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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.10.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981005023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898100502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898100502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-05
- Monat1898-10
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags sm 5 Uhr. Ne-action «ud Erveditiou: IohanncSgasse 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: vtt» Klemm S Sortim. (Alfred Hahn). Universitätsstraße 3 (Paulinum), Lonis Lösche, Katharinenstr. 14, part. und Königsplatz 7. BezugS-PreiS tn der Hanptexpkdition oder den im Stadt, bezirk und den Vororten errichteten Aus- aavestellen abgeholt: vierteljährlich 4.öO, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins HauS 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertestäbrlich 6.—. Directe tägliche Krruzbandsenduug in- Ausland: monatlich 7.5Lc 5vö. Abend-Ausgabe. HeiWM TagMalt Anzeiger. Amtsblatt -es H'önigkichen Land- nnd Ämtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Notizei-Änrtes der Ltadt Leipzig. Mittwoch den 5. October 1898. AnzeigeN'PretS die 6 gespaltene Petitzelle 20 Pfg. Reklamen unter demRedactionSstrich (Site spalten) 50/H, vor den Familiennachrichtea (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernjatz uach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbeförderun^ 60.—, mit Postbesvrderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Ab end-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition , zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. S2. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 5. Oktober. Der bisherige Verlauf des socialdcmokrattschcn Partei tages hat wieder die Bedeutung, welche das schnöde Geld für die socialdemokratische Partei bat, in belleS Licht gerückt. Dringlicher noch als früher betonte „Genosse" Auer die Nolh- Wendigkeit, der Partei neue Einnahmequellen zu er öffnen, die „gewaltigen" finanziellen Leistungen, die mit der Thätigkeit der „Genossen" verknüpft seien, könnten auS den Beiträgen der „Genossen" nicht mehr gedeckt werden. Fußend auf der Berechnung, daß von der letzty: Jahres - Gesammteinnahme von 350 000 Mark durch die Partei-Unternehmungen 171 860 aufgebracht wurden, verwarf Auer energisch die Berliner Forderung, das Agitationsmaterial an Broschüren rc. solle von der Partei „so billig als möglich" hergegeben werden. Der Eifer, mit dem „Genosse" Auer zum Schmerz der Ber liner die „Profitwuth" der Parteiunternehmungen verlhei- digle, wird durch sein Geständniß begreiflich, daß die Socialdemokratie das, waS sie ist, ihrer Agi tation verdanke, daß sie ihre Agitation aber nicht mehr betreiben könne, wenn die Parteicasse auf die Einnahmen aus den Parteiunternehmungen verzichten müsse. Stellt man neben dieses Geständniß die Angabe des Cassen- berichterstatterS Gerisch, die GesammtauSgabe für die letzte NeichStagswahl dürfe nicht unter ^4 Millionen Mark veranschlagt werden, so erhält man ein Bild davon, wie wenig die socialdemokratischen Ideen als solche sür die Wahlersolge der Socialdemokratie bedeuten. Jene Wahlerfolge deshalb gering zu schätzen, wäre freilich ein verhängnißvoller Fehler. Die zielbewußten Führer halten bei aller Meinungsverschiedenheit über die Taktik doch, wie der „opportunistische" Genosse Heine eben wieder erklärt hat, daran fest, auf die eine oder die andere Weise eine socia- listische Gesellschaft zu schaffen; darum ist die Gefahr, die von der Herrschaft der socialdemokratischen Agitatoren über die Massen