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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.10.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981020028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898102002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898102002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-20
- Monat1898-10
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Größere Schriften laut unserem PreiS- verzeichniß. Tabellarischer und Zisfernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit de, Morgen. Ausgabe, ohne Postbesörderunx 60.—, mrt Postbeförderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgeu-AuSgabe: Nachmittag- - Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je rin« halbe Stunde früher. Lnjeige« sind stet- au die Sx-editis» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 53^. Donnerstag den 20. October 1898. 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 20. October. Daß bei dem Alter Levs XIII. die Ernennung eines netten preußischen Gesandten beim päpstlichen Stuhle selbst dann nicht aus die lange Bank werde geschoben werden dürfen, wenn die greifbare Wirkung der Abberufung des Herrn v. Bülow auf sich warten und der päpstliche Staats- fecretair Cardinal Nam Polla abermals die preußische Regierung mit Ausflüchten abzuspeisen versuchen füllte, haben wir bereits mehrfach betont. Und so ist eS denn auch gekommen. Wie bereits im heutigen Morgenblatte mit- getbeilt worden ist, meldet die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", daß zum Nachfolger des Herrn v. Bülow der frühere Unterstaatssecrctair im Auswärtigen Amte, jetzige Gesandte des Reichs in Bern, Freiherr v. Rotenhan, ausersehen sei; jetzt meldet uns der Tele graph aus Köln, daß die „Köln. Ztg." eine ihr aus Berlin zuzegangene hvchofficiöse Kundgebung veröffentlicht, aus der klar bervorgeht, baß die schleunige Wiederbcsetzung des durch die Abberufung des Herrn v. Bülow erledigten Postens keineswegs die Folge eines tbalsächlichen Einlenkens der römischen Curie ist, sondern auS anderen Gründen erfolgt, obwohl man in Berlin durchaus keine Ursache hat, mit dem Verhalten der päpstlichen Diplomatie zufrieden zu sein. Die Kundgebung lautet: „Ein Aufsatz des „Osservatore Romano", der in der Presse mehrfach aus den Cardinal-Staatssecrctair Rampolla zurückgesührt wird, beschäftigt sich mit der letzten Anrede des Papstes an die französischen Pilger. Er behauptet, daß die liberale italienische Presse an dem ganzen Unheil schuld sei und künstlich Aufregung in Deutschland hervorgerusen habe. Die deutsche Regierung ihrer seits habe dagegen, sobald sie den Wortlaut der vom Prinzen Croy verlesenen Anrede erfahren, nichts an derselben auszusetzen gefunden. Uns liegt der ganze Aussatz des „Osservatore Nomano" noch nicht vor; wenn aber, morüberwir keinen Zweifel zu hegen Anlaß haben,dieser Auszugden Sinn desselben zutreffend wirdergibt, müssen wirgestehen, daß er sich, gelinde gesagt, einer etwas ungewöhnlichen Schön färberei schuldig macht. Die deutsche Regierung hat seit Jahren in unzweideutigster Weise ihre Stellung gegenüber den deutschen katholischen Unterthanen und Anstalten im Auslände klargelegt. Mit dieser grundsätzlichen, der Curie wohlbekannten Stellung stand schon das päpstliche Schreiben an Cardinal Langsnieux in Widerspruch. Auf die damals erhobene Beschwerde der deutschen Regierung ist aber von der Curie Aufklärung gegeben worden, die ihren Zweck der Beschwichtigung erreicht hat. Dieser Zweck mußte aber selbstverständlich nachträglich dadurch wieder