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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.09.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-09-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980923029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898092302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898092302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-09
- Tag1898-09-23
- Monat1898-09
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mrt Postbesörderung ./t 70.—. Ännahmeschluß für Ästigen: Abend-AuSgabe: Vormittag» 10 Uhr. Worgeu-AuSgabr: Nachmittags 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richten. > - Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 23. September. In seiner gestern Abend erschienenen Ausgabe meldet der „Reichsanzeiger", daß wegen der Seuchengefahr die Einfuhr von Rindvieh, Schafen, Schweinen und Ziegen aus der Schweiz mitgeringsügigenAusnahmen verboten sei. Kommt diese Verfügung nach früheren An kündigungen auch nicht überraschend, so ruft doch ihre Ver öffentlichung aufs Neue die Frage wach, was die verbündeten Regierungen zur Beseitigung derhohenFleischpreise zu thun gedenken. Klagen über die Höhe der Fleischpreise erschallen übereinstimmend in Königsberg und Beuthen, in Kiel und Karls ruhe, in Berlin und Hamburg. Nicht nur Fleischer innungen, auch Stadtvertretungen lassen den Ruf nach Maßnahmen ertönen, die geeignet sind, der Fleischtheuerung wirksam entgegenzutreten, und schon hat die Socialdemo kratie begonnen, die Fleischpreise in den Bestand ihres Agi tationsarsenals aufzunehmen. So ließ sich z. B. Herr Singer die Gelegenheit nicht entschlüpfen, die Berliner Stadtverordneten- Versammlung durch den „Witz" zu erheitern, daß nur noch reiche Juden sich den Genuß von Schweinefleisch gestatten könnten und daß außer dem Pferdefleisch auch der Verbrauch von Hunde fleisch zugenommen habe. Man kann die letztere Angabe auf sich beruhen lassen und wird doch zugeben müssen, es müsse etwas geschehen, was der Fleischtheuerung begegnen könnte. Die Be hauptung des extremen Agrarierthums, daß die Zwischenhändler Wucher trieben und die Landwirthe ihr Schlachtvieh kaum los werden könnten, wie die Marktberichte bewiesen, ist nicht stich haltig. Niemand anders, als die agrarische „Jllustrirte Landw. Ztg." hat angeführt, daß aus der Fassung der Marktberichte oft falsche Schlüsse gezogen würden. Wenn cs da heiße, „unver kauft", so handele es sich um ganz minderwerthigc Waare. „Die Viehpreise stehen hoch, sehr hoch", schrieb jüngst das genannte Organ wörtlich, „und die Zahl der unverkauft stehenbleibenden Thiere ist, abgesehen von minderwerthigen mageren Schafen, in diesem Jahre so klein gewesen, wie kaum jemals zuvor." — An gesichts dieses Zeugnisses sollte die Regierung sich nicht darauf beschränken, einfach Einfuhrverbote zu erlassen, sondern gleich zeitig Vorkehrungen treffen, welche die Einfuhr ausländischen Fleisches gestatten, ohne berechtigte Interessen der Landwirth- schaft zu verletzen. Den kaum verflossenen Kaisertagen in Hannover wird von wclfischcr Seite ein bemerkenswerthes Nachspiel be reitet. Bekanntlich hat am 4. d. M. bei dem im Ständehause zu Hannover veranstalteten Festmahle der Graf zu In- und Knyphausen dem Kaiser für die Herausgabe des Welfcnfonds an das frühere Hannoversche Königshaus gedankt. Einen Dank anderer Art stattete vorgestern am Geburtstage des Herzogs von Cumberland die welfische „D e u t s