droht, nach wie vor dieselbe, mögen die chimärischen Endziele des SocialiSinus nach dem Muster des letztey socialdemokratischcn Wahlaufrufs auch noch so sorgfältig verschwiegen und die „concreten Forderungen des TageS" noch so sehr in den Vordergrund gerückt werden. Hierüber darf man sich auch dadurch nicht täuschen lassen, daß sich der Genosse v. Vollmar über die „Helden" der Pariser Commune anders ausgesprochen hat als der Vorwärts" in seiner Begrüßung deS Parteitags. Auch Liebknecht hat, wie wir gestern ausführten, in seiner Eröffnungsrede sein eigenes Blatt in puncto Pariser Commune desavouirt, ohne deshalb in Bezug auf die letzten Ziele der Socialdemokratie anders zu denken, als der „Vorwärts". Herr v. Vollmar mag übrigens wirklich über die zur Erreichung der socialdemo kratischen Ziele anzuwendcnven Mittel wesentlich anders denken, als Liebknecht und die meisten Genossen; jedenfalls vertritt er eine geringe Minderheit, die nicht in Betracht kommt, wenn einmal die Gelegenheit günstig erscheint, das socialdemokratische Zukunftsidcal mit mehr oder minder sanfter Gewalt zu ver wirklichen. Diesen Sachverhalt darf man um so weniger verdunkeln lassen, je mehr der Parteitag durch die öde, schwunglose Wiederholung oft gehörter Auseinandersetzungen den verblendeten bürgerlichen Radikalismus dazu verleiten wird, das alte Lied von der „Mauserung" der Social demokratie anzustimmen. Für jene unheilbaren Optimisten scheinen die schwäbischen Partei-Diplomaten den theatralischen Begrüßungsabend im Stuttgarter CircuS in Scene gesetzt zu I haben. Gemüthcr, wie die unserer bürgerlichen Demokraten, I lassen sich durch die Vorführung idyllischer Bühnenbilder, die scheinbar jedes revolutionären Untergrundes entbehren, so gern bestechen — es sollte uns Wundern, wenn nicht gerade die Circuskomödie mit Gesang und Tanz von den Frei sinnigen als ein „gewichtiger" Beweis dafür auSgegeben würde, daß die deutsche Socialdemokratie nichts weiter sei, als eine „radikale Neformpartei", die an irgend welchen Umsturz nicht im Entferntesten denke. In die preußische Wahlbewegung sind nunmehr auch die Freiconservativen mit einem Wahlaufrufe ein getreten. Er macht durch seine Sachlichkeit und Ruhe einen vortheilhaftcren Eindruck, als der konservative Wahlaufruf, der heftige Ausfälle gegen eine andere bürgerliche Partei ent hielt. Diese Ausfälle dienten dem Zwecke, die National liberalen von einer engeren Verbindung mit de» Freisinnigen zurückzuschrecken. Dasselbe Ziel sucht nun zwar auch der freiconservative Wahlaufruf zu erreichen, aber auf eine un gleich höflichere Weise. Der Aufruf spricht im Anfang da von, daß die freiconservative Partei die Ausgleichung und Vermittelung der Gegensätze zwischen den Conservativen und den gemäßigten Liberalen angestrebt habe, und spricht an seinem Schluffe von der Nothwendigkeit der Abwehr rück schrittlicher Bestrebungen. Besonders bemerkenswcrth ist der Abschnitt über die Volksschule, der sich wesentlich von dem deS konservativen Ausrufs unterscheidet: „Wir halten unverbrüchlich fest an den Grundsätzen, welche unsere Partei seit einem Menschenalter in Bezug auf das Verhältniß des Staates zu Schule und Kirche vertreten hat. Die Erfahrungen seit dem Scheitern des letzten Entwurfs eines allgemeinen Schulgesetzes haben gezeigt, daß der konfessionelle Charakter unserer Volksschulen und die in der Verfassung gewähr eistete Einwirkung der Kirche aus diese unter Wahrung ihres Charakters als Veranstaltung des Staates auch ohne neue -gesetzliche Vorschriften aus dem Wege der Ver waltung gesichert werden kann. Um so weniger darf die gerechte Ordnung der