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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 14.10.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-14
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981014011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898101401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898101401
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-14
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Reklamen unter demRedactionsstrich ^ge spalten) üO/ij, vor den Familiennochrichtei (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Preis- veTjeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung SO.—, mit Postbeförderung X 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abrnd-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» an df« Expeditta» zu richten. — Druck und Verlag von E. P olz in Leipzi» Z22. Freitag den 14. October 1898. 82. „Endziel" nnd. „Bewegung". HH Bei dem socialdemokratischen Parteitage hat eS eine »große" Debatte über di« Taktik gegeben. Vor wenigen Jahren hatte Bebel prophezeit, „der große Kladderadatsch" stehe vor der Thür. Seitdem haben die socialrevolutionairen Führer die Thorheit eingesehen, ihre Hoffnungen als unmittelbar bevor stehende Thatsach« in die Welt hinaus, also auch der Bourgeoisie in die Ohren zu schreien. Das Bürgerthum verstand die Warnung. Es nahm selbst die Abwehr in die Hand, für welche die Reichsgesetzgebung versagte. Die Organisation der Arbeit geber nahm den Kampf auf und darf auf anerkennenswerthe Erfolge Hinweisen. Natürlich ist damit aber der der bürgerlichen Gesellschaft und 'dem Staate aufgedrungene Kampf nicht beendet. Jenen taktischen Fehler, den Bebel gemacht, als er die Wider standskraft des Bürgerthums weckte und stählte, bemühten sich die socialdemokratischen Strategen inzwischen dadurch wieder gut zu machen, daß sie den Gegner, das ordnungsliebende Bürger thum, zu dupiren trachteten. Man wickelte die social- revolutionair - kommunistischen Grundsätze, das sogenannte „Endziel", fein säuberlich in Seidenpapier und steckte es in die Tasche. Natürlich nur, um bei passender Gelegenheit die „rothe Fahne" wieder zu entrollen und dann sagen zu können: Seht Ihr wohl, das sind die alten Lehren des „großen" Karl Marx, welche zu unserem Endziel führen, an denen wir un entwegt alle Zeit festgehalten haben. Inzwischen aber trat man „gemäßigt" auf, gab sich den Anschein, als ob man sich mit socialen und sonstigen Reformen im Rahmen der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung nothgedrungener Weise be gnügen wolle. Die socialdemokratische Strategie erzielte damit ebenfalls einen Erfolg. Man dupirte wirklich einen Theil des Bürger thums. Die bürgerliche Demokratie 'war von der „Mauserung" des socialrevolutionairen Bruders entzückt, weil sie ihn für ihre Wahlzwecke brauchte. . Bebel und Genoffen hatten also in die Abwehrphalanx des Bürgerthums einen Keil getrieben und somit ihren Zweck erreicht. Ohne Verzicht auf das „Endziel", dem der Kampf des Bürgerthums galt, hatte man die bürger liche Demokratie zu einer Art von Neutralitätsstellung bewogen. Wurde letztere an die Gemeinsamkeit aller bürgerlichen Interessen gemahnt und aufgefordert, am Abwehrkampf« theilzunrhmen so konnte sie sich mit der „Mauserung" entschuldigen. Diese Ent schuldigung haben wir seit Jahren gehört. Aber das gemäßigte Auftreten, die Mauserung war nicht nach dem Geschmack aller Genossen. Es gab Leute, welche die rothe Fahne nicht ver stecken, welche über das Endziel nicht schweigen, sondern laut davon reden wollten, weil sie eine Gefahr für dir