ch e V o l k s z e i t u n g" ab: sie veröffentliche an ihrer Spitze einen Festartikel, der als eine welfische Herausforderung dreistester Art bezeichnet werden muß. Es wird darin nicht nur das „verbannte an gestammte Fürstenhaus" der unverbrüchlichen Anhänglichkeit der Welfen versichert, sondern es werden auch die Kundgebungen treuer Anhänglichkeit an das Haus Hohenzollern, die während der letzten Anwesenheit des Kaisers zu Tage traten, als gezwungene und selbstsüchtige ausgegeben, sowie als Anstalten bezeichnet, „die Welt mit dem Aufputz bunten Flitters und dem hochtönenden Phrasenschwall über die Wahrheit im Lande zu täuschen." Der „Hann. Courier" weist dies: absichtliche Entstellung und bös willige Verleumdung mit Entschiedenheit zurück, spricht aber dann die Ansicht aus, daß das welfische Blatt ein solches Vor gehen nicht wagen würde, wenn nicht der Versuch, einer poli tischen Strömung in Hannover Eingang zu verschaffen, die dem innersten Wesen des niedersächsischen Volksstammes widerstrebt, die Hannoveraner einer oppositionellen Stimmung gegen Preußen und die Hohenzollern geneigt machte. So beachtens- werth diese Mahnung für das bethciligte höhere Beamtenthum ist, ebensosehr sollten die Befürworter einer Versöhnungspolitik die Herausforderung des wclfischen Blattes sich zu Herzen nehmen. Wie erinnerlich, hat auf dem Eingangs erwähnten Festmahle im Ständehause in Hannover der Kaiser dem Grafen zu In- und Knyphausen geantwortet: „Sie können sich versichert halten, daß bei der Erinnerung an meine große unvergeßliche Urgroßmutter, die Königin Luise, ich damals auch der hohen, schwergeprüften Frau gedacht habe, und es mir ein wahres Herzensbedürfniß und eine Beruhigung ßllv meine Seele war, als ich wußte, daß ich ihr eine Freude be reiten konnte, und Ihre Majestät hat die Gnade gehabt, mir durch Uebersendung eines wundervollen Bildnisses meiner hochseligen Frau Urgroßmutter zu danken.» Die Vermuthung, daß unter der „hohen, schwergeprüften Frau" die Mutter des Herzogs von Cumberland gemeint sei, ist, ohne Widerspruch zu finden, in der Presse ausgesprochen worden. Die Quittung über die sympathievolle Erwähnung der früheren Königin durch den deutschen Kaiser liegt jetzt vor; es ist dringend zu wünschen, daß das welfische Blatt nicht in die Lage versetzt wird, sie zum zweiten Male auszustellen. Die Berichte der socialdemokrntischen Parteileitung für ihren Parteitag haben zwar, wie wir gestern hervvrboben, in diesem Jahre neuen Anlaß zur Zwietracht innerhalb der Partei gegeben, sind aber im Uebrigen so uninteressant wie gewöhnlich. Angesichts des preußischen LandtagSwahlkampfeS ist eS aber beachtenswerth, wie der Freisinn die Wieder- bolung socialdemokratischer Programmerklärungen aufnimmt. Der Bericht über die parlamentarische Thätigkeit der social demokratischen Neichstagsfraction schließt wie folgt: „Allein auf sich gestellt, ringsum von Feinden umgeben, kämpft die socialdemokratische Fraction gegen die kapitalistische Ausbeutung und den Classenstaat, fest unser Endziel im Auge haltend: die Ersetzung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine socialistische, die Verwandlung des kapitalistischen Prioateigen- thums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigenthum und die Umwandlung der Waarenproduction in socialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Production." An dieser Erneuerung des alten socialdcmokratischen Be kenntnisses fällt als an etwas Selbstverständlichem