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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.10.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189810094
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18981009
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18981009
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-09
- Monat1898-10
- Jahr1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.10.1898
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: BormittagS 10 Uhr. Morgen. Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Berlag von E. Polz in Leipzig. 513. Sonntag den 9. October 1898. S2. Jahrgang. Äus -er Woche. Die Minister sind vollzählig in Berlin. Diese That- sache würde anderwärts viel bedeuten, im heutigen Preußen bedeutet sie wenig, und es beruht auf der Absicht, sich selbst oder Andere zu täuschen, wenn ein Berliner Blatt deshalb, weil die Orientreise des Kaisers den Verkehr mit den verantwortlichen Räthen erschwert oder unmöglich macht, die Kaiserfahrt bedenklich findet. Ganz abgesehen davon, daß schon seit Monaten nur sehr geringe persönliche Be rührungen deS Monarchen mit Ministern stattgefunden haben, auch wenn der Kaiser in Berlin oder Potsdam weilte, ist der Einfluß der Minister entweder gleich Null oder nur so weit zugelassen, als es der Krone er wünscht scheint. Bismarck hatte, wie immer, richtig beobachtet, als er das Wort sprach, Wilhelm II. berathe seine Räthe, nicht diese ihn. Aus diesem Grunde ist die in einem Münchner Blatte laut gewordene Klage über häufigen Absentismus der Minister ebensowenig verständlich, wie die Genugthuung, die eine andere Zeitung darübert äußert, daß der Kaiser auf der MorgenlandSreise von Herrn v. Bülow begleitet sein wird. Das sind nachgerade fast ganz gleichgiltige Nebenumstände geworden. Um so gegründeter erscheint die Besorgniß wegen des kaiserlichen Unternehmens überhaupt. Mit der Bekundung dieser Sorge wagen sich immer mehr Blätter heraus, wie wir mitgetheilt, auch die gegenüber kaiserlichen Entschlüssen besonders vorsichtige „Kreuz zeitung", die eine Reihe geradezu düsterer Möglichkeiten inS Auge faßt. Wir theilen die Sorgen des Blattes und stimmen auch darin mit ihm überein, daß es etwaige üble Folgen auf das Haupt Derjenigen fallen lassen will, „die vor dem deutschen Volke die moralische Ver antwortung der Reise tragen". Nur daß wir glauben, eS habe vor dieser wie vor anderen wichtigen Entscheidungen für die Minister nur ein Mittel gegeben, die Verantwortung abzu wälzen: den Rücktritt. Eine der gehegten Befürchtungen, die wegen der persönlichen Sicherheit des Kaisers, ist neuerdings verstärkt worden durch Mittheilungen, die der „Nat.-Zlg." über die Ansammlung deutschen Gesindels in Jerusalem von dort zugegangen sind.Daß alle erdenklichen Sicherungsmaßregeln vorbereitet worden sind,versteht sich von selbst, und es ist mehr als Dreistigkeit, wenn der„Vorwärtü" angesichts jener Vorkehrungen höhnisch den Vers der Nationalhymne: „Nicht Roß, nicht Reisige schützen die steile Höh', wo Fürsten stehen", citirt. In einem Augenblicke, wo auf dem Parteitag der deutschen Socialdemokratie die Schandthat eines Luccheni beschönigt worden ist, bedarf der deutsche Kaiser deS äußeren Schutzes gegen Menschen, die die leicht mißzuverstehenben Worte des Herrn Liebknecht in der That mißverstanden haben könnten. Ganz spurlos scheinen denn auch die Kundgebungen der Besorgniß in der Presse an der maßgebenden