socialrevolutio- naire Umsturzpartei darin witterten, die Massen daran zu ge wöhnen, daß eigentlich kein grundsätzlicher Unterschied mehr zwischen der „gemauserten" Socialdemokratie und der bürgerlichen Demokratie bestehe, höchstens noch eine Differenz des Temperaments. Diese Meinungsverschiedenheit über die Taktik spielt auf jedem Parteitage der Socialdemokratie ihre Rolle. Sie hat es auch in Stuttgart gethan. Dort entbrannte der Streit über «inen Ausspruch Bernstein's in der „Neuen Welt", welcher besagte: „Das Endziel ist uns Nichts, die Bewegung Alles." Diese Bernstein'sche Phrase ist nichts weiter als die präcise Formulirung der socialdemokratischem Taktik der letzten Jahre. Aber auch Bernstein hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß er das socialrrvolutionair-communistische „Endziel" nicht aufgeben, die „Bewegung" vielmehr nur deshalb vorübergehend in die erste Reihe rücken will, weil das „Endziel" vorläufig doch Nicht zu erreichen ist, der „große Kladderadatsch" nicht so schnell kommen will, wie Bebel ihn kommen sehen wollte. Der ganze Streit in Stuttgart, auch was man gegen Heine und andere „Gemäßigte" losließ, findet in der Bernstein'schen Erklärung seinen prägnanten Ausdruck. Indem man aber nicht nur gegen Bernstein, sondern auch gegen die Anderen stritt, welche der „Mäßigung" verdächtig waren, that man wieder nur die Arbeit jener Strategie, die bürgerliche Demokratie mit Erfolg zu dupiren. Diesen Erfolg hat man von Neuem erzielt. Die bürgerlich-demokratische Presse singt das hohe Lied von der „Mauserung" lauter denn je, singt es, obwohl in Stuttgart gar kein Novum zu Tage getreten ist, sondern nur der alte Hammel in neuer Sauce servirt wurde, damit er der bürgerlichen Demo kratie besser munden und diese ja nicht argwöhnisch werden möge. Herr Bebel und die Eingeweihten schmunzelten. Ihnen war der Streit gerade recht; beförderte er doch ihre Absicht, den bürgerlich-demokratischen Vetter auch fürder am Narrenseil zu führen und den festen Zusammenschluß aller bürgerlichen Elemente zu entschlossener Abwehr zu Hintertreiben. Aber auf einen Umstand möchten wir doch die Aufmerksamkeit lenken, selbst auf die Gefahr hin, lden Jubelrausch der Mau serungsfreunde in Katzenjammer zu verwandeln. Alle, welch« innerhalb des socialdemokratischen Lagers in dem Coulissen- streit, ob „Endziel" oder „Bewegung", für Bewegung plaidirten, sind Renegaten des Bürgerthums, sind Nichtproletarier, stehen nach ihren persönlichen Interessen mit dem einen Fuß im bürgerlich-demokratischen Lager, unbeschadet der Thatsache na türlich, daß sie sich mit Herz und Mund zur Socialdemokratie bekennen, sind fast ausnahmslos G e s ch ä f t s - Socialisten. Da ist zunächst Herr v. Volkmar, eine von jeher sehr merkwürdige Figur im proletarischen Lager, da sind der Rechtsanwalt Or. Heine und der aus dem Rechtsanwaltstande aus disciplinairen Gründen entfernte Stadthagen, denen sich der vormalige Gerichts referendar vr. David anreiht; da ist ferner vr. Quarck, de,z noch vor kurzer Zeit der „Frankfurter Zeitung" seine schrift stellerische Thätitzkeit widmete, da ist Peus, der gescheiterte Kandidat der Theologie, da ist vr. Bernstein, der „im Exil" weilende „wissenschaftliche" Prophet der „Bewegungs-Theorie"; da sind noch Andere gleicher Art. Doch wozu die Liste ver längern? Und neben allen diesen nicht-proletarischen Vertretern der „Bewegung" findet sich kein einziger eigentlicher Proletarier. Man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß diese „Bewegungs"-Leute wissen, weshalb sie „Bewegung", eventuell auch ohne „Endziel", wollen. Jedenfalls liegt die Vermuthung sehr nahe, daß