist kurz folgender: Die „Deutsche Warte" brachte in einer Nummer einen Lotterieprospect einer Berliner Firma, die Görlitzer Lotterie betreffend. Ein biederer Gendarm in dem hessischen Landstädtchen Büdingen findet in der betreffenden Nummer, die auch in einer dortigen Wirthschaft auf liegt, den Prospekt, wundert sich darüber, daß eine Berliner Zeitung noch nicht einmal weiß, daß die Görlitzer Lotterie in Hessen nicht genehmeigt ist, und beschließt, diesen Frevel an zuzeigen. Die Folge davon ist, daß dem betreffenden Redacteur durch einen Strafbefehl von 60 in Erinnerung gebracht wird, daß der ambulante Gerichtsstand der Presse kein leerer Wahn ist. Gegen den Strafbefehl legte der Redacteur Berufung mit der Begründung ein, „daß der Jnseratenredacteur in Berlin nicht wissen könne, ob die betreffende Lotterie in Hessen genehmigt sei oder nicht; nicht einmal wisse, ob in Hessen überhaupt Abonnenten seiner Zeitung vorhanden sind, da die Post selbst auf Befragen hierüber stricte die Antwort verweigert. Da der Redacteur mit- Feirrllstsi». Die Duchoborzen. Von Or. Ernst Lehnitz. ÄlaLdruck vnboNn. Durch die Blätter ging letzthin die sehr interessant« Nachricht, daß das Dampfschiff mehr als 1000 Duchoborzen aus den Kaukasusländern nach Cypern befördert habe, wo sie fortab unter Alt-Englands Banner leben und ihr Gewerbe betreiben sollen. Da die Zahl der Duchoborzen in den letzten Jahr zehnten bereits sehr zurückgegangen war, so dürfte mit dieser Expatriirung aus dem heiligen Rußland eine seiner merk würdigsten Secten verschwinden, 'deren Geschichte zugleich in dem großen Buche menschlicher Glaubenslehren und menschlicher Irrungen ein sehr eigenartiges und lesenswertheS Capitel bildet. Die „Streiter des Geistes", wie der Name der Secte im Deutschen etwa zu übersetzen wäre, führen ihre Lehre auf drei Märtyrer aus der Zeit Nebuknadnezars, also lange vor der Er scheinung Christi, zurück. Zum Unglück für diese Behauptung lehrt uns die indiskrete Geschichte den Stifter der Secte, wenn auch nicht gerade bei Namen, so doch immerhin leidlich genau kennen. Es wär ein ehemaliger preußischer Unterofficier, der im Anfänge des 18. Jahrhunderts in einem Dorfe des Gouverne ments Charkow lebte. Der Mann war fleißig und ehrlich und erwarb sich so im Dorfe Ansehen und Vertrauen, seinen religiösen Ideen aber Anhänger. Es ist ja eine merkwürdige und nur aus dem intensiven religiösen Leben de» russischen Volkes erklärliche Erscheinung, daß man in Rußland allenthalben auch unter den gewöhnlichen Leuten viele trifft, die sich Grübeleien über re ligiöse Probleme hingeben. Da genügt es denn oft, daß ein energischerer Wille und ein klarerer Geist unter sie tritt, um Anlaß zu einer Scetenbildung zu geben. Jener Unterofficier scheint seine Lehren hauptsächlich den Dogmen der Calvinisten und der Quäker entlehnt zu haben; es ist in dieser Hinsicht interessant, daß noch ein Jahrhundert später englische Quäker zum Besuche der Duchoborzen - Colonie an» Asowsche Meer reisten, weil ihnen die Anhänger dieser Secte al» Glauben»- verwandte geschildert worden waren, und daß sie in der That in rin russischer Pennsylvanien gekommen zu sein glaubten und sich mit den russischen Sektirern, deren Bibrlkenntniß sie be wunderten, ganz leidlich verstanden. Der Hauptgrundsatz jene» Unterofficier» war jedenfalls der, daß in der Seele jedes Menschen Gott selbst seinen Wohnsitz aufgeschlagen habe und die innere Welt de» Menschen regiere. Die Lehre fand Verbreitung, ein Mann au» den gebildeten Ständen wurde nach de» Gründers Tode ihr Oberhaupt, ver stand sie schnell zu verbreiten, entwickelt« sie auch innerlich weiter und prägt« seinen Anhängern die duchoborzischen Dogmen dienstliche Formen und Gebet erklärten sie für unnütz. Nur die innere Offenbarung ist ihr Leitstern, — das göttliche Wort in jedem Menschen: das ist ihnen der ewige Christus. Das Bild des Heilands verehren sie nicht. „Das ist nicht der Heiland", sagten duchoborzische Bauern, als ihnen ein Christusbild ge zeigt wurde, „das ist nur eine bemalte Tafel. Wir glauben an Christus, aber nicht an einen Christus aus Kupfer, Gold oder Silber, sondern an Gottes Christus, den Heiland der Welt." Diese Lehre von der inneren Offenbarung nennt Leroy- Beaulieu, der bekannte treffliche französische Kenner