vereitelt werden, daß in der späteren, vom Prinzen Croy verlesenen päpstlichen Anrede abermals jene Ansprüche der französischen Regierung gebilligt wurden, welche mit den Anschauungen der deutschen Regierung in schroffem Widerspruche stehen. Daß unter diesen Umständen die Versicherung des „Osservatore Romano", in Berlin habe man an der neuerlichen päpstlichen Anrede nichts aus zusetzen, keinen Glauben finden kann, bedarf keiner weiteren Ausführung. Wir zweifeln keinen Augenblick, daß auch der preußische Geschäftsträger beim Vatican über diese Sachlage keine Unklarheit hat aufkommen lassen." Herr v. Rotenhan wird unter diesen Umständen eine sehr schwierige Aufgabe haben. Auch ihn abberufen zu sehen, wenn er sie nicht löst, braucht man im Batican nicht zu fürchten, da seine Ernennung daS Bedürfniß der preußischen Regierung, unter den obwaltenden Umständen durch einen Gesandten beim Vatican vertreten zu sein, allzu deutlich bekundet. Wäre Herr v. Bülow durch einen energischeren Nachfolger ab gelöst worden, so würde der Eindruck dieser Maßregel auf die vatikanische Diplomatie wohl tiefer und die Aufgabe dieses Nachfolgers wohl leichter gewesen sein. Die 20. Wiederkehr des Tages, an dem der Reichstag das Soctalistengesetz mit 221 gegen 149 Stimmen annahm, feiert der „Vorwärts" durch einen Artikel, der, fast unmittelbar nach dem Stuttgarter Parteitage veröffentlicht, in seiner Ver logenheit doppelt ruchlos erscheint. Wir übergehen den längst bekannten Versuch, die socialdcmokratische Agitation von der Ver antwortung für die Gesinnung zu entlasten, aus der die Mord anfälle der Hödel und Nobiling entsprungen sind; wir übergehen Beschimpfungen Rudolfs von Bennigsen und verzichten auf die Brandmarkung der politischen Heuchelei, die, dem demokratischen Mehrheitsprincip zum Hohne, das Socialistengesetz als rechts- ungiltiges „Schandgesetz" bezeichnet; die unerhörte Niedertracht aber, mit welcher der „Vorwärts" als Grund für die Vorlegung des Socialistengesetzes sowohl, als auch für die Wirthschafts- reform von 1879 das selbstsüchtige Bedürfniß des Fürsten Bismarck, seine „Dictatur" zu be haupten, bezeichnet, wollen wir nicht unwiderlegt lassen. Nach dem „Vorwärts" bedurfte Bismarck einer Mehrheit „für die Classendictatur des zum „nationalen" Raub verbündeten Schlot- und Krautjunkerthums". „Zunächst galt es, die einzige Partei zu fesseln, die den Verbündeten und ihrem Fisch- und Raubzuge gefährlich werden konnte, die Socialdemokratie. Sie mußte gebunden werden an Händen und Füßen. Das Socia- listengcsetz ward dem Reichstage vorgelegt. . . Die Social demokratie war lahm gelegt, das Terrain war frei. Industrie zölle, Korn- und sonstige Lebensmittelzölle — Schnapsprämien, Zuckcrprännen, Liebesgaben aller Art, planmäßige Millionair züchterei — ein wahres Kirchthurm-Wettrenncn der schlot- und krautjunkrrlichen Habgier. Das war der Zweck. Die Socialistenhatz nur Mittel zum Aveck. Jahr für Jahr etwa eine halbe Milliarde: MO Millionen aus der Tasche des arbeitenden Volkes heraus geholt und in die Taschen der Schlot- und Krautjunker gesteür — das war die „Wirthschaftsreform", auf welche Fürst Bismarck seine Dictatur gründete." — In dieser Kette von gröblichsten Unwahrheiten vermissen wir nur ein be sonders werthvolles Glied, die Lüge nämlich, Fürst Bis marck habe die Attentate auf seinen greisen Herrn selbst herbeigeführt. Hat die Furcht vor dem Staatsanwalt das socialdemokratische Centralorgan in letzterem Puncte zur Enthaltsamkeit bewogen, so wird es in Bezug auf alles Uebrige vom „Genossen" Schippe! so gründlich ent