die Herren meinen, wenn die „Bewegung" Erfolg habe, so könne sich die bürgerliche Demokratie der Leitung be mächtigen und ihnen selbst die führende Rolle übertragen. Vielleicht rechnet man auch im bürgerlich-demokratischen Lager mit dieser Möglichkeit und fühlt sich durch sie bewogen, für „Bewegung", „Mauserung" u. s. w. zu schwärmen. Wenn z. B. die „Franks. Ztg." im Hinblick auf den Stuttgarter „Bewegungsstreit" zu dem Resultat gelangt: „Worauf es jetzt ankommt, das ist nicht, Mittel und Wege ausfindig zu machen, wie man eine Utopie, den Zutunfts- staat, verwirklichen könne, sondern das dnrchzuiführen, was die liberale Bourgeoisie nicht mehr ganz fertig brachte — die De- mokratisirung des Staates. Was darauf folgen soll, das wird sich schon finden, wissen kann es ja doch Niemand." so spricht daraus ein recht gutes Verständniß für die Motive der „Bewegungs"-Freunde im benachbarten Lager. „Was folgen soll", warum sich deshalb den Kopf zerbrechen? Wenn nur erst der Staat demokratisirt ist, dann wird es „sich schon finden". Wenn sich dann die bürgerliche Demokratie an der Spitzt „findet" — nun, die „Franks. Ztg." wird därllber gewiß nicht weinen! Will aber das BürgrrthUm in Stadt und Land die Demo- kratisirung des Staates? Will man sie mit einer Fernsicht, welche hinter der „Bewegung" zwar zunächst nur die Herrschaft der bürgerlichen Demokratie zeigt, aber das socialrrvolutionaire „Endziel" doch nur nothdürftig verhüllt? Wer diese „Ziele" nicht will, muß die Socialdemokratie in jeder Form bekämpfen, und die „Nordd. Allg. Ztg." hat gewiß Recht, wenn sie betont, daß sich die socialdemokrati'sche „Bewegung" mit Ansichten nicht bekämpfen läßt, wie sie die „Mauserungsschwärmer" zur Schau stellen. Das Bürgerthum hat gegenüber der socialdemokratischen „Bewegung" ohne „Endziel" dieselbe Pflicht, wie gegenüber den „Zielbewußten". Es wäre ein« gefährliche Selbsttäuschung, die sich über kurz oder lang schwer rächen müßte, wenn man eine grundsätzliche Mauserung der Partei erhoffen wollte. Der „einen reactionairen Masse" gegenüber sind und bleiben sie alle gleich, die „Genossen", ob sie sich untereinander auch noch so hassen und bekämpfen mögen. Käine es einmal zu dem großen „Kladderadatsch", so würden sie all« ohne Ausnahme einträchtig beisammenstehen. Elsaß-lothringische Stimmungen. Unter den uns heute zugegangenen Blättern, welche gewohn- heitsgemäß den wechselnden Stimmungen der Bevölkerung des deutschen Reichslandes Aufmerksamkeit scksinken und daher in der Schätzung dieser Imponderabilien eine gewisse Zu verlässigkeit beanspruchen können, bringen drei Zeitungen sehr be- merkenswerthe elsaß-lothringische Korrespondenzen. Das Be- merkenswerthe dieser Beurtheilungen liegt für uns weniger in den besprochenen, in jedem einzelnen Falle ganz verschiedenartigen Symptomen, als vielmehr in der überraschend gleichlautenden ausgesprochenen oder sich von selbst ergebenden Schlußfolgerung: Es macht sich in der Bevölkerung eine AbnahmederSym- pathien für Frankreich und eine gewisse Versöhnung mit der Zugehörigkeit zum deutschen Reiche bemerkbar. Wir lassen die drei Preßäußerungen hier folgen: Aus Elsaß-Lothringen, 10. October, läßt sich der „Fränk. Merk." berichten: „Neuerdings haben sich die Fälle wieder gemehrt, in denen harmlose deutsche Touristen, wenn sie als solche erkannt wurden, in französischen Grenzorten vom Publicum belästigt oder gar beleidigt wurden. Letzteres ist dieser Tage wieder einer Gesellschaft aus Markirch widerfahren, die einen Ausflug nach St. Diö unternommen hatte und dabei von französischen Unterofficieren bedroht und verhöhnt wurde. Aehn liches ist