Rußlands, mit Recht ihre große Originalität. Für sie wiederholt sich die Fleischwerdung im Leben jedes wahren Gläubigen, in Jedem lebt, lehrt, leidet, aufersteht Christus von Neuem. Darum ist e» auch ganz folgerichtig, daß sie bei ihren Zusammenkünften sich ehrfürchtig vor einander verneigen: sie verehren in einander dir lebendige Form Gottes. Auch das ist «ine interessante Folge ihrer Lehre, daß sie, wie Haxthausen erfuhr, ihre schwächlichen oder mißgebildeten Kinder angeblich tödten sollen, weil sie sagen, daß die Seele, Gott also, nur in einem gesunden Körper wohnen könne. Die auffällige Kraft und Gesundheit, die die Ducho borzen im Allgemeinen zu kennzeichnen pflegt, spricht aller dings für di« Existenz dieser grausamen Sitte. So bildete Poborichin dre Lehre aus. Zugleich aber begann bereits er der Secte eine eigenartige Organisation zu geben. Er nannte zwölf Apostel, die die Lehre zu verbreiten hatten, zwölf Erzengel, die seine Befehle ausführten, zwölf Todesengel, die die Widerspenstigen und Abtrünnigen bestraften. Wichtig wurde auch die Bestimmung, daß, wril alle Erlösung doch nur aus der Kraft des Geistes und nicht aus Büchern kommen könne, das Er lernen von Lesen und Schreiben verboten wurde. Nur münd lich wurde die Lehre vorgetragen und durch Auswendiglernen der Erinnerung ringeprägt. Die Erinnerung, muß man wissen, spielte in ihrer Lehr« eine Rolle: sie, die Vernunft und der Wille bilden für die Duchoborzen dir heilige Dreieinigkeit. Die Secte hatte inzwischen auch die Aufmerksamkeit der Re gierung auf sich gezogen und nach mancherlei Schicksalen und Verfolgungen erhielten di« Duchoborzen die Erlaubniß, sich im Gouvernement Tauri» an dem Flusse Molotschna niederzulasien. Einer der Ersten, die hierher übersiedelten, war das neue Haupt der Secte, der ehemalige Korporal der Garde Kapustin. Er gleich lateinischen Genuiregeln durch selbstverfertigte Verse rin. Aber erst unter seinen Nachfolgern gewinnt die Secte eigentlich unser volles Interesse, weil sie unter ihnen erst zu ihrer ganzen Eigenthümlichkeit ausgebildet wird. Zuerst ent wickelt sich die Lehre, dann aber da» Leben der Duchoborzen in sehr merkwürdiger Weise. Poborichin hieß der Mann, der der Lehr« der Duchoborzen einen ganz neuen Anstrich gab. Er war der erste, der nicht mehr ein einfacher Prediger der Lehre, sondern ein neuer Heiland sein wollte. Er lehrte, daß, seitdem Gott sich in Christus ver körpert habe, er überhaupt nur noch im Mroschtn wohne, und zwar nur in den reinen und auserwählten Menschen, d. h. natür lich in den Duchoborzen. Nicht allein die Ueberlieferung, sondern auch die Autorität der Bibel wurde verworfen; gottes- war es, der sich zuerst als den Duchoborzengott ausrief, und Alle beteten ihn kniefällig an; daß er und alle seine Nachfolger — denn Kapustin machte die Führerschaft erblich — echte Söhne Gottes seien, das, sagen die Duchoborzen, „ist so wahr, als das Himmelsgewölbe sich über uns ausspannt und die Erde unter unseren Füßen liegt". Dieser Kapustin war offenbar ein Mann von großer Willenskraft, zugleich ein Mystiker und ein höchst praktischer Mann, der die Gemeinde vortrefflich zu leiten und zu Wohlstand zu bringen wußte. Vor Allem aber war er ein richtiger Despot, der in seiner neuen Ansiedelung Terpenje, d. i. Geduld, nicht zögerte, für die Befriedigung seiner kleinen Wünsche Sorge zu tragen. Er ordnete die Ersetzung der Ehe durch die freie Liebe an und vermehrte den Becrmtenapparat der Secte durch sechs Jungfrauen, deren Pflicht osficiell war, di« Psalmen und Lieder auswendig zu lernen und der Nachkommen schaft zu überliefern, die aber thatsächlich mit dem Duchoborzen gott und seinen Aposteln ein wüstes und ausschweifendes Leben führten. Und von jetzt ab beginnt ein jäher Verfall der Gemeinde, deren Mitglieder bis dahin in einer Art communistischer Brüder lichkeit gelebt, einander treulich gefördert und die Greise, Siechen und Waisen liebevoll unterstützt hatten. Kapustin's Sohn Kalmykoff, rin lüderlicher Trunkenbold, starb bald; für dessen Sohn Jllarion, der das regierungsfähige Alter noch nicht erreicht hatte, regierten die Apostel und Engel, während sie den kleinen Heiland in die Gesellschaft einiger junger hübscher Mädchen steckten. Eine wüste Gewaltherrschaft begann. Die Apostel und Engel