larvt, wie es von bürgerlicher Seite nicht wirksamer hätte geschehen können. Schippe! führte nach dem Bericht des „Vor wärts" auf dem Stuttgarter Parteitage über den Uebergang zur Schutzzollpolitik wörtlich aus: „Man hat Handelsverträge ge schlossen; zum Freihandel sind wir ja nie gekommen, aber all mählich sind die Zollsätze doch niedriger geworden. Und als in den siebziger Jahren der Rückschlag kam, da waren es nur Länder mit zurückgebliebener industrieller Entwickelung, die noch hohe Zölle hatten. Ich erwähne das, weil man sehr oft sagt, ja, wer war es denn, der die Schutzzölle gebracht hat? Bismarck, hätten wir den nicht gehabt, wenn ein anderer Mann an seiner Stelle gewesen wäre, so hätten wir den Schutzzoll nicht gehabt. Parteignossen! Einmal darf man nicht einen Mann, der -doch nur auch ein Mensch war, derartig ins Uebermen schliche verzerren. Das kann kein Mensch, das ist nichtsocial demokratisch,so etwas glauben zu wollen. DieSchutz - zölle warenläng st da; in Amerika und auch bei uns in Europa waren Zolltarife schon geschaffen oder auf dem Wege, geschaffen zu werden. Wir haben den Schutzzoll nicht ge schaffen, wir haben ihn auch nicht am weitesten getrieben; wir habenimmereinenrelativmäßigenSchutzzoll inDeutschland getrieben und wir können es uns ruhig verbitten, wenn man uns den Borwurf macht, wir hätten die anderen Länder in den Schutzzoll hineingetrieben. Aber sie sind alle schutzzöllnerisch geworden: Oesterreich, Italien, Frankreich, die Schweiz, freie Gemeinwesen, Republiken so gut wie monarchische Staaten. Und das kann doch kein Zufall sein. Die Menschheit läuft doch nicht allesammt auf dem Kopf herum. Es müssen doch Ursachen für einen solchen Ent wickelungsgang vorhanden sein." — Im weiteren Verlaufe seines Referats wies Schippet nach, daß die Arbeiter nicht reine Consumenten seien: „Je mehr Fabriken wir er richten, je mehr unsere Production sich ausdehnt, in desto ge ringerem Maße werden sie reine Consumenten sein. Schon die australischen Arbeiter haben immer gesagt, das Endziel, die höhere Entwickelung unserer Industrie, ist uns Alles. Das bischen Preisbewegung und Preiserhöhung kann für uns nichts bedeuten. Also nicht als Consumenten haben die Arbeiter darüber zu urtheilen, sondern als Theilne-hmer an dem heutigen Productionsorganismu s." — Schippe! citirte alsdann zustimmend den „Genossen" Brake, „einen der erfahrensten Parteignossen, die wir göhabt", der am 23. April 1877 im Reichstage Schutzzölle u. A. wie folgt rechtfertigte: „Es handelt sich da mit um die Lage der Arbeiter; gesetzt den Fall, eine Industrie habe sich während des Bestehens eines Schutzzolles entwickelt und durch Aufgabe dieses Zolles werde dieselbe plötzlich dem Auslande gegenüber concurrenzunfähig ge macht, so würde das auch die Folge haben, daß eine große Anzahl von Arbeitern brodlos würde, und das können wir nicht wünschen. Ich betone da dem Herrn Abgeordneten vr. Hirsch gegenüber, daß wir sehr wohl die Harmonie der Inter essen zwischen Arbeitnehmern und Arbeit gebern anerkennen, wo sie vorhanden ist." — Schippel sagte endlich: „Ich hoffe. Ihnen gezeigt zu haben, daß die Frage Schutzzoll oder Freihandel niemals Classen- frage der Arbeiter werden kann." — Mit diesen Citaten mag es genug sein. Man vergleiche mit ihnen die obigen Behauptungen des „Vorwärts", und man wird ernräumcn, daß die Verhetzung der Masse in ruchloserer Weife nicht leicht betrieben werden kann. Die „Nordd. Allgem. Ztg." äußert sich heute über den Besuch des KaiscrpaareS tu Konstantinopel.folgender maßen : „Nach den vielfach in der Presse