dem Schreiber dieser Zeilen in Nancy seitens an scheinend den besseren Ständen angehörenden Herren passirt. Wie es scheint, haben die mit dem Fall Dreyfus zusammen hängenden Vorkommnisse bei unseren westlichen Nachbarn eine solche Nervosität hervorgerufen, daß es sich für uns Deutsche empfiehlt, denselben bis auf Weiteres fern zu bleiben. Auffallend ist es, daß die französische Presse für derartige Ausschreitungen in der Regel kein Wort der Mißbilligung findet. Bei diesem Anlaß sei darauf hingewiesen, daß im Laufe dieses Sommers nicht nur Tausende von französischen Touristen das Reichslano durchstreiften, sondern auch in allen größeren Orten sich fran zösische Familien mit Kind und Kegel Wochen- und monatelang aufhielten. Trotzdem sich dieselben vielfach in ihrem Auftreten nicht immer allzu großer Bescheidenheit und Zurückhaltung be fleißigten, so ist doch kein einziger Fall bekannt geworden, daß diese Gäste einer auch nur unfreundlich zu nennenden Behandlung ausgesetzt gewesen wären. Aehnlich verhält es sich mit den in das benachbarte Baden kommenden Franzosen. Vielleicht nehmen die französischen Blätter gelegentlich Anlaß, ihre Leser darauf aufmerksam zu machen, daß die internationale Höflichkeit auf die Dauer nur dann aufrecht zu erhalten ist, wenn sie sich auf Gegenseitigkeit gründet." Ein Abnehmen der Sympathien für Frankreich in Elsaß- Lothringen glaubt auch ein« Straßburger Korrespon denz der „Köln. Ztg." constatiren zu können; es heißt in der selben: „Zuweilen dämmert auch der chauvinistischen Presse Frankreichs eine Erkenntniß bezüglich der wirklichen Verhältnisse in Elsaß-Lothringen. So stellt in einer seiner jüngsten Nummern der in Nancy erscheinende „Jmpartial de l'Est" einen sehr lehrreichen Vergleich auf zwischen Elsaß- Lothringen und den angrenzenden Gebieten Frankreichs. Diese haben seit einem Vierteljahrhundert unter dem übertriebenen militairischen Absperrungssystem furcht bar gelitten. Straßen und Eisenbahnen sind nicht gebaut worden aus Furcht vor der Invasion; der Verkehr mit dem benachbarten Elsaß und Deutsch-Lothringen wurde zum großen Schaden der angrenzenden französischen Departements aufs Aeußerste er schwert; auch sonst in jeder Hinsicht vernachlässigt, sind diese Gebiete — vier der schönsten französischen Departements — wirthschaftlich außerordentlich zurückgegangen. Demgegenüber findet man nun „jenseit der Grenze ein Land, das die Deutschen Feuilleton. Frau Jeanettens Documente. Nach Erckmann-Chatriand erzählt von Josephine Reinige. Nachdruck verbot«». Da ich noch ein Kind war, liebte ich es, nach der Schul zeit an's Ende des Dorfes zu laufen, um dem Hans Peter Konstel, dem Drechsler, bei der Arbeit zuzusehen. Er war ein alter Mann, halb kahl; mit zerrissenen Schlappen lief er umher, und 'das Zöpfchen seiner Perrücke wackelte ihm am Hinterkopf wie «in Rattenschwänzchen. Mit Vorliebe erzählte er von seinen Kriegszügen längs des Rheins, der Loire und durch die Vendße. Dann guckte er verschmitzt umher und lächelte in sich hinein. Sein kleines Weib, Frau Jeanette, saß spinnend hinter feinem Rücken im Dunkeln; sie hatte große, schwarze Augen, und ihre Haare waren so weiß wie Flachs. Ich sehe sie noch vor mir; sie horchte, und jedes Mal, wenn Hans Peter von Nantes erzählte, hielt sie im Spinnen inne; dort hatten sie im Jahre 1793 ge- heirathet. Diese Dinge stehen so deutlich vor mir, als hätte ich sie gestern erblickt; die beiden kleinen epheuumrankten Fenster, auf dem Brettchen über der wurmstichigen Thür die drei Bienen stöcke, über dem Strohdach im Sonnenschein die summenden Bienen; Hans Peter konstel über der Arbeit gebückt, Stuhlbein« oder