Stelle nicht vorübergegangen zu sein, denn ein bereits in einem Tbeile der Auflage unseres letzten Abendblattes mitgetheiltes Tele gramm deS officiösen Wolff'schen Telegraphen - Bnreaus meldet: Die kürzlich in auswärtigen Blättern versuchten Ausstreuungen, als könne die Reise des Kaisers nach Konstantinopel und Jerusalem eine Verzögerung erleiden oder überhaupt aufgegeben werden, sind ebenso unbegründet, wie die noch immer andauerden Bemühungen gewisser fremder Organe, den Charakter dieser Reise politisch zu entstellen. Hingegen hat gutem Vernehmen nach der Kaiser, von dem Wunsche geleitet, bei der Wichtigkeit der in Aus sicht stehenden Vorlagen die parlamentarischen Arbeiten in Deutsch land keinerlei Aufschub erleiden zu iassen und den Reichstag in Person zu eröffnen, den Entschluß kundgegeben, aus den Ab- siecher nach Egypten zu verzichten. Gleichzeitig mit dem preußischen Ministerium ist auch der Bundcsralh zusammengetreten und hat sich in seiner ersten Sitzung mit dem durch die Oeynhausener Rede brennend ge wordenen Gegenstände richtig nicht beschäftigt. Die Geduld bleibt weiter auf die Probe gestellt und dies auch binsichtlich des deutsch-englischen Abkommens über die Delagoa- bai. In dieser Richtung ist bisher weiter nichts geschehen, als daß der Vorwurf, der gegen die für Deutschlands Zu kunft auf dem Wasser kämpfende deutsche Presse erhoben wor den war, ofsiciös zurückgenommen worden ist. Das ist — für die Regierung um so angenehmer, als die deutsche Colonial gesellschaft, an deren Spitze ein deutscher Regent steht, mittlerweile dasselbe gesagt hat, was die unabhängigen Zeitungen äußerten. Die Zusammensetzung der Colonial gesellschaft hält auch die ständig oder all koe in den Dienst der Regierung gestellten Blätter davon ab, über die Eingabe der Gesellschaft so berzufallen, wie über die freimüthige Presse, deren stille Verachtung die ganze Woche hindurch durch den Vorwurf der Quertreiberei, der Wahrung — englischer Interessen u. dgl. m. herausgefordert worden ist. Kläglicher als diese Sorte Zeitungen kann das Abkommen mit England auch im schlimmsten Falle nicht siin. Freilich ein schwacher Trost. Durch Professor Schmoller ist der alte Streit über die Träger der Verantwortung für die Nichtverlängerung des SocialistengesetzeS erneuert worben. Der Gelehrte schiebt sie dem Fürsten BiSmarck zu, und Herr v. Helldorf- Bedra, der Führer der Conservativen im Winter 1889/90, der von anderer Seite verantwortlich gemacht wurde, tritt ihm in einer längeren Erklärung thatsächlich, wenn auch nicht ausdrücklich bei. Der Streit ist müßig, weil längst ent schieden durch die Thatsache, daß der Kaiser nach einem die Beseitigung des Gesetzes empfehlenden Vortrage des da maligen Frankfurter Oberbürgermeisters vr. Miquel die Worte sprach: „Ganz meine Meinung." Diese Ansicht des Monarchen war den Conservativen bekannt, und hier liegt vielleicht der Schlüssel Mr ihr Verhalten. Sie ließen bekanntlich das von den Nationalliberalen amendirte Gesetz, angeblich wegen dieser Aenderungen, fallen und so daS noch vorhandene Vacuum entstehen. Die Bestätigung des zum Oberbürgermeister von Berlin gewählten Herrn Kirschner und die des zum dortigen Stadtrath präsentirten freisinnigen ReichtagS- abgeordneten Kauffman steht noch immer aus — sehr zum Erstaunen auch nicht freisinniger Kreise. Was Herrn Kauff- man's Bestätigung angeht, so war gesagt worden, daß sie auf Schwierigkeiten stoße, weil Kauffman vor 17 