geschilderten Vorbereitungen, die in Konstantinopel für den Besuch des deutschen Kaiserpaares ge troffen worden waren, mußte man einen überaus glänzenden Empfang gewärtigen. Nach den vorliegenden ausführlichen Meldungen über die Ankunft und den ersten Besuchstag Ihrer Majestäten in der osmanischen Residenz hat sich jene Erwartung im vollsten Maße verwirklicht. Kein Zweifel, daß das Bestreben Sr. Majestät des Sultans Abdul Hamid, seine hohen Gäste mit dem Schönsten zn umgeben, was der Orient zu bieten vermag, dem Gefühle aufrichtigster Freundschaft für das deutsche Herrschcrpaar entsprang. Unser Kaiser hat selbst bei der ersten sich bietenden Gelegenheit kundgcgeben, wie treffliche Beziehungen ihn und den Sultan ver binden, und dabei zugleich des freundschaftlichen Verhältnisses ge dacht, daS beide Reiche zu einander, der Verschiedenheit der Rasse und Religion ungeachtet, zum beiderseitigen Bortheile unterhalten. Die aufrichtige Sympathie, die man in Deutschland für die Türkei hegt, kann durch die festlichen Tage, die der Sultan unserem Kaiser und der Kaiserin bereitet, nur bestärkt werden, und sicherlich werden die Festtage von Konstantinopel dazu beitragen, die fried- lichen Interessen beider Reiche zu fördern." Vielleicht erfährt mau gelegentlich von der „Nordd. Allg. Ztg", welche Kreise in Deutschland „aufrichtige Sympathie" für die Türkei hegen. Der größte Theil des deutschen Volkes wünscht der Türkei nicht- Heble», spürt aber von „aufrich tiger Sympathie" für dieses Land jedenfalls nicht. Woher sollte sie auch kommen? Schreibt man der „Polit. Corr." doch gerade jetzt auS Konstantinopel, daß in der Türkei von einer Besserung der Verhältnisse, wie man sie nach dem Kriege gegen Griechenland erwartete, nichts zu bemerken sei. Während daS besiegte Griechenland den Versuch mache, in seiner inneren Verwaltung die für nothwendig befundenen Reformen einzuführen, sei die siegreiche Türkei wieder in ihre alte Unthätigkeit zurückgefallen. Dann heißt eS in der Correspondenz wörtlich weiter: „Alle jene Uebel stände, die kurz vor Ausbruch des Kriege.- mit Griechenland die europäischen Großmächte veranlaßt hatten, an die Pforte in dringlicher Weise mit Reformvorschlägen heranzutreten, bestehen nach wie vor fort, ja, wenn man die Wahrheit sagen Wil!, muß man cvnstatiren, daß sie eher zu- als abgenommen haben. In dem hiesigen Regierungssystem ist leider nicht der ge- ringste Wechsel ringetreten. Mänaer von höherer Begabung werden nahezu principiell von den RegieruugSgeschäften fern gehalten. In de» Stunden der Noth wird wohl, aber nur vorübergehead, ihr Rath ringrholt; sobald jedoch die augen blickliche Gefahr vorüber zu sein scheint, werden sie verdächtigt und entfernt. An ihre Stelle treten alS Mittelspersonen zwischen der maßgebenden Stelle und der Außenwelt Männer, die jeder entsprechenden Vorbildung, allen Wissen- und jedes Verständ nisses der Staatsangelegenheiten bar sind und demgemäß als gänzlich unfähig für die hohe Stellung, die ihnen anvertraut ist, bezeichnet werden müssen. ES kann unter solchep Umständen nicht Wunder nehmen, daß namentlich das volkswirthschaft- liche Leben der Türkei den größten Hemmnissen und Störungen ausgesetzt ist. Die zur Hebung der wirthschaftlichen Stagnation unterbreiteten Vorschläge bleiben größteotheils unbeachtet oder stoßen auf derartige Hindernisse, daß sie als unausführbar zurückgelegt werden müssen. Auch von der griechischen Kriegsentschädigung ist nicht der geringste Theil zu gemeinnützigen Zwecken verwendet worden. Andererseits nimmt die Corruption der Staatsfunctionäre