Fädenröllchen drechfelnd — die Spähne, die Wie Kork zieher herabfallen — Alles steht noch vor mir. Und ihn sehe ich auch des Abends herankommen, den Jacob Chatillon, den Holzhändler mit dem rothen Backenbart, sein Holzmaß unterm Arm. Den Waldh-ütrr Benafsis, die Jagd tasche auf der Hüfte, die kleine Jagdmlltze mit dem Jagdhorn keck auf das «ine Ohr gestülpt; Herrn Nadasi, den Gerichts vollzieher, deis Geck, der die Rase etwas hoch trägt, mit Brillen, die Hände in den Rocktaschen, als wolle er sagen: Ich bin Nadasi, derjenige, der Zahlungsunfähigen die Vorladung überbringt! Dann mein Onkel Eustache, den sie Brigadier nannten, weil er in den Chamborans gedient hattr, und dann noch viele Andere, nicht zu vergessen die Frau des kleinen Schneiders Rigooin, welche ihren Gatten gleich nach neun Uhr abzuholen kam, damit er ihr einen Schoppen spendire. Denn außer seinem Beruf als Drechsler hielt Hans Peter konstel eine Schankwirthschaft an der Straße, der Tannenzweig hing vor dem Fenster, und im Winter, wenn es draußen regnete, oder der Schnee bis an die Scheiben reichte, so faß man gern in dem alten Häuschen und horchte auf da» Surren de» Feuer» und des Spinnrades der alten Jeanette, während draußen die Windstöße durch da» Dorf heulten. Ich kleiner Kerl saß still geduckt in meinem Eckchen bis Onkel Eustache die Asche au» der Pfeif« leerte und sagte: „Komm, Franz, lo»! Gute Nacht beisammen!" Er stand auf und wir gingen heim, bald durch Schmutz, bald durch Schne« watend! Wir schliefen im Hause de» Groß vater», der stet» aufblieb, um auf un» zu warten. Wie lebendig erscheint mir da» Alle», wenn ich daran zurückdenke! Wa» mir abrr am deutlichsten vorschwrbt, da» ist die Ge schichte von den Sümpfen der alten Jeanette, der Sümpfe, die sie in der VendSe besaß, in der Nähe des Meeres, durch welche die Constels ihr Glück gemacht, wenn sie ihre Güter eher re- clamirt hätten. Im Jahre 1793 wurden in der Nähe von Nantes viele Leute ertränkt, besonders frühere Adelige. Man brachte sie zusammen gebunden auf Schiffe, dann wurden diese aus die Loire hinaus getrieben und zum Sinken gebracht. Das war zur Zeit der Schreckensherrschaft; die Bauern aus der VendSe erschossen auch alle repnblikanifchen Soldaten, die sie erwischen konnten; die Zerstörung ging von 'beiden Seiten aus, und Keiner kannte mehr Erbarmen. Nur jedes Mal, wenn ein Soldat der Republik eines jener vornehmen Mädchen, die ertränkt werden sollten, zur Frau begehrte, und die Unglückliche ihm zu folgen ein willigte, so war sie sofort frei. Und auf diefe Weise war Frau Jeanette die Gattin Constel's geworden! Sie befand sich im Alter von 16 Jahren auf einem jener Schiffe, das ist ein Alter, wo man sich vor dem Tvde schrecklich fürchtet! . . . Sie hatte todtesblaß umhergeschaut, ob Niemand sich ihrer erbarme; da, im Augenblick, als 'das Schiff abstieß, ging mit dem Gewehr auf der Schulter Hans Peter konstel vorüber, er sah das jung« Mädchen und rief: „Halt, einen Augenblick, Bürgerin willst Du mich? Ich rett« Dir das Leben." Und Jeanette war wie todt in sein« Arme gesunken; er hatte sie fortgebracht, und sie waren miteinander vor das Standesamt gegangen. Die alte Jeanette sprach niemals von jenen alten Geschichten. In ihren jungen Jahren war sie wohl sehr glücklich gewesen. Sie hatte Diener gehabt, Kammerfrauen, Pferde, Wagen, dann War sie das Weib eines Soldaten geworden, eines armen Teufels; sie hatte ihre Küche selbst besorgt, ihr« Lumpen selbst geflickt; die Gedanken an Schlösser, Parks, an ehrerbietige Bauern aus der VendS« waren verflogen ... So geht's in der Welt. Zuweilen sogar spottete der freche