Jahren als Osficier des Beurlaubtenstandes den „schlichten Abschied" erhalten habe. Diese Angabe wird jedoch zutreffend als unrichtig be zeichnet. Ein Ehrengericht batte im Jahre 1882 allerdings auf Entlassung mit schlichtem Abschied erkannt und zwar wegen Kauffman's politischer Thätigkeit. Der Kaiser hat diesen Spruch aber nicht bestätigt, sondern den einfachen Abschied ertheilt. Kauffman hat sich dann auch später auf die allge meine Aufforderung hin bereit erklärt, in den Landsturm als Osficier einzutreten, und diese Erklärung ist unbeanstandet geblieben. Im klebrigen erinnert die Wiederaufwärmung dieser 17 Jahre alten Geschichte au die Thatsache, daß ein wegen Verleumdung des Fürsten Bismarck gerichtlich bestrafter und dadurch seines Officierscharakters verlustig gegangener Herr, der bekannte v. Diest-Daber, vor etwa einem Jahre wieder militairisch rehabilitirt worden ist. Deutsches Reich. Berlin, 8. October. (Umsturz innerhalb der Socialdemokratie.) Haben in der Dienstags-Sitzung des socialdemokratischen Parteitages namhafte „Genossen" wichtigste Bestandtheile der socialdemokratischen Theorie und der socialdemokratischen Praxis unbewußt an den Pranger gestellt, so warf in der DonnerStagS-Sitzung „Genosse" Schippet absichtlich grundlegende Stücke des socialdemokratischen Dogmas über den Haufen, nämlich die Lehre von der Unvereinbarkeit der Schutzzoll politik mit den Interessen des Proletariats, die Lehre von de. Gleichheit der Interessen dcc Arbeiter aller Länder und die Lehre von dem absoluten Gegensätze zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. In Bezug auf diese Puncte trug Schippet natürlich nichts vor, was nicht die bürgerlichen Nationalökonomen, soweit sie der historisch ethischen Schule angehören» längst gesagt haben. Auch gestalte e ihm das Aedürfniß nach classenbewußter Agitation nicht, aus der Billigung der Schutzzölle für die Industrie die entsprechende Folgerung für die Landwirthschaft zu ziehen. Trotzdem ist seine sechs Spalten des „Vorwärts" füllende Rede überaus wcrthvoll als eine socialdemokratische Urkunde, welche die Hohlheit der socialdemokratischen Doctrin und der socialdemokratlschen Agitation geradezu handgreiflich nachweist. Mau muß anerkennen, daß Schippet Niemand geschont und sich vor nichts gescheut hat, um den industriellen Schutz zoll zu rechtfertigen; ging er dock über den Parteigötzen Kart Marx zur Tagesordnung über und fckreckte er doch selbst davor nicht zurück, den Fürsten Bismarck gegen die den „Genossen" wie den Freisinnigen geläufige Anschul digung in Schutz zu nehmen, daß er den Schutzzoll erfunden, ihn ins Maßlose getrieben und die anderen Länder in den Schutzzoll bineingezwungen habe. „Die Schutzzölle waren längst da." .... „wir haben immer einen relativ mäßigen Schutzzoll in Deutschland getrieben" — erklärt Schippel. WaS sagen die Herren Richter und Barth zu diesem Be- kenntniß? Unangenehmer noch werden jene NichtSalSfrei- händler den Nachweis empfinden, daß aus einem Ausspruche von Karl Marx fälschlich gefolgert werde, wer für den Fort schritt ist, muß Freihändler, wer für die Reaction ist, muß Schutzzöllner sein. Die freihändlerischen Sklavenhalter in der Union, die Baumwolle billig aus-, Industrieerzeugnisse billig einführen wollten; die deutschen feudalen Großgrund besitzer, die zur Zeit der ZollvereinSkämpfe Wolle, Getreide und Holz billig ausführen wollten, andererseits die deutschen liberalen Industriellen, die zur