Schulunterhaltungspflicht, 'deren Dringlichkeit allgemein anerkannt ist, dadurch in eine unge wisse Zukunft verschoben werden, daß sie mit der Lösung derjenigen Streitfragen verknüpft wird, an denen jener Gesetzentwurf gescheitert ist." Bei der Beurtheilung von Wahlaufrufen und bei der Entschließung über die Stellung zu den Parteien, von denen diese Aufrufe ausgehen, ist es aber geboten, sich der Ver gangenheit zu erinnern und sich zu vergegenwärtigen, wie die betreffende Partei in concreten Fällen sich verhalten hat. Und da kann man sich nicht verhehlen, daß die preußischen Freiconservativen in der abgelaufencn Legislaturperiode keines wegs immer als Vermittler der Gegensätze zwischen den Conservativen und den gemäßigten Liberalen und als Ab- wehrer rückschrittlicher Bewegungen bewährt haben. Die Vereinsgesetznovelle und fast noch mehr der Assessoren paragraph haben eine breite Kluft zwischen den Frei conservativen und den Nationalliberalen in Preußen auf- gethan. Die Letzteren werden unter allen Umständen versuchen müssen, die Möglichkeit einer Durchführung des Assessorenparagraphen im neuen Abgeordnetenhause zu verhindern, denn mit diesem Paragraphen würde die Justiz ebenso einzelnen bevorzugten Ständen ein geräumt sein, wie es die Verwaltung schon längst ist. Berücksichtigt man, wie bei der Besetzung von Verwaltungs stellen selbst der gemäßigte Liberalismus geflissentlich über gangen wird, so wird man begreifen können, daß die National liberalen Gründe triftigster Art haben, in der Justiz nicht ähnliche Zustände eiutreten zu lasten. Und nach den Er fahrungen der letzten Jahre werden sie verlangen dürfen, daß die Freiconservativen nach den Wahlen und durch die Tbat den Beweis führen, daß sie „rückschrittliche Be strebungen" abwehren wollen; vor den Dahlen werden sie dafür sorgen müssen, durch eine möglichst starke eigene Vertretung im Abgeordnetenhause, wie für vieles Andere, so auch Gewähr dafür zu schaffen, daß es den Freiconservativen möglichst leicht wird, sich als Mittelparlei zu fühlen und zu bethätigen. Das officiöse Wiener „Fremdenblatt" bespricht die an einigen Punkten der österreichischen Monarchie gegen italienische Arbeiter begangenen Ausschreitungen, die leicht und rasch hätten unterdrückt werden können, weil sic keinerlei Unterstützung bei der eigentlichen Bevölkerung gefunden hätten, in der für nationale Gehässigkeit, besonders gegenüber dem befrenndeten italienischen Volke, kein Raum sei. In der Bevölkerung bestehe über das correcle Verhalten der österreichischen Regierung kein Zweifel. Was das Blatt ver anlasse, auf die jedenfalls verdammenswerthen Ausschreitungen zurückzukommen, sei die bedauerliche Uebertreibung und Entstellung der Vorfälle in einem großen Theile der italienischen Presse. Das Blatt ist überzeugt, daß auch die besser unterrichtete italienische Regierung diese Ueber- treibungcn beklage, und kann nur wünschen, die öffentliche Meinung Italiens möge sich nicht zu der Annahme verleiten lassen, die Italiener seien in Oesterreich-Ungarn auch nur um ein Haar weniger geschützt, als die Bürger Oesterreich- Ungarns. Die Beziehungen zwischen den Cabinetten Oester reich-Ungarns und Italiens seien so innig und vertrauensvoll, daß sicherlich kein Raum für Besorgnisse vorhanden sei. Die Beziehungen zwischen beiden verbündeten Staaten könnten durch die künstlich erzeugte Aufregung nicht getrübt werde:». Jetzt, wo eS wieder zweifelhaft geworden scheint, ob es zur Rcvifion dcS DreyfuSprocesseS kommt, machen gleichzeitig „Mat'n" uno „Petitc Röpublique" darauf aufmerksam, daß das Geständniß Henry S allein genügend sei, um die Revision unbedingt