nichts auf als die Worte, die die „Freis. Ztg." ihrer Wiedergabe voraus schickt. Nämlich: „Nicht vor den Reichstagswahlen, sondern erst jetzt." Herr Richter stellt sich also, als ob er an die „Mauserung" der Socialdemokratie geglaubt hätte, als er seine Wahlbündnisse mit dieser Partei abschloß. Die Zu- muthung, die er damit an die Naivetät seiner Ergebenen stellt, ist doppelt stark, da er auch „jetzt", nachdem die Social demokratie sich ausdrücklich für das ausgiebt, was sie ist, mit ihr bei den Landtagswahlen pactirt. Es wäre also eine un geheure Leistung, ihm zu glauben, daß er seine taktische» Maßnahmen bei den Neichstagswablen in Unkenntniß deS gegenwärtigen Charakters der Partei des Herrn Bebel ge troffen hätte. Wer beim Eintritt in eine Lasterhöhle seine Tugendhaftigkeit rühmt, muß ein dreister Geselle sein. Zn Wahrheit ist Herrn Richter, dem Manchestcrmann, wenn es sich um Abgeordnetensitze und namentlich um sein eigenes Mandat handelt, der CollectiviSmus der Socialdemokratie gerade so gleichgiltiz, wie ihm, der über conservative Neaction zetert, die fundamentale und naturgemäße Freiheilsfeindlichkeit des Ultra- montanismuS „egal" ist. Er schreibt heute: „ES wäre thöricht, Wahlverbindungen mit der CentrumSpartei ab zulehnen." Und angesichts dieser Gesinnung — richtiger Ge sinnungslosigkeit — des einzigen ernsthaften Politikers im ganzen freisinnigen Lager Wundern sich Fortschrittsblätter, daß die Nationalliberalen sich nicht an die Spitze der „Liberalen" stellen, um die conservative Reaction zu bekämpfen. Die Nationalliberalen unterschätzen gewisse conservative Nück- schrittsgelüste durchaus nicht, aber die ultramontanen An schläge auf die Geistesfrciheit bilden umsomehr die näher liegende und drohendere Gefahr, als sie mit der zur Zeit etwas besser als früber verhohlenen, aber ungeschwächlen Abneigung gegen das Reich zusammensließen. Die Thore des Militairgefängnisses Cherche- Midi haben sich hinter dem Obersten Picquart geschlossen, wer weiß, wann sie sich wieder öffnen werden. Der Coup deS Generalstabs ist geglückt und die Antirevisionisten hoffen nun, daß, wenn Picquart, wie eS ja wohl nicht unmöglich ist, wegen „Fälschung" des Rohrpostbriefes verurtheilt wird, die Revision verzögert, ja verhütet werde, denn dann wäre ja der Hauptzeuge gegen DreyfuS entwerthet, dann glieche die neue Thatsache (die freilick bei verschlossenen Thüren sestgestellt werden wird) die Entlarvung Henry'S aus und die öffentliche Meinung würde sich wieder von DreyfuS abwenden. Der „Temps" meldet, die Enquete in Betreff des Rohrpostbriefes sei bereits von Cavaignac gleichzeitig mit der Enquete über die Fälschung des Oberstlieutenants Henry eingeleitet worden. General Zur linden habe, nach dem er als Kriegsminister vergeblich die Untersuchung gegen Picquart beantragt hatte, als Militairgouverncur kraft seiner Befugnisse die Verfolgung Picquart's angeordnet. Zu dieser Verfolgung bedurfte er aber der Genehmigung des jetzigen Kriegsministers Cbanoine, und um diese zu erlangen, setzte er nach der „Aurore", die Unerfahrenheit seines Nach folgers ausnutzend, folgenden Streich ins Werk: General Zurlinden hatte bereits seine Entlassung genommen und war wieder zum Gouverneur von Paris ernannt worden, als an: 20. d. Nachmittags Chanoine den Besuch eine» Ordon- nanzofficiers des Militairgouverneurs erhielt, der ihm Schrift stücke zur Unterzeichnung vorlegte. Chanoine unterzeichnete alles, ohne auch nur nachzusehen, was