Nadasi über die arme Alte, indem er ihr zurief: „Edle Dame, einen Schoppen, einen Pfiff!" Er erkundigte sich nach ihren Ländereien; sie blickte ihn dann groß an, dir Lippen festgeschlossen; ihr« blassen Wangen röthetcn sich, fast war eS, als wolle sie antwortrn, aber dann senkte sie den Kopf und spann schweigend weiter. Wenn Nadasie nicht ein guter Kunde gewesen wäre, so hätte ihm konstel sicher die Thür gewiesen; aber wer arm ist, muß Manches hinunterschlucken, und die Hallunken wissen das wohl! . . . Wo sie sich die Finger ver brennen können, wie z. B. bei meinem Onkel Eustache, da wagen sie nicht»; dazu sind sie zu vorsichtig. Ach, daß man solche Dinge ertragen muß! . . . Nun, Jeder kennt die Sort« . . . Ich fahre in meiner Geschichte fort. Eine» Abends, als wir im Gastzimmer faßen, es war gegen Ende des Herbstes 1835, es goß in Strömen, trat, es mochte 8 Uhr sein, der Waldhüter Benassis ein und rief: „Das Wetter! . . . Wenn es so fort geht, treten die Teiche über!" Er schüttelt« di« Mütze, zog die Blaus« über die Achseln herauf, um sie am Ofen zu trocknen. Dann ließ er sich auf das Bankende nieder, indem er Nadasi zurief: „Rück' zu, Tage dieb, daß ich dem Corpora! gegenüber sitzen kann." Nadasie rückte. Trotz der Nässe schien Benassi» zufrieden; er erzählte, daß an demselben Tage ein großer Schwarm Wildgänse aus dem Norden gekommen sei, daß sie sich auf den Teich bei den drei Sägemühlen niedergelassen hätten, und daß die Sumpfjagd nun beginnen würde. Während Benassis sein Schnäpschen schlürfte, lacht« er ver gnügt und rieb sich die Hände. Alle hörten ihm zu. Onkel Eustache meinte, er würde gern die Jagd auf einem Nachen mitmach«n, aber es würde ihm nicht gerade angenehm sein, mit hohen Stiefeln im Schlamm zu waten, und möglicherweise bis an die Ohren darin zu versinken. Jeder gab seine Meinung, und die alte Jeanette murmelte ganz nachdenklich vor sich hin: „Ich hatte auch Sümpfe . . . und Teiche!" „Wo denn, edle Dame?" „In der Vendöe, am Meeresstranld!" Und da Nadasi die Achseln zuckte, als wolle er sagen: Die Alte ist verrückt, stieg Frau Jeanette die kleine finstere Holztreppe hinauf, und kehrte bald darauf wieder zurück; am Arm trug sie ein Körbchen mit allerhand altem Gerümpel: Faden, Nadeln, Röllchen, vergilbt« Pergamente. Sie stellte es auf den Tisch. „Da sind unsere Papiere", sagte sic, „die Teiche, die Sümpfe und das Schloß sind mit dem übrigen da drin! . . . Wir haben sie unter Ludwig dem Achtzehnten wohl reclamirt, aber die Verwandten haben sie uns nicht zurückgrbrn wollen, weil ich durch meine Heirath mit einem Sansculotte die Familie entehrt hätte. Wir hätten sie verklagen müssen, und Geld, um die Ad- vocaten zu bezahlen, war nicht da. Nicht währ, konstel, so ist es?" „Ja", sagte der Drechsler gleichmllthig. Unter den Anwesenden kümmerte sich Keiner um diese Dinge, ebensowenig wie um die vielen Assignaten, die noch seit der Zeit der ersten Republik in dem alten Schränkchen verstaubten. Nadasi öffnete spöttisch eines der Pergamente, um sich auf Kosten der alten Jeanette lustig zu machen; da wurde sein Ge sicht plötzlich ernst; er putzte seine Brille und wandte sich zu der Alten, welche schon wieder ruhig spann: „Das sind Ihre eigenen Documente, Frau Jeanette?" „Ja, Herr Nadasi." „Soll ich sie mir näher ansehen?" „Du lieber Gott, machen Sie damit, was Sie wollen", meinte sie, „wir brauchen sie nicht mehr; konstel hat schon welche davon verbrannt." Nadasi war bleich geworden, er faltete das Dokument zu sammen, steckte es mit mehreren anderen in die Tasche seines Ueberziehers und sagte: „Ich werde die Sachen nachsehen... Es schlägt Neun. Gute