raubten, plünderten und praßten, die Gesetze der Brüderlichkeit waren vergessen und unter der Duchoborzen-Co- lonie entstand eine solche Unzufriedenheit, daß sie schließlich dem Heiland und seinen Aposteln offen den Gehorsam weigerten. Da setzten diese ein fürchterliches Schreckensregiment ein. Die Zahl der Todesengel wurde vermehrt, ein geheime» Gericht, „Hölle und Paradies", errichtet, ein ausgedehnte» Spionage system organisirt. Ein bloße Denunciation genügte, um die TodrSengel ihre» fürchterlichen Amte» walten zu lassen; ganz in der Art der Inquisition, doch in noch viel schlimmerer Weise wurden Verdächtige oder Widerspenstige grausamen Foltern unterworfen, sie wurden erwürgt, ersäuft, erschlagen. Hunderte von Personen sind in kurzer Zeit einfach spurlos verschwunden, ihr Hab und Gut fiel Kalmykoff und seinen Helfershelfen an heim. Am Ufer der Molotschna trieben schrecklich verstümmelte Leichen an, und wenn der Wind den Sand hinweg wehte, so fand man Leichen, ja, sogar Lebendigbegrabene. Dieser Terrorismus stellt« allerdings den Gehorsam der Duchoborzen wieder her, aber er lenkte schließlich auch die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich. Ein strenges Strafgericht ereilte die Rädelsführer, die ganz« Secte aber wurde nach Transkaukasien verschickt, wo sie in den Kreisen Achaikalaki und Eliscrbethpol neun große Dörfer gründete. Diese Uebcrsiedelung wurde für die „Streiter des Geistes" ein Glück. In der neuen Umgebung, vor den neuen Aufgaben erfolgt« eine moralische Regeneration. Die Apostel und Engel jeder Art wurden abgeschafft. Kalmykoff wurden drei Männer zur Leitung zur Seite gestellt, die Grundsätze der Brüderlich keit wieder befolgt, für die Waisen und Schwachen wieder Sorge getragen. Zugleich entwickelten die Duchoborzen auch hier ihre eigenthümliche Fähigkeit zu praktischer Arbeit, durch Ackerbau und Biehzucht gelangten sie bald zu ansehnlichem Wohlstand. Kalmykoff und nach ihm seine beiden Söhne starben bald; jetzt aber verstand es die Gemahlin des zweiten Sohnes, Lukeria Gubanowa, ein überaus kluges Weib, die Herrschaft an sich zu bringen und sich zur Göttin der Duchoborzen zu machen. Der Tifliser Professor C. Hahn hat von dieser merkwürdigen Frau eine interessante Schilderung gegeben. Obwohl schon in höherem Alter stehend, wollte sie gern noch jung sein und verstand ihre Kleidung sehr gut zu wählen, wie denn besonders ihre schnee weiße Haube zu ihrem frischen Gesicht vorzüglich Paßte. Sie war ein« hohe majestätische Gestalt von ernstem imponierenden Auftreten und verstand die Duchoborzen dermaßen sür sich ein- zunehmen, daß ihnen jede Laune der Dame als göttliches Gebot galt. Eine kleine Schwäche hatte die kluge Lukeria freilich, eine Schwäche für das stärkere Geschlecht, und besonders für einen Duchoborzen Namens Peter Wirigin, den sie 1883 kennen ge lernt und von seiner Frau getrennt hatte. Mit ihm theilte sie ihre Herrschaft, ihn erklärte sie für ihren Nachfolger, auf den dir göttliche Kraft übergehen werde. Als aber Lukeria 1887 starb, lehnte sich ein Theil der Duchoborzen gegen den herge laufenen Gott, der in keiner Verwandtschaft mit der Familie stehe, auf und der Bruder der Lukeria trat an die Spitze der Partei. Bald standen sich die beiden Parteien in wüthendem Hasse gegenüber, procesfirtrn gegen einander, thaten sich alles ge brannte Herzeleid an, verübten Gewaltthätigkeiten gegeneinander und machten mit den Lehren der Gegenpartei die der Secte selbst öffentlich schlecht. Schließlich mußte die Regierung wieder ein greifen und Wirigin nebst fünf seiner vornehmsten Anhänger wurden nach Sibirien verschickt. Aber fest glaubt seine Partei, „daß er bald auf einem weißen Rosse, umgeben von Engeln mit flammenden Schwertern zurückkommen, und seine Widersacher niederschlagen werde." Seitdem trägt die Secte den Keim des Tode» in sich, zumal da Widerspenstigkeiten gegen den Zaren uno die Regierung zu neuen Strafen und Verbannungen führten. So mag die russische Regierung ganz froh sein, den Ueberrest „der Streiter des Geistes" an England abzugeben. Gelingt es aber, sie an Ausschreitungen zu verhindern, so könnte ihre praktische Ge wandtheit und ihr Fleiß auf der alten Insel Cypru» gar wohl vortheilhaft zur Geltung kommen.
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