er unter zeichnete, und einige Augenblicke später brachte der Ordon- nanzofficier triumphirend nach der Wohnung deS Generals Zur linden den auf diese Weise vom Kriegsminister unterfertigten Befehl, gegen Picquart gerichtliche Verfolgung eiuzuleiten. Der Streich war gelungen. Eine Stunde später wurde der Justizminister Sarrien amtlich von der wichtigen Entscheidung benachrichtigt, die ohne sein Vorwiffen der Kriegsminister gegen Picquart getroffen hatte. Er eilte zu Brisson, um ihn von dem Vorgang in Kenntniß zu setzen. So weit die „Aurore", deren Mittheilungen auch von anderer Seite als zutreffend bestätigt werden; indessen ist hinzuzusügen, daß die harmlose Haltung Chanoine'S von manchen Seiten beargwöhnt wird. Angesichts dieser Sach lage wird die Regierung sehr bald ihre Entscheidung treffen müssen, denn die Haltung der Presse und die Stimmung im Publicum wenden sich immer mehr gegen daS Vorgehen der Generalität, in dem man fast einen Staatsstreich erblicken will. Wie uns gemeldet wird, verlautet schon gerüchtweise, die Angelegenheit Picquart habe einen Conflict zwischen dem Ministerpräsidenten Brisson und dem Kriegsminister Chanoine veranlaßt, welcher eine Krise herbeiführen könnte. — WaS die angebliche Fälschung Picquart's in Betreff der Rohrpostkarte angeht, so ist der Wortlaut dieser Karte folgender: „An den Major Esterhazo, 27 Rue de la Bienfaisance. Ich erwarte vor Allem eine eingehendere Aufklärung als diejenige, welche Sie mir neulich gegeben haben über die schwebende Frage. Ick ersuche Sie daher, mir dieselbe schriftlich zu ertheilcn, damit ich urtheilen kann, ob ich meine Beziehungen zu dem Hause R. fortsetzen kann oder nicht. C." Bekanntlich ist im Zolaprocesse zeugeneidlick behauptet worden, daß dieser Kartenbrief dem Generalstabe von demselben Agenten und aus derselben Quelle zugegangen, wie die anderen angeblichen Beweisstücke, d. h. also aus der deutschen Botschaft gestohlen worden sei. Im Uebrigen verlautet von zuverlässiger Seite, daß der Kartenbrief, das petit bleu (von der blauen Farbe des Umschlags) nicht von der Hand v. Schwartzkoppen's geschrieben ist, sondern von einem Agenten, den der General- stab als Vermittler Schwartzkoppen's für seine Erkundigungs zwecke in diesem Falle ansieht. DaS sehr besonnen urtbeilente „Journal des Dcbats" schreibt: „Ter Nohrpostbrief ist ganz daS Gegentheil von einer neuen Thatsache, er ist eine alt- Thatsache, die bereits in dem Zolaproceß mitgespielt hat und von der man nicht mehr reden kann, ohne in Wiederkäuerci zu verfallen. Wie konnte man bis heute warten, um in der Rohrpostkarte eine verbrecherische Thatsache zu finden? Jeder mann weiß doch, daß General Billot und Cavaignac durch aus nicht zärtlich für Picquart waren und keineswegs daran gedacht haben, gegen ihn vorzugehen." Nun Hal man Picquar t doch gefaßt, und wenn er auch schließlich freigesprochen werden dürfte, so ist er doch bis auf Weiteres stumm gemacht. Sonderbare Dinge gehen am chtnkfischc» Kaiserhofe in Peking vor. Wie wir noch in einem Theile des heutigen MorgenblalteS mittheilen konnten, war nach einer aus Shanghai nach London gelangter Meldung deS „Reuter'schen BureauS" in der zweiten Stadt Chinas gestern daS Gerücht verbreitet, der Kaiser sei gestorben, Einzelheiten fehlten noch, doch verlaute, daß die Thore Peking» geschlossen seien. Da der Kaiser von Cbina Tsai-tien sich bisher einer guten Gesundheit erfreut hat, fiel eS schwer, an ein plötzliches Ableben auf natürlichem