Entfaltung der deutschen In dustrie Schutzzölle forderten, werden von Schippel mit Recht zur Beleuchtung des erwähnten Trugschlusses angeführt. Folge richtig gelangt Schippel dann zu der Forderung, daß die Arbeiter von ihrem Classenstandpunct aus nur sagen können: „Wo die Industrie sich erst entwickeln soll, da sind die fortschrittlichen Elemente der Arbeiterklasse immer schutzzöllnerisch, wo die Industrie aber stark und mächtig ist, da werden sie immer freihändlerisch sein, aber internationale Freihändler können wir nicht sein." Folgerichtig giebt Sckippel an dieser Stelle zu, daß Interessengegensätze zwischen den Arbeitern verschie dener Länder, je nach der Entwickelung des einzelnen Landes, vorhanden sind, während innerhalb des einzelnen Landes bas Interesse des Arbeiters zusammenfalle mit dem der In dustriellen. Schippel citirt alsdann socialdemokratische Aeußerungen, die bestreiten, daß der innere deutsche Markt ganz frei geöffnet werden könne, und beruft sich schließlich auf die Abneigung gegen die Kulis zum Beweise dafür, daß auch „einfache Parteigenoffen" schutzzöllnerische Anwandlungen haben. Wenn Schippel trotz alledem eine Resolution vor schlägt, die die Socialdemokratie, wie er selbst sagt, „gegen die Lebensmittelzölle festlegt", obwohl sie nickt die sofortige Aufhebung derselben verlangt, so liegt der Grund in dem Geständniß: „Fällt die Landwirthschaft, dann wird die In dustrie um so mächtiger." Ob das der Gesammtheit frommt, kümmert den „Genossen" Schippel nicht; dem socialdemo- kratischen Parteiinteresse ist damit gedient — daS genügt! x Berlin, 8. October. (Di eBerlinerPolizei und das Gericht.) Der socialdemokratische Reichstagsabgeordnete Stadthagen, angeklagt wegen mehrerer Beleidigungen gegen die Polizei, ist, wie bereits gemeldet worden, in den wesent lichen Puncten freigesprochen und nur in einem Puncte, auf den wir weiter zurllckkommen werden, zu einer Geldstrafe vcrurtheilt worden. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß diese Frei sprechung, noch dazu mit der ihr vom Gerichtshöfe gegebenen Motivirung,vonden„Genoffen" auf das Gründlichste ausgebeutet werden wird. Und man muß leider zugeben, daß sie in diesem Falle ein gutes Recht dazu haben. Es wäre an sich schon eine schwere Beleidigung, an der Objectivität des Gerichtshofes zu zweifeln, es wäre aber in diesem Falle obendrein eine Dummheit, Feuilleton. Ein entthronter Kaiser. Unerhörte Dinge sind in Peking, der Hauptstadt des Himmlischen Reiches, vorgegangen. Kwang-Su, der Sohn deS Himmels, der Herr der zehntausend Jahre, dessen Name, wörtlich übersetzt „Glänzender Erfolg" oder „Fortsetzung veS Glanzes" bedeutet, ist auf böchst unrühmliche Weise vom Schauplatz verschwunden und die Kaiserin-Wittwe, die kluge und einflußreiche und trotz ihrer 63 Jahre noch höchst energische Tsu-Hßi hat ihren Adoptivsohn kurzer Hand vom Thron gestürzt, die Zügel der Regierung selbst in die Hände genommen, und man weiß nicht, was aus dem Kaiser selbst geworden ist. Nach der einen Version soll er als „Mitregent" rin nur nominelles Schattendasein führen, nach einer anderen soll ihm Gift beigebracht worden sein und er langsam dahin sterben, nach einer dritten endlich soll der unglückliche Monarch bereits auf grausame Weise — es heißt, ein glühendes Eisen sei ihm in den Leib gestoßen wodden — sein junges Leben haben lassen müssen. Alle- ist noch in geheimnißvolleS Dunkel gehüllt und auch über die Motive der Pekinger