und die Armuth der großen Masse der Bevölkerung stetig zu. Die Staatscassen leiden an chronischer Leere und seit Beginn des laufenden Finanzjahres (-13. März) sind an die Beamten im Ganzen nur drei Monatsgehalte auSgezahlt worden. Und doch weiß jeder Kenner des Landes, daß dessen natürliche Reichthümer bei einer halbwegs verständigen und ge- ordneten Volks- nnd Ainanzwirthschast mehr als hinreichen würden, um alle Bedürfnisse des Staates zu decken. Falls die Verwaltung des Reiches in die richtigen Hände überginge, wäre es ein Leichtes, die Finanzen in Ordnung zu bringen, Len Unternehmungsgeist, der nun gänzlich lahm gelegt ist, zu beleben und die volkswirthschasi- liche Lage zu heben. Geschieht dies jedoch nicht, so muß das Reich seinem sicheren Ruine entgegengehrn, eine Gefahr, die nicht so weit Feirillrtsii. Die kleine Lulu. 16s Seeroman von Clark Russell. Nachdruck «erboten. Dafür hatte ich in anderer Weise eine Entschädigung. Wun derbar genug, bot sich mir nämlich sehr bald Gelegenheit, zu zeigen, daß ich meinem neuen Dienst vollkommen gewachsen war. Mit dem zunehmenden Morgen wurde die Brise stärker und unter voll gerundeten Segeln verfolgte die Brigg schnell ihren Curs. Gerade um zehn Ühr, ohne Warnung, ohne die geringste Andeutung am Himmel, sprang der Wind plötzlich nach Süden herum. In einen) Nu schlappte die Leinwand gegen die Maste, die Raaen schaukelten, die Brigg lag wie ein Klotz auf dem Wasser und ein scharfer Wind pfiff uns um die Ohren. Das war eine Gelegenheit, mich auszuzeichnen, und meine Gewandtheit vor Miß Franklin's bewundernden Augen leuchten zu lassen. Auf der Stelle, ohne irgend eine Ueberraschung zu zeigen, gab ich die nöthigen Befehle. Der Capitain konnte keinen solchen aussprechen, dem ich nicht schon zuvorgekommen war. Ich hatte sofort alle Mann aufgerufen, die Backbord-Vordcrbrassen bemannt, die Leesegel auf der Leeseite einholen, die großen Brassen abfieren, das Gaffelsegel aufgeien und die Schoten der Vordersegel steif anholen lassen. Die Brigg hatte sich auf dem Fuße des Hinterftevens gedreht wie ein Kreisel. Ich sprang den Leuten bei der Arbeit bald da, bald dort bei und zog mit ihnen um die Wette an den Brassen. Die flinksten Leute aus meiner Wache, deren Ehrgeiz ich noch obendrein durch schlaue Be merkungen über deS alten Windwärts Leute anspornte, schickte ich ins Takelwerk, die Leestgel-Spieren einzuholen. Innerhalb einer Viertelstunde nach dem plötzlichen Umschlagen der Brise waren die Raaen scharf beim Winde gebraßt, die Segel neu gestellt, und die Brigg furchte mit frischer Kraft die mit weißen Kämmen geschmückten Wogen, daß der Gischt an unseren Backen hoch emporstaubte. Der Capitain ertheilte mir kein Lob, das war von ihm nicht zu erwarten, aber der eifersüchtig«, finstere Blick, welchen der alte Windwärts, der ebenso wie alle Anderen auf Deck gestürzt war, mir zuwarf, verrieth mir, daß ihm jedenfalls ein günstiges Wort über mich zugeflüstert worden war. ES ist ein böser Wind, der Niemand etwa- Gutes bringt, und die Mrkung, di« dieser Stoß aus Süden hatte, war, daß der Schiffer erfuhr, daß ich den Pflichten meines Dienstes gewachsen war. Von nun an überließ er die Brigg meinen. Händen, und ich hatte stets klares Deck, meine Arbeit darauf zu verrichten. Zehntes Capitel. Nirgends vergeht die Zeit so schnell wie auf der See. Die Einförmigkeit macht, daß die Tage schnell dahin eilen. Es schien mir, als wären wir gestern erst aus Bayport heraus bugsirt worden, und jetzt hatten wir die Linie schon hinter uns. Neue Sternbilder stiegen jeden Abend vor uns auf, und jene