nöthig zu machen. Nach § 443 der Proceßordnung ist nämlich die Revision gerechtfertigt, wenn nach der Ver- urtheilung irgend ein Zeuge deS Meineids zum Schaden deS Verurtheilten überführt wird. Als Kammer und Senat 1895 den Gesetzentwurf über die Revisions-Bestimmung beriechen, enthielt diese Bestimmung folgenden Zusatz: „Der An spruch auf Revision besteht auch dann, wenn der betreffende Zeuge nur verdächtig des Meineids ist, aber wegen Todesfalls, Verjährung u. s. w. nicht verfolgt werden konnte." Der Berichterstatter deS Senats, der jetzige Minister Godin, sowie der Berichterstatter der Kammer, Verenger, erklärte» sich für die Streichung des Zusatzes, weil diese Even tualität nach der Voraussetzung des Hauptsatzes selbst verständlich sei. Verenger schloß seine Begründung in der Kammer mit den Worten: „Jede gegentheilige Interpretation wäre eine Auflehnung gegen das Gesetz." Da die Parla- mentSreden als Motive für die Auslegung deS Gesetzes gelten müßten, so unterläge es nach dem „Malin" keinem Zweifel, daß der Cassationshof die Revision beschließen werde, weil Henry'S Zeugniß vor dem Dreyfus-Kriegsgericht durch seine spätere Fälschung verdächtig geworden sei. Wenn eS sicn übrigens bewahrheitet, daß Esterhazy und nicht DreyfuS daS Bordereau geschrieben hat, so ergiebt sich daraus gleich zeitig, daß Patu de Clam, der Untersuchungsrichter im ProceßDreysus, vor dem Esterhazy-KriegSgericht einen Mein eid geschworen hat, indem er erklärte, das Bordereau sei von der Hand DreyfuS'. Der Beweis ergäbe sich auS dem Briefe, den, wie gemeldet, Esterhazy während der gegen ihn eingeleiteten Untersuchung an Patu de Clam schrieb: „Falls Sie Ihrer Schriftsachverständigen nicht sicher sind, werde ich sagen, daß man meine Schrift nachgemacht hat." Unter diesen Umständen erklärt eS sich auch, daß Patu de Clam sich in Frankreich unsichtbar gemacht hat. In China ist es selbstverständlich, daß innere oder äußere Krisen von Cbristenverfolgungen und Fremdenmafsacrcu begleitet sind. So sind auch jetzt anläßlich der Entthronung des Kaisers und der Aufstände im Süden und Westen des Reiches amerikanische Missionare insultirt und wiederholt Mitglieder fremdländischer Mächte thätlich auf offener Straße in Peking beleidigt worden. Der Fremdenhaß ist noch im Wachsen begriffen und am Montag sind deshalb zum Schutze der russischen und der englischen Gesandtschaft dreißig Kosaken und ebenso viele englische Marinesoldaten in der Hauptstadt des himmlischen Reiches eingetrvffen. Das hat gewirkt. Wie man uns aus Peking berichtet, hat daS Tsung li Damen vollständige Entschuldigung wegen der jüngsten Aus schreitungen geboten. An der Stelle, wo die Beschimpfungen von Europäern vorzefallen sind, werden acht der Angreifer öffentlich ausgestellt, die schwere Straf kragen, in die Kopf und Hände eingespannt werden, auf den Schultern tragen. Vorn ist die Inschrift angebracht: „Bestraft wegen Angriffes auf Europäer". Zur Aufrecht erhaltung der Ordnung sind mehrere Regimenter nach Peking geschafft worden, worauf keinerlei Ausschreitung mehr vor gekommen ist. Fremde, auch deutsche Kriegsschiffe sind nach Taku unterwegs, um Truppen zu landen fin den Fall, daß die Excesse sich erneuern sollten. Aber nicht bloS um den Schutz ihrer Staatsangehörigen handelt es sich bei den „Vorsichtsmaßregeln" Rußlands und Englands. Letzteres macht sich in aller Stille in Wei-Hai-Wei und in Hongkong kriegsbereit und ersteres zieht erhebliche Truppen- contingente in Port Arthur, besten Befestigungen ihrer Vollendung entgegengehen, zusammen. So ist der un umgängliche russisch-englische Zweikampf in Ostasien wieder ein Stück näher