Palastrevolution gehen die Ansichten auseinander. Die neueste LeSart ist die, der Kaiser habe sich jüngst zu dem Entschlüsse aufgeschwungen, die Kaiserin-Wittwe zu beseitigen, um daS mächtigste Hinderniß seiner Reformpläne auS dem Wege zu räumen. Er hatte nach einer Darstellung des „Shanghai Mercury" einen ge wissen Jüan ShiSkaiS in sein engstes Vertrauen gezogen, einen Mann, den er aus dem Staube emporgehoben und den er in treuer Ergebenheit und Dankbar keit an sich gefesselt zu haben glaubte. Diesem Jüan batte er schriftliche Befehle ertheilt, sich nach Tientsin zu begeben und von dort Truppen nach der Hauptstadt zu dringen. Mit diesen Soldaten sollte er dann den Palast der Kaiserin umzingeln und Ihre Majestät an einen Ort bringen, wo sie außer Stande sein würde, hindernd in die Durch führung deS kaiserlichen ReformplaneS einzugreifen. Juan zog eS indessen vor, sich mit der anderen Seite zu verständigen. Er zeigte in Tientsin dem dortigen Vicekönig den kaiserlichen Befehl und dieser Würdenträger benachrichtigte ungesäumt die Kaiserin-Wittwe, die nun in der Lage war, den Gegen streich mit überwältigender Schnelligkeit und Wirkung zu führen. Sie ließ den Kaiser zu sich entbieten und dieser leistete ahnungslos ihrem Rufe Folge. Bei seinem Erscheinen warf ihm die Kaiserin seine Hinterlist vor, beschuldigte ihn eines ver brecherischen Mangels an kindlicher Anhänglichkeit und Treue und grober Undankbarkeit, und als der Kaiser eine Ableug nung hervorstammelte, hielt ihm die erzürnte Frau seinen schriftlichen Befehl entgegen. Der Kaiser war im höchsten Grade bestürzt und verwirrt, und die Kaiserin erklärte streng, der einzig« Ausweg für ihn fei dort und deutete auf einen Becher, den Kwang-Su sofort ergriff und auf einen Zug auStrank. Der Becher soll natürlich Gift enthalten haben, allein der Berichterstatter deS „Shanghai Mercury" setzr selbst hinzu. Niemand sei im Stande, bestimmt zu zu sagen, ob der Kaiser wirklich todt oder noch am Leben sei. Die Schilderung deö Shanghaier Blattes ist sehr dramatisch, aber sie hat durchaus nichts Unwahrscheinliches an sich. Nach den ersten Meldungen war es dagegen die Kaiserin-Wittwe, welche die Initiative ergriff und ihrerseits unmittelbar nach dem Erlaß der letzten Reformedicte deS Kaisers ein Attentat auf diesen dadurch beging, daß sie ihn festnehmen ließ und ihn zwang, sie selbst um Uebernahme der Regierung anzufleben. Wie dem nun auch sei, sicher ist, daß die Reformpläne Kwang-Su'S der Anlaß zu den schweren Zerwürfnissen am Pekinger Kaiserhof gewesen sind. Zwar war die Kaiserin- Wittwe von jeher, namentlich unter dem Einfluß des be rühmten VicekönigS Li-Hung-Tschang, europäischen Reformen geneigt, aber der Kaiser batte seine Evicte unter dem Ein fluß von Rathgebern erlassen, die das Land den Japanern offnen, mit diesen ein Bündniß zu Stande bringen, d. h. China an Japan ausliefern wollten. Und sodann: Wie in Japan in den letzten dreißig Jahren eine Reform nach westlichem Muster die andere überstürzt hat, so wollte Kwang-Su, in jugendlichem Eifer sich überstürzend, mit einem Schlage Alles machen. Er verkündete den An bruch einer neuen Zeit, sie solle sofort beginnen, und schwere Strafen wurden den Vicekönigen und Provinzgouverneuren angedroht, die es wagen würden, die Sache zu verschleppen und langsam in veralteten Bahnen weiter zu wandeln. Kwang-Su wollte — bildlich geredet — den Chinesen den Zopf abschneiden, und zwar mit einemmale, und taS war sein