Welten, die der heimsegelnde Seemann so liebt wie sein Leben, versanken immer mehr vor unseren Blicken. Ich will schon jetzt bekennen, — denn das Geständniß läßt sich nicht mehr lange hinausschieben, daß ich begann, mich ganz verzweifelt in Louise Franklin zu verlieben. Bisher hatten ihre dunklen Augen und ihr holdes Gesicht sich nur als ein Zauber erwiesen, der wohl meine Bewunderung, aber noch kein tieferes Gefühl in mir hervorgerufen hatte. Das war, als ich noch vorn und sie hinten lebte, als -die ganze Länge der Brigg uns trennte. Das Bewußtsein meiner bescheidenen Stellung, die Arbeit, die ich zu verrichten hatte, und des alten Windwärts Roh heiten, welche ich schweigend ertragen mußte, ließen ein tiefer gehendes Gefühl gar nicht aufkommen. Ich dachte an sie wie an etwas ganz Fernes; der Theer, der mir anklebte, die Männer, welche meine Gefährten waren, die Niedrigkeit meiner Arbeiten waren wie eine Decke, unter welcher die Liebe so wenig brennen konnte, wie ein Licht im Bauche eines lebenden Stockfisches. Aber jetzt hatten die Dinge ein anderes Aussehen gewonnen. Erstens, und vor Allem, hatte die Veränderung meiner Stellung mein im Vorderdeck vernichtetes Selbstbewußtsein wieder ge hoben. Ich konnte meinen natürlichen Charakter wieder an nehmen, welcher mir im Dordercasiell nur böse Worte und Fuß tritte von denjenigen Leuten eingebracht hätte, die Lust gehabt hätten, ihre Füße gegen meine Fäuste zu versuchen. Ich war wieder Jack Chadburn, Gentleman, allerdings rauh in Manieren und Sprache, aber doch berechtigt, wie ich glaube, mich in der Unterhaltung mit dem Mädchen auf gleichem Fuße zu fühlen, und im Stande, deS alt«n Windwärts grobe- Anschreien in einer Weise zu erwidern, die mich in ihren Augen nicht herabsetzte. DaS aber, nämlich ihre gute Meinung von mir, war Alles, woran mir überhaupt gelegen war. Dazu kam, daß ich viel mit ibr zusammen war. Oft wurden die ersten Wachen zu einem gemuthlichen Gedankenaustausch mit ihr benutzt, wenn der alte Windwärts in seiner Koje schnarchte. der Schiffer unten war und die Brigg ruhig über die See dahin glitt. Ich hatte ihr Alles von mir erzählt, von meiner Hcimath, meiner Mutter, meines Vaters zweiter Heirath, von meinen Reisen und meiner Armuth. Dabei ruhten ihre braunen Augen auf den meinen, und ihr liebreizendes, in der Dunkelheit blaß aussehendes Gesicht zeigte Mitgefühl und Interesse. Nach und nach erfuhr ich denn auch Alles, was sie von sich erzählen konnte: daß sie eine Waise sei (wie ich schon vermuthet hatte), daß ihr Bruder, nachdem er diese Brigg gebaut und sie ihr zu Ehren „Die kleine Lulu" getauft — „denn manchmal liebt und manchmal haßt er mich", fügte sie lachend hinzu — , sic überredet hätte, mit ihm nach Australien und wieder zurück zu reisen; daß sie eigentlich nur «ingewilligt habe, um der Langeweile des kleinen kentischcn Dorfes zu entfliehen, in welchem sie ein Haus besäße, aber wie sic gänzlich ohne Ahnung gewesen sei von der entsetzlichen Einförmigkeit solcher langen Seereise auf einem so kleinen Schiffe. Nach den Beschreibungen, die man ihr von dem Leben der nach Indien und anderen Wclttheilen reisenden Passagiere gemacht hätte, welche sich die Zeit mit Musik, Tanz, Karten- und Theaterspicl angenehm vertrieben, habe sie sich das natürlich ganz anders gedacht. Und wie stand cs mit ihr? Ich konnte aus ihr nicht klug werden. Sie liebte meine Gesellschaft, das war gewiß. Oft fand ich sie noch am Tisch, nachdem ihr Bruder und der alte Wind wärts schon fort waren, um mich zu empfangen, wenn ich herunter kam. Sie war unerforschlich, eine