gerückt. Ter Londoner „Standard" stößt ja schon in die KriegStrompete und droht Rußland mit einem deutsch-englischen Schutz- und Trutzbündniß. Die größte Seemacht, sagt der „Standard", und die größte Militairmacht der Welt würden Zusammengehen, WaS mau als heilsame Warnung beachten möge. Diesem groben Un fuge, der hier von englischer Seite mit dem deutsch-englischen Abkommen getrieben wird, kann nicht früh genug und nicht energisch genug gegenüber getreten werden. Es ist ja freilich zu erwarten, daß die russische Regierung zwischen der Droh note einer englischen Zeitung und einer solchen der eng lischen Regierung einen Unterschied zu machen weiß, und daß sie, selbst wenn sie einen officiösen Ursprung der „Standard"- Note annimmt, sich darüber klar ist, daß die englische Re gierung nicht die deutsche ist und nicht daS Recht hat, im Namen Deutschlands zu drohen. Dies kann man, wie gesagt, als sicher vorauSsetzen, aber eS empfiehlt sich trotzdem, mög- F-ttilletsn. Die kleine Lulu. 3s Seeroman von Clark Russell. Nachdruck «erboten. Ich gelangte auf meinem Wege zunächst an die Werften. Diese waren groß, und die Molen erstreckten sich ein beträchtliches Stück in die See hiüein; sie gewährten einen schönen Nothhafen sür schlechtes Wetter. Die Quais, nahe an der Stadt, waren hauptsächlich von Schiffen besetzt, Re Kohlen ausluden oder Ballast einnahmen. An manchen Stellen arbeiteten Dampf krahne, und eine Menge Schiffe, drei Reihen nebeneinander, lagen an der südlichen Mole, mit Leichtern längsseits der äußeren Reihe. Einige Schmacken fuhren aus dem Hafen; ein paar Dampfschiff« machten Dampf auf und sandten dichte Wolken schwarzen Rauches in das reine Blau des Himmels. Der ganze Platz war voller Geschäftigkeit, und von da aus, wo ich stand, ungefähr in der Mitte des westlichen Hafendammes, übersah das Auge ein so heiteres, sonniges Bild, daß es das niedergeschlagenste Herz mit Freudigkeit und Hoffnung erfüllen mußte. Mit zärtlichem Blick betrachtete ich die alte Stadt, sie war ja mein Geburtsort. Ich konnte das Dach des Gebäudes sehen, wo ich in die Schule gegangen war. Hier an der Werft angelte ich oft einen ganzen Nachmittag über; ohne mich zu rühren, saß ich dabei auch selbst im stärksten Regen, und war glücklich, wenn ich einen Aal fing. Nicht ein Steiir war hier, an den sich nicht irgend eine Erinnerung geknüpft hätte. Wie oft hatte diese Stelle auf See meinem Geiste vorgeschwebt, wie oft war ich während der dunklen Nachtwachen in Gedanken durch die engem Straßen gewandert bis hinauf auf die sonnigen Wiesen, auf denen ich mich als Knabe, auf dem Rücken liegend, unter Butter blumen gesonnt hatte. Ja, das waren schöne Träumereien ge wesen; aber wie oft war ich aus ihnen auch jäh aufgeschreckt worden durch eine Welle, die plötzlich über mich hinstürzte oder durch den barschen Ruf, Segel zu kürzen. Ich blickte auf die verschiedenen Schiffe im Hafen mit kriti schem und — ich gestehe es — auch etwas verächtlichem Auge. Meine letzte Reise hatte ich auf einem Schiffe gemacht, groß genug, dclß eins dieser Fahrzeuge ihm als Langboot hätte dienen können. Große Schiffe haben die Eigenthümlichkeit, zu bewirken, -aß Tiner, der an sie gewöhnt rst, naserümpfend auf Topsegel- Schooner und Dreihundert-Tonnen-Barken herabsieht. Da be merkte ich auf einmal eine Brigg, welche dicht am vordersten Theil des gegenüberliegenden Hafendammes lag, die meine Ve rwunderung erregte. Es war ein wahres Muster von einem Schiff, es schien mir fehlerlos. Der Bug war rein und scharf, das Brustholz des Gallons eine anmuthige Bogenlinie, mit einem schönen Schwung nach hinten; die leichte