Wege zu denken, aber nach der „revolutionären" Thal der Ankündigung weitgehender Reformen durch den Kaiser schien es nicht ausgeschlossen, daß gegen ihn geglückt sei, waS letzthin gegen den Kaiser und den Kronprinzen von Korea versucht worden war. Indessen daS Gerücht von, Tode Tsai-tien'S bestätigt sich nicht, wenn auch daS, was aus Peking berichtet wird, einer „capitis climiuutio" des Kaisers gleichkommt. Man meldet unS: * Peking, 23. September. (Telegramm.) Ein heute er lassenes kaiserliches Edict zeigt endgiltig an, daß der Kaiser die Regierungsgewalt an die Kaiseriu-Wittwe abgetreten hat, die die Minister anwies, die amtlichen Berichte künftig ihr einzu reichen. Der Haupt-Rathgeber des Kaisers, Kang, ist trotz energischer Versuche, ihn zu verhaften, geflohen; es verlautet, das; er auf dem Wege nach Shanghai sei. Die Wirkungen der Aenderung in der Negierung werden beträchtliche sein; wahrschein lich wird Li-Hun g-Tschang wieder eingesetzt werden. Die Plötz lichkeit Les Umschwunges wird dem Wunsche der Kaiserin-Wittwe zugeschriebcn, zu verhindern, daß die Mission des Marquis Ito erfolgreich sei. Ter Wortlaut des Edictes ist dahingehend, daß der Kaiser die Kaiserin-Wittwe (angeblich) ersuchte, die Regierungsgewalt Feuilleton. Henny Hurrah! 20s Roman von Ernst Clausen. NaLtruck verboten. Der alte Herr schwieg und sah wieder seinen verstorbenen Vorgänger an! — „Ich gebe freimüthig zu, Herr Director, daß sich das nicht schickt für einen Lehrer, was aber meinen übrigen Verkehr mit anderen Personen betrifft, so —" „Bitte, ich will Ihnen keine directen Vorwürfe machen, sondern ich wollte Sie nur in Ihrem eigenen Interesse bitten, derartige Extravaganzen zu unterlassen. — Sie sind ja noch jung, aber mehrere Ihrer Collegen un'd deren Frauen haben doch daran Anstoß genommen. Und dann noch eins! Obgleich fast alle Lehrer Mitglieder des Bürgercasinos sind, sind Sie dem selben nicht beigetreten. Die Gesellschaft vereinigt thatsächlich den intelligenteren Theil der Crvilbevökkerung. Sie können sich nicht wundern, daß viele Leute den gewiß ungerechtfertigten Argwohn hegen, als hielten Sie sich — Ihr Vater war ja Officier — zu gut für diese Kreise!" > Axel stand rasch auf. — Er war roth geworden und seine Augen leuchteten, als er sie voll auf das trockene Gesicht seines Vorgesetzten richtete. „Nun verstehe ich, Herr Director! Ich will gar nicht auf Ihre Worte und auf die Liebenswürdigkeit meiner Collegen ein gehen, sondern Ihnen nur die beruhigende Gewißheit hinter lassen, daß ich meine Thätigkeit aufgeben und zu Weihnachten von hier fortgehen werde!" „Aber junger Freund! Sie fassen die Sache viel zu extrem auf; das war gar nicht so gemeint! Sie werden doch nicht die Unbesonnenheit begehen und infolge von übertriebener Empfind lichkeit —" „Seien Sie unbesorgt, Herr Director! Diese Unterredung bestärkt mich höchstens in meinem Entschluß und ich habe nur zu fragen, ob Sie mir noch weitere Mittheilungen zu machen haben?" Derartig kurz war der Director wahrscheinlich noch nie ge fragt worden. Die Würde seiner Stellung war empfindlich getroffen, aber selbst der alte Pythagoras hätte ihm hierbei nicht helfen können. „Ich hoffe, Sie ändern Ihren Entschluß! Ich danke Ihnen!" Axel machte eine kurze Verbeugung und ging hinaus. — Wie war ihm wohl zu Muthe! So federleicht wie damals, als er nach bestandenem Examen hier herausstürmte! Er blieb, tief aufathmend, auf der Schulstraße stehen. Die Sonne lachte vom Novembevhimmel