Verhängniß. Londoner Blätter haben nun wieder holt gemeldet, der Kaiser habe ein Edict ergehen lassen, in welchem den Unterthanen deS Herrschers aus dem Drachen thron nicht nur die Anlegung europäischer Tracht, sondern auch die thatsächliche nicht nur die bildliche Entfernung deS Zopfes anbesohlen wurde, das habe einen Sturm ter Entrüstung im ganzen Reiche entfacht und die Kaiserin- Wittwe habe, um der Mandschu-Dynastie den Thron zu retten, nicht anders gekonnt, als den kaiserlichen Revolutionair von demselben herab zu stürzen. Den Chinesen ihren Zopf nehmen, daS wäre allerdings ein todeswürdiges Verbrea-eu, eine „Reform", die durckzufübren kein Kaiser, und wäre er noch so mächtig, sich träumen lassen könnte, und deshalb darf man ein sehr großes Fragezeichen hinter vie in der englischen Presse, um den Reformeifer Kwang-Su'S lächerlich zu machen, geflissentlich verbreitete Nachricht setzen. Für uns fortgeschrittene Europäer mag es lächerlich klingen, daß der Haarzopf bei den Chinesen eine solche Rolle spielt, aber thatsächlich ist eS so: ohne Zopf kein I Chinese; er ist ihr größter Stolz und der hervorragendste »Gegenstand ihrer Eitelkeit. Bis gegen die Mitte veS 17. Iah,« I hundert- trugen die Chinesen ihr Haar ähnlich wie wir, und erst von der Vertreibung der angestammten Ming- Dynastie durch die Mandschuren stammt die Sitte, das Scheitelhaar zu einem Zopf zu pflechten. Die Mand schuren waren Zopfträger, und kaum hatten sie die Herrschaft über das gewaltige Cbincsenreich an sich gerissen, so machten sie den Zopf zum Zeichen der Unter werfung. Jeder Chinese mußte sich seinen Schädel mit Aus nahme des Scheitelhaares kahl rasiren und das letztere in einen Zopf flechten lassen. Die Barbiere im ganzen weiten Reiche wurden, wie E. v. Hesse-Wartegg in seinem berühmten Buche „China und Japan" erzählt, mit der Ausführung dieser kaiserlichen Verordnung betraut. Mit dem Rasir- mcsser in der einen und dem Schwert in der andern Hand durchzogen sie ihre Distrikte, und den Chinesen blieb die Wahl, ihr Kopfhaar ober ihren ganzen Kopf zu opfern. Es kam zu vielen Aufständen gegen die drakonische Maßregel und darum gerielh der erste Mandschu-Kaiser, einer der größten Herrscher, die China je gehabt hat, auf einen anderen friedlicheren Ausweg: er verord nete, daß Verbrecher, Sträflinge und die Angehörigen der geächteten VolkSclassen keinen Haarzopf tragen dürften. Dadurch machte er den Zopf zum Wahrzeichen der Ehrbar keit und des guten Bürgertbums, der Widerstand hörte auf und bald konnte man sich keinen Chinesen mehr ohne Zopf denken. An den Zopf, den wirklichen haargeflochtcnen, wird also Kwang-Su seinen Chinesen nicht gegriffen haben, aber sonst ist es seiner Energie Wohl zuzutrauen, daß er tabula ra^a hat machen wollen. Der entthronte Kaiser ist weit intelligenter uud actionslustiger als seine Vorgänger. Dem Aussehen nach ist er klein, mager, bartlos, mit cinem unverhältnißmäßig großen Kopf, dock machte er auf die wenigen europäischen Gesandten, die ihn zu sehen bekommen baben, einen sehr günstigen Eindruck. Daß er bestrebt war, sich über die Grenzen der Purpurstadt hinaus zu informiren, gebt auS vielen Thatsachen hervor. Er trieb mit Eifer das Studium der englischen Sprache. Vor nicht gar langer Zeit sandte ihm die Königin von England ein Exemplar der Lebensbeschreibung des Prinz-Gemabls Albert. Der Kaiser befahl sofort die Uebersetzung des Buches und konnte eS kaum abwarten, bis sie in seinen