Nacht beisammen!" Er ging hinaus, und die Anderen folgten ihm bald. Acht Tage später befand sich Nadasi auf dem Wege nach der Vendd«; rr hatte sich von Eonstek und seiner Frau Jeanette eine Generalvollmacht unterschreiben lassen, wonach er das Recht hatte, ihre Güter zu reclamiren, in Besitz zu nehmen, zu verwalten oder zu verkaufen; außerdem durfte er sich die nöthigen Vorschüsse auf die Erbschaft auszahlen lassen. Von diesem Augenblick an verbreitete sich das Gerücht, Frau Jeanette sei von Adel, sie habe ein Schloß in der DendSe, und bald würde man starke Abgaben an die Constrls zahlen müssen; kurz darauf aber schrieb Nadasi, er sei sechs Wochen zu spät gekommen, der eigen« Bruder der Frau Jeanette habe ihm di« Scheine gezeigt, nach welchen es klar wie die Sonne sei, daß ihm feit dreißig Jahren die Nutznießung der Teiche gehöre, und daß, wer dreißig Jahre lang die Güter des Anderen besitzt und ver waltet, rechtmäßiger Besitzer derselben wird; weil ihre Ver wandten stets den Genuß ihrer Güter gehabt hatten, durften Peter konstel und seine Gattin nichts mehr fordern. Wi« es so geht, — das ganze Dorf hatte geschmeichelt und grcttulirt, und als die armen Leute, die sich eine kurze Zeit lang für reich gehalten hatten, merkten, daß sie arm bleiben würden wie zuvor, empfanden sie die Armuth doppelt schwer; kurz darauf starben Beide nacheinander in christlicher Gesinnung, Gott uni Vergebung ihrer Sünden bittend, in fester Zuversicht auf das ewig« Leben. Nadasi ließ seine Stelle als Gerichtsvollzieher verkaufen und kehrte nicht zurück; wahrscheinlich hatte er etwas Besseres ge funden, als den Leuten Vorladungen zu bringen. Viele Jahre verflossen; Louis Philipp war gegangen, dann die Republik; die Constel'schen Eheleute ruhten auf dem Hügel, und - selbst ihre Knochen, denke ich, waren längst zu Stauv und "Asche zerfallen. Ich hatte des Großvaters Stelle bei der Post übernommen, und auch der Ontel Eustache hatte, wie er früher zu sagen Pflegte, seinen Reisepaß genommen, als mir eines Morgens etwas Wunderliches geschah — es war während der Saison von Baden-Baden und Homburg. Das gab mir viel zu denken. Mehrere Postkutschen waren im Laufe des Vormittags vorüber gefahren, als gegen 11 Uhr ein Reisecourier erschien, um mir zu meiden, daß sein Herr, der Baron von Roselivrc in Kurzem hier eintreffen werde. Ich war bei Tisch, stand aber sofort auf, um den Pferdewechsel zu beaufsichtigen. Während des Einspannens beugte sich ein Kopf über den Wagenschlag, ein trockenes, verrunzeltes Antlitz wurde sichtbar, mit hohlen Wangen, mit goldener Brille auf der Nase: es war das Gesicht Nadasi's, gealtert, verlebt, müde; hinter ihm blickte ein junges Mädchen hervor; ich war sprachlos vor Ueberraschung. „Wie heißt dieses Dorf?" fragte mich gähnend der Alte. „Laneville, gnädiger Herr." Er erkannte mich nicht und lehnte sich wieder zurück. Dann sah ich auf dem Rücksitz der Kutsche eine alte Dame. Die Pferde waren eingespannt — fort ging es. Welche Ueberraschung! Wie vielerlei Gedanken schwirrten mir durch den Kopf! Nadasi war der Herr Baron von Roselitzre! — Möge Gott mir verzeihen, wenn ich mich täusche, aber ich glaube noch heute, daß er die Scheine der alten Jeanette verkauft hat, und daß er nachher, wie so mancher Lump, einen adeligen Namen angenommen hat, um die Fährte von sich ab zuknken. Wer konnte ihn daran hindern? Besaß er nicht sämmtliche Scheine, sämmtliche Titel, sämmtlich« Vollmachten? Und besaß er nunmehr nicht da» Recht der dreißigjährigen Nutz nießung? Arme, alte Jeanette! Wie diel Trauriges giebt e» doch in der Welt!
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