herab. In der Nacht war etwas Schnee gefallen, die Dächer dampften in der Mittagswärme und ließen ihre Ziegel wie frisch lackirt glänzen. Das Schulhaus lag düster, kalt und grau mit seiner Nord seite hinter ihm und aus dem Fenster der Quarta schaute ein Knabenkopf. Am liebsten wäre Axel zurückgekehrt und hätte den armen Eingesperrten befreit! Was nun? — Er mußte Jemand haben, mit dem er sich aussprechen konnte. Philipp König! Aber der war jetzt zur Mittagszeit sicher nicht zu finden. Nein, er wollte lieber zu Henny gehen, die er so lange nicht gesehen. Die Letztere war schon früh am Morgen bei ihrem Vater gewesen. Der Oberst hatte gestern Abend auf der Straße einen Schwindelanfall bekommen, und als Henny zu ihm kam, lag er im Bett und schalt auf das Alter und auf seinen Arzt! „Vating, sei nur nicht so wüthend!" meinte sie, ihm die Hand gebend. „Du hast immer auf den modernen Schwindel gescholten, und nun hast Du selbst einen gehabt! So etwas kommt vor und wird bald vorübergehen, wenn Du Dich einige Tage ruhig hältst!" Der alte Mann lachte zum ersten Male seit gestern Abend wieder, während seine Frau Henny dankbar zunickte. Sie hatte mit ihrem Mann gar nichts mehr anfangen kynnen; nichts war ihm recht zu machen und er behauptete, es sei die erste Schleichpatrouille von Gevatter Tod gewesen und es sei ihm ja auch ganz recht, endlich wieder mit anständigen Menschen Zusammen zu kommen, die den Kaiser Wilhelm noch gekannt hätten, aber wenn er jetzt schon aus der Welt gehe, müßten seine Frau und Kinder verhungern. „Du kannst wohl ein Stündchen bleiben, Henny, damit ich schnell den Haushalt besorge", sagte Frau von Tressing. Der Oberst strich seiner Lieblingstochter, ohne etwas zu sagen, leise über die feine Hand, die er nicht wieder losgelassen hatte. „Sie meint es ja gut, Deine Mutter", sagte er dann — „aber sie hat so gar keine Art, mit einem Kranken umzugehen! Ich fühle cs ja aus jedem Wort heraus daß sie sich erschrocken hat und mit Angst an die Zukunft denkt. An Unsereins ist ja nicht viel gelegen; man hat mich vor zwanzig Jahren in die Eclls gestellt, und wenn man nicht ab und zu 'mal in einem Kriegerverein Seine Majestät hochleben ließe, wüßte man gar nicht, daß man den Rock einstmals getragen hat und darin ein frischer, junger Kerl war, der den Mädels die Cour schnitt. Allerdings waren die Mädels auch anders damals, wie zum Bei spiel unsere Lotte." „Wo ist sie denn jetzt?" fragte Henny, die darauf verzichtete, dem Vater zu widersprechen. „Wo wird sie sein? Wahrscheinlich wieder im Kinder hospital, wo sie jeden Morgen ein paar Stunden hinläuft, anstatt sich um ihren alten Vater zu kümmern." „Das«solltest Du nicht sagen, Papa! Lotte hat einmal die Aufgabe übernommen, dort jeden Morgen von acht bis elf Uhr die Aufsicht zu führen; nun muß sie es auch durchsetzen." „Das,weiß der liebe Himmel, Henny, Du bist auch schon etwas modern verdorben worden dort drüben! — Früher waren unsere Töchter fidel und dachten nicht an diesen Krimskrams von Krankenpflege und derartigen Sachen. Da hattcn die Eltern noch etwas von ihnen; aber jetzt kommt Unsereins immer erst in zweiter Linie — es ist eine'verdrehte Welt!" Er verstummte, «und Henny hielt es für cklüger, nicht zu antworten, aber sie dachte, 'wie inkonsequent es doch von Eltern sei, vorauszusetzen, daß die Töchter nur um der Eltern willen in der Welt seien, und daß diese contractmäßig 'sich verpflichtet fühlen sollten, sich nur im Hause nützlich zu