Schwellung deutete auf Dauerhaftigkeit; um den schwarzen Rumpf lief ein weißer Strei fen; den Bug schmückten hübsche, vergoldete Verzierungen, die das Schiffsbild, ein weiß gemaltes Meermädchen, umgaben. Dieses Bild stand sehr im Contrast zu den geschmacklosen Gallons der anderen Schiff«, von denen die meisten ganz roh gearbeitete, fleischfarbig gemalte Frauengestalten waren, ja, eins sogar einen Mann in hellblauem Rock mit großem schwarzen Hut darstellte. Ohne Zweifel sind die Schiffsbilder der Franzosen Meisterstücke gegen die unsrigen. Ich war überzeugt, daß Bayport nicht der Bestimmungsort der Brigg war. Einige Matrosen waren eben beschäftigt, die zerbrochene Vorbram-Raa auf.Deck herabzulaffen. Dieser Un fall war wahrscheinlich bei einem Zusammenstoß geschehen, und vermutlich war auch bei derselben Gelegenheit ihre Seite berieben worden, denn ein Schiffsjunge war auf einem kleinen Gerüst am Backbordbug mit Anstrcichen beschäftigt. Außer der Verletzung dieser Raa, welche in der Mitte so rein durchgebrochen war, wie ein« Tabakrolle, erschien die Takelung des Schiffes so vollendet wie die eines Kriegsfahrzeuges. Es hatte in der That gewisser maßen das Ansehen einer Marine-Brigg. Ihre Tops waren stark, sie hatte kurze Reulstengen, lange Raaen, und war breit gebaut, was ihrem unteren, stehenden Tauwerk eine große Aus dehnung gab. Ich dachte, unter vollen Segeln müßte sie ein schönes Bild gewähren, und mein geistiges Auge sah sie vor sich, wie sie unter aller Leinwand, jedes Segel voll und steif, in einer mondhellen Nacht in den Tropen leise rauschend die Wogen durchschnitt. Andere Dinge, die bald mein Auge fesselten, trieben mich weiter und ließen mich bei den mir immer von Neuem entgegen tretenden Erinnerungen die Brigg schnell vergessen. Ehe der Tag zu Ende war, hatte ich den Entschluß gefaßt, am folgenden Montag nach London zu fahren, um mir dort eine Hängematte an Bord irgend eines Schiffes, das nach Indien oder China gefruchtet hatte, zu suchen. Ich war ganz fähig, einen tüchtigen Bollmatrosen abzugeben, denn groß und stark, gewandt im Takelwerk, kannte ich alle zu verrichtende Arbeit so gut wie meine Tasche. Wenn ich mich als solcher verheuerte, hatte ich die Aussicht, drei Pfund fünfzehn Schilling im Monat zu verdienen, so daß ich am Ende einer zwölfmonatigen Reise Geld genug haben konnte, um mich einige Wochen am Lande zu erhalten. Während dieser Zeit durfte ich dann hoffen, die Prüfung als zweiter Maat abzulegen und eine Anstellung als solcher zu finden. Nach Fassung dieses Entschlusses fühlte ich mich ruhiger. Den Nachmittag brachte ich damit zu, mich weiter in der Stadt umzusehen und den Kirchhof zu besuchen, auf dem mein Vater begraben lag. Ich fand den Gram der Wittwe in einem ganz erbärmlichen Stein und einem ebenso vernachlässigten Grabe ausgedrückt. Aber natürlich, zu Blumen für das Grab langte es ja nicht mehr, im Knopfloch von Lickwatcr machten sie sich besser, und dann, der Todte war ja keiner Empfindung, mit hin auch keiner Dankbarkeit mehr fähig, der Aufwand für die Pflege des Grabes wäre also die pure Verschwendung gewesen. Da konnte das Geld denn doch nützlicher und angenehmer beim Fleischer oder im Wirthshaus ausgegeben werden. Als ich den Kirchhof verließ, wünschte ich recht inbrünstig, daß mir Lickwater einmal auf See begegnete; — wie hätte ich ihn empfangen wollen! — Ich malte mir den Genuß in allen Farben aus. Als ich in dieser liebevollen Stimmung dem Hafen zuschlen derte, bot sich mir plötzlich ein Schauspiel, das meine Gedanken völlig abzog. An der Ecke einer Straße, welche in die Haupt straße mündete, lag ein gut aussehendes