Händen war. Jetzt dürfte er das Buch im englischen Urtext zu lesen im Stande sein. Der Kaiser las stets die ihm zur Sanctionirung vorgelegten Berichte, und wo er Bestechlichkeit oder Nachlässigkeit der Beamten witterte, ließ cr sofort von den Censoren genaue Untersuchungen einleiten. Einmal stürzte er die ihm von der Peking Hanlin-Akademie unterbreitete Rangliste — es waren gerade exorbitante Bestecknngen der Examinatoren durch die Prüflinge vorgekommen — von unterst zu oberst; sechs Beamte, welche die Commission an die letzte Stelle gesetzt batte, erlangten die höchsten Ehren, andere, welch: in di« erste Classe ausgenommen worden waren, wurden in die dritte oder vierte gestellt, einige sogar ganz abgewiesen. Unter den Aspiranten befand sich auch Tsui-Kuo-)))in, der frühere chinesische Gesandte in den Ver einigten Staaten, ein angesehener ehrwürdiger Mandarin zweiter Classe und Lehrer deS kaiserlichen Thronfolgers. Seine Arbeit schien den Kaiser nicht befriedigt zu haben, denn es wurde ihm sein Mandarinknopf zweiter Classe und sein Rang als Lehrer entzogen. Auch sonst zeigte der Kaiser große Selbstständigkeit; daS Köpfen oder Degradiren der Generäle während der jüngsten Kriegsoperationen erfolgte direct auf seinen Befehl. Entgegen der Mehrzahl seiner Mandarinen drang er auf die Organi sation der Armee nach europäischen Muster „und — fügt Hesse-Wartegg hinzu — überlebt seine Dynastie die jetzige heftige Erschütterung (die Niederlage im Krieg mit Japan), so dürften bald bessere Zeiten für China kommen, voraus gesetzt, daß er nicht durch irgend ein Pülverchen vorher aus dem Leben geschafft wird." Das ist nun vielleicht geschehen. Der Kaiserin - Wittwe, hat der Kaiser stets große Ehr furcht entgegengebracht. Erst kürzlich ehrte er seine Tante durch die Verleihung zweier neuer Titel. Voll ständig lautet dieser nunmehr: Tzn-bat-tuan yu-Kang- i-tschao-yu-tschuang-tscheng-tschukung- tschin- bsien - tschang-hsi. Vor einigen Jahren theilte die „Pekinger Zeitung", das chinesische Amtsblatt, den folgenden kindlichen Tribut der Ehrfurcht des jungen Kaisers mit: Die übermenschliche Güte der Kaiserin-Wittwe ist hellleuchtend, ihre umfassende Voraus sicht gereicht dem ganzen Volke zum Nutzen. Durch ihren endlosen Fleiß in ihrem Palaste sichert sie den Frieden im ganzen Reiche. Seit unserer Thronbesteigung haben wir in ehrfurchtsvoller Hingebung beständig ihre bewundernswerthen Anweisungen erkalten. Mit großer Freude bemerken wir die kräftige Gesunkbeit und den Frohsinn Ihrer Allergnädigsten Majestät. Im Jahre 1894 wird Ihre Majestät glücklich das erhabene Alter von 60 Jahren erreichen, und eS wird Unsere Pflicht sein, an der Spitze der Beamten und des Volkes des ganzen Reiches Unsere innige Freude zu bezeugen und die Segnungen zu erflehen. Nun ist Haß nnd Feindschaft im Pekinger Kaiserpalaste eingekehrt, im Reiche erbebt der Aufruhr sein Haupt und an den ^boren Chinas lauern mächtige europäische Rivalen, nm ihre Hand auf Peking zu legen, wenn auch die energische staatskluge Kaiserin Tsu-Hsi, welche jetzt das Schicksal von 430 Millionen Menschen in der Hand hält, die Zügel ver lieren sollte. WaS kommen wird, liegt noch im Scbooße der Zukunft verborgen, aber mag auch früher oder später das englische oder das russische Banner über den Pekinger Kaiser palast gehißt werden und daS Alte stürzen, daS Letzte waS fällt, wird der — Zopf der Chinesen sein. —
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