machen. Diesen Eontrotct brach nur die 'Heirath, sonst nichts! Sie nahm sich fest vor, es durchzudrücken, daß Lotte die Erlaubniß erhielt, ihrer Neigung zu folgen, und sich als Krankenpflegerin auszu bilden. „Ist es denn wahr, Henny, daß Seefried pleite gegangen rst?" fragte ihr Vater, und als sie bejahte, lachte er still vor sich hin. — „Das freut mich! Es kam gerade zu rechter Zeit, denn der junge Seefried ist mir ein unangenehmer Bengel." — Vater und Tochter lachten Beide, aber die Letztere eigentlich widerwillig. — Diese älteren Leute saßen in der Neuzeit doch eigentlich mit all ihren Ansichten und Gewohnheiten auf der Schattenseite und sie selbst war auch nur bis in den Halb schatten gelangt. Nach einer Weile meinte der Oberst, die Auqen fest auf ihr Antlitz richtend: „Es ist mir lieb, daß wir einmal allein sind, mbin Kind! Mir kamen in der letzten Nacht so allerhand Gedanken! Wenn ich wirklich bald aus der Welt gehen sollte, so weiß ich wirklich nicht, was aus Mutter und Lotte werden soll! Die Jungens haben ein schmähliches Geld gekostet, und Beide haben noch lange zu warten bis zum Hauptmann." — „Mache Dir darüber keine Sorgen, Vater!" „Ja, ja, Du "bist ein gutes Kind! Falls Du nicht wieder heirathen solltest, wirst Du wohl für die Beiden sorgen?" „Darauf kannst Du Dich verlassen." „Na, Henny! In Deinen Jahren! Man sollte eigentlich nicht davon sprechen, aber schließlich — wir Alten wissen doch, wie die Jugend ist! Sie saß unbeweglich da. — Auf der Straße zog «ine Com pagnie Soldaten mit Trommeln und Pfeifen vorüber, und der alte Soldat horchte auf den Tactschritt der jungen Soldaten, die „König Wilhelm saß ganz heiter" sangen, während Henny dar über nachsann, was in einigen Jahrzehnten wohl aus der Familie Tressing geworden sein würde. Der älteste Bruder hatte ihr in Berlin ganz begeistert von der Familie eines Commerzienrathes erzählt, wo er bei einem Ball vorgetanzt hatte und wo die Damen im Cotillon silberne Armbänder erhielten'mit dem Datum der Festlichkeit! „Du kannst ganz ruhig sein, Vater, ich glaube nicht, daß ich wieder heirathen werde, und ich bin viel zu glücklich, jetzt wieder unter Euch zu sein!" Er verstand ganz gut, was sie damit sagen wollte, und war dankbar, daß sie sich so zartfühlend ausdrückte. — Als die Mutter dann mit dem Frühstück eintrat, sagte Henny: „Lotte muß nothwendig Stahlbäder nehmen! Ich denke, wir gehen im nächsten Sommer Alle nach Pyrmont!" Frau von Tressing's Gesicht klärte sich auf. — Sie hatte seit zwanzig Jahren keine Badereise machen können, und in der Nähe von Pyrmont lag der leider längst veräußerte Grund besitz der Grafen Uexhus. — Der Oberst ließ sich das Frühstück schmecken und nach einem Plauderstündchen konnte Henny be ruhigt fortgehen. Auf der Straße angelangt, überlegte sie einen Augenblick und beschloß dann, direkt zu ihrem Arzt zu gehen. Sie wollte Klarheit haben! Und obgleich sie beinahe ebenso schnell wie einst als Schulmädchen durch die Straßen ging und für alle alten Bekannten einen freundlichen Gruß hatte, konnte sie doch nicht verhindern, daß ibre Gedanken eine ernste Richtung nahmen; und dabei fror sie jedesmal, wenn sie aus der Sonne in den Schatten der alten Häuser kam. — „Aber ich habe gar keine Lust, schon wieder die Koffer zu packen, Herr Medicinalrath! Sollte ich die Reise nicht bis zum nächsten Winter verschieben können?" fragte sie nach der gründlichen Untersuchung des Arztes.
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