Gasthaus. Der Thür gegenüber hatten sich vier Negermusikanten aufgestellt. Einer hatte «ine Flöte, zwei spielten die Geige und der Vierte ließ sich auf der Guitarre hören. Die Flöte und eine Fidel waren am meisten betrunken; letztere gehörte ausnahmsweise einem wirklichen Neger, die Anderen hatten das Land der Schwarz«» nie gesehen. Ich blieb stehen, um zuzuhören, ein Haufe Seeleute verstopfte den Thovweg des Gasthauses und «ine Menge Menschen stand auf der Straße. Der Neger setzte den Bogen an, da er aber zu betrunken war, spielte er falsch und ohne Tact, gleich dem Flötisten, welcher un sicher auf seinem Instrumente herumfingerte und wohl fühlte, daß keine Harmonie zu Stande kam, doch aber zu benebelt war, um herauszuhörrn, wie er sie firknn könne. Es lag etwas un gemein Komisches in d«m Ausdruck dieser beiden Gesichter und in den zornigen Blicken, die ihre Geehrten ihnen zuschleu derten. „Warum hältst Du nicht Tact, Du Dieb?" schrie der zweite Geiger den Neger an. „Wie, Du mich nennen Lieb?" erwiderte der Neger, der seine Geige in ihrer Lage behielt, aber den Bogen absetzte und mit rollenden Augen seinen Kameraden ansah. Der Streit brach augenblicklich los. Der Neger schlug mit dem Bogen nach seinem Beleidiger, und der Guitarrenspieler brüllte: „Wat, Du willst min Braudrr wurden!" — und krach, schlug er seine Guitarre dem Neger auf den harten Wollschädel, daß dieser auf der anderen Seite wieder herausfuhr. Fast in dem selben Augenblicke schwebte auch schon die andere Geige über dem unglücklichen schwarzen Haupt und sauste nieder. Ihr Boden brach ein und klemmte sich auf der Hirnschale des Negers fest. Nie gab es einen komischeren Anblick als diesen Nigger, in der Guitarre wie in einem Halseiscn steckend, und die Geige wie einen Hut auf seinem Kopfe. Aber der wenigst verwundbare Theil seines Körpers war attackirt worden; in einem Augenblicke hatte er sich gebückt, dem Einen seine Geige in die Rippen ge stoßen und dem Anderen di« Krone, die ihm Aufgesetzt worden war, an den Kopf geschleudert. Hiernach emstand ein allge meines Raufen; Alle fielen zur Erde, sprangen aber gleich wieder auf, balgten sich weiter und bahnten sich hierbei, unter dem Ge heul und Gelächter der Menge, einen Weg in das Gasthaus, wo das Geklirr zerbrochener Flaschen und Gläser die Fortsetzung des Kampfes hören ließ. Der Wirth brüllte aus dem oberen Fenster nach der Polizei; das Volk drängte den Kämpfenden in die Thür des Gasthauses nach, um den Spaß weiter mit anzusehen, zerstob aber wie Spreu vor dem Winde, als der Neger mit dem Wrack der Guitarre um den Hals, verfolgt von seinen Genossen und einer ganzen Schaar von Matrosen, herausstürzte. Alles stürzte nun die Straße entlang, und in wenigen Augenblicken war der ganze Haufen meinem Auge entschwunden. Bekannte in Bayport aufzusuchen, hatte ich keine Lust. Es genirte mich, daß mein Vater eine gewöhnliche Schneiderin ge heiratet hatte; außerdem war ich aber so gut wie ein Bettler und konnte nicht wissen, welcher Empfang mir werden würde. Dieser Gedanke erschreckte mich. Seeleute sind in der That die empfindlichsten Menschen der Welt, aus Gründen, auf die hier näher einzugehen mich zu weit führen würde, und ich war keine Ausnahme von der Regel. So kehrte ich also nach dem Gasthaus zurück, mit der Absicht, den Abend im Rauchzimmer zu verbringen. Am nächsten Tage wollte ich mir eine richtige Vordercastell-Ausrüstung besorgen und mich am Montag nach den Ost-End"Docks begeben. Als ich mich dem „Weißen Hirsch" näherte, bemerkte ich die brünette Schönheit, deren Augen mich am Morgen be-
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