schwarzäugige, kleine Hexe, manchmal ernst, manchmal heiter, oft den blühendsten Unsinn, oft verständig wie das Alter sprechend, ein schwer lösbares, aber reizendes Räthsel für mich, über welches ich mir, wenn ich allein war, mit Entzücken und Qual den Kopf zerbrach. Manchmal wollte ich mir die unruhigen Gedanken aus dem Kopf treiben: „Pah, sie mag Dich gern, weil Du der Einzige bist, mit dem sie sprechen kann. Sie langweilt sich tödtlich. Ihr Bruder ist ihr keine Gesellschaft, der Maat ein Bär; sie macht Dir damit kein großes Compliment. Laß sie ans Land kommen, und sie wird nur noch mit Lachen an den schüchternen Jack denken, der sie bewunderte, und der sie im Geiste ewig mit dem Fetttopf sehen wird, mit welchem er einst unter ihren Augen die Oberbramstangen schmierte." Ob sie wohl ahnte, daß ich sie liebte? Darüber vermochte ich nicht klar zu werden. Ich vermuthe, daß meine Gefühle ihr nicht ganz verborgen blieben, wenn die Dunkelheit mich zu empfind samen Worten ermuthigte, aber ich blieb doch schüchtern und zurückhaltend. Die ganze Fülle meiner LiebeSgedonkcn strömte erst mit aller Macht aus, wenn ich allein war und das Ventil meines Herzens von der Gewalt derselben gesprengt wurde. Hier bei empfand ich nur die eine Gewißheit, daß weder der Capitain, noch der alte Windwärts die leiseste Ahnung hatte von Dem, was in mir vorging. Darin konnte ich mich nicht täuschen. Unter diesen Schwärmereien hatten wir die Linie über schritten, und der fünfte August fand uns auf dem sechsten Grad, dicht am Curs des südöstlichen Passat-Windes. In einer Mittelwachc saß ich auf dem Oberlicht, beobachtete eine Neigung der obersten Segel, sich zu füllen, und wartete nur noch auf ein entschiedeneres Anzeichen des kommenden Windes, um die Wache an die Brassen zu rufen. Wir hatten die ganze letzte Zeit über, was man auf See „Damen-Wettcr" nennt, gehabt, d. h. glattes Wasser, ganz leichte Brisen und Nachts einen Win», der seinen Silberschein auf die weite Wasserfläche warf und die Segel der Brigg wie Perlmutter schimmern ließ. Das Nachtglas lag an meiner Seite, denn vor wenigen Mi nuten hatte ich ein Segel in Sicht bekommen, für das bloße Auge freilich nur ein weißer Fleck auf dem im Mondschein glänzenden Wasser; aber das Glas hatte mich doch ein vollgetakcltes, nach Norden steuerndes Schiff erkennen lassen. Eben glitt es in den Schatten jenseits des silbernen Kegels, den der Mond auf die See warf. Es war eine Nacht voller Romantik in der Natur, — ein Idyll von Himmel und Ocean. Eine Gestalt schlich das Deck entlang und auf mich zu. Am Gange konnte ich leicht erkennen, wer es war. „Bist Du es, Deacon?" „Ja, ist das nicht eine schöne Nacht?" „Gewiß, sehr schön; aber wie kommt es, daß Du nicht schläfst?" „Ich kann nicht schlafen, ich weiß nicht, woher es kommt, ich bin heut' ganz ruhelos." „Vielleicht ist der Mond daran schuld", sagte ich lachend, mich gleichzeitig vom Oberlicht wegbegebend, da ich nicht wünschte, daß der Capitain mich sprechen hörrn sollte. „Ach was, der Mond stört mich nicht", antwortete er. „Ich passe schon eine Stund« auf die Gelegenheit, um wieder einmal mit Dir von jener Sache zu reden, die ich Dir vor einigen Wochen anvertraute. Die Stunde scheint mir günstig, um noch einmal mit Dir davon zu sprechen." „ES ist natürlich wieder Deine Insel, die Dir im Kopfe spukt, wie?" ..Im Kopfe spukt? — Pah, — Du wirst schon noch anders darüber denken lernen. Allerdings, es ist di« Insel, die mich zu Dir führt. Ich erzählte Dir mein Geheimniß, weil ich hoffte,
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