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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.10.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981021017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898102101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898102101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-21
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Die Mehrheit der Stadt verordneten beschloß, einen Ausschuß ernzusetzen, der berathen soll, wie man gegen die Entscheidung der Regierung vorgehen könne. Man hält es also auch auf bürgerlich radikaler Seite für richtig und gerecht, daß ein Sociakdemdkrat in eine Stellung komme, in der er auf die Heranwachsende Jugend einen wichtigen Einfluß ausüben kann. Man stützt sich für den Anspruch, daß die Wahl von Socialdemokraten selbst zu einflußreichen Stellungen unter allen Umständen bestätigt werden müsse, darauf, daß verfassungsmäßig alle Bürger vor dem Gesetze gleich seien und daß jedem Staatsbürger theoretisch wenigstens das Recht zustehe, in jede Stellung zu gelangen. Diese Auffassung von der allgemeinen Gleichberechtigung der Staatsbürger ist höchst oberflächlich. Eine sittlichere und gerechtere Auffassung ist es wohl, daß sich das Maß der praktischen Rechte des Staats bürgers und des Einflusses, der ihm in der Gemeinsamkeit ein geräumt wird, nach den Pflichten bemißt, die er für den Staat erfüllt. Nun wird von radikaler Seite auf diese Auffassung er widert, daß ja der socialdemokratische Staatsbürger ebensogut Ivie jeder andere seine Pflichten gegen den Staat erfülle: er zahle seine Steuern, er leiste in Friedenszeiten seine militairische Dienstpflicht und ziehe im Kriegsfälle mit gegen den Feind. Die Erfüllung dieser Pflichten kann aber darum nicht zur In anspruchnahme von Rechten befugen, weil ihre Nichterfüllung Zwangsmaßregeln des Staates nach sich zieht. Wer seine Steuer nicht zahlt, wird gepfändet; wer sich seiner Dienstpflicht entzieht, verfällt der Bestrafung und wer im Kriegsfälle oesertirt, wird auf den Sandhaufen gestellt. Es bleibt also dem Staatsbürger gar nichts Anderes übrig, als sich diesen Pflichten zu unterziehen, wenn er nicht für das, was ihm vielleicht zu thun unangenehm ist, eine noch größere Unannehm lichkeit eintauschen will. Diejenigen Pflichten, die den Staats bürger zu politischen Rechten und ganz besonders zur Erlangung von Stellungen, in denen er einen besonderen Einfluß ausüben kann, befugen, fangen da an, wo die Zwangspflichten aufhören. Sie beginnen, wenn der Staatsbürger sich der Aufgabe bewußt ist, die schon der große griechische Staatsweise von ihm verlangt, nämlich ein 2Lo,- TroZirc-eop zu sein, d. h. ein Wesen, das seine Aufgabe nicht darin sieht, für sich zu leben und nur passiv die ihm aufgedrungenen Pflichten zu erfüllen, sondern darin, actio für die Förderung des bestehenden Staates thätig zu sein. Die Thätigkeit der Socialdemokratie richtet sich aber nicht auf die Förderung, sondern auf die Zerstörung des bestehenden Staates. Und deshalb würde nicht nur der Staat seiner Pflicht zuwider handeln, wenn er durch Gewährung einflußreicher Stellungen der Socialdemokratie die Möglichkeit zur Vernichtung des bestehenden Staates erleichterte, sondern der einzelne Staats bürger verletzt seine Pflicht, wenn er einen Socialdemokraten in solche Stellungen hineinwählt und an den Staat die Anforderung stellt, den Gewählten zu bestätigen. Aus diesem Grunde kann es auch nicht gebilligt werden, wenn im Reichstag die bürgerlichen Demokraten Socialdemokraten in einflußreiche parlamentarische Stellungen hineinwählen, sie zu Vorsitzenden ständiger Commissionen machen, oder ihnen das Referat für Commissionen übertragen u. s. w. Damit wird das Ansehen der Socialdemokratie erhöht und dies erhöhte An sehen trägt dazu bei, ihr neue Anhänger zuzuführen. Der Ein wand, "daß die Socialdemokratie im Reichstage eine der größten Parteien sei, stützt sich wieder nur auf eine Aeußerlichkeit. Der Socialdemokrcttie gegenüber sollen eben alle bürgerlichen Parteien eine einzige Partei bilden, wie ja auch die Socialdemokraten trotz de: in ihrem Lager herrschenden und erst kürzlich auf dem Stuttgarter Parteitage hervorgetretenen Gegensätze den bürger lichen Parteien gegenüber eine einzige geschlossene Partei dar stellen. Gesetzt, es käme zu der Durchführung des social demokratischen Staates und es säßen in der Volksvertretung dieses Staates neben einigen Hundert Socialdemokraten ein halbes Hundert Mitglieder einer dann durch die erlittene Nieder lage endlich geeinigten, die Grundsätze des besiegten bürgerlichen Staates vertretenden Partei. Glaubt Jemand, daß die social demokratischen Machthaber dieser Partei irgend eine einflußreiche Stellung anvertrauen würden? Oder glaubt Jemand, daß den Anhängern dieser bürgerlichen Partei innerhalb der städtischen Verwaltungen irgend eine einflußreiche Stellung übergeben würde? Die Socialdemokraten werfen heute schon Jeden hinaus, der, wenn er auch sonst ein getreuer Anhänger der Partei ist, in der Oeffentlichkeit Meinungen vorzutragen wagt, die den Parteidoctrinen zu widersprechen scheinen; wie würde sie dann erst mit Denen umspringen, die im sociakdemokratischen Staate die absolute Gegnerschaft zu diesem Staat« darstellen? Dies« Gegner würden wahrscheinlich als Hoch- verräther verfolgt werden. Wer aber gar auf den Gedanken käme, einem solchen Gegner ein« einflußreiche Stell« übergeben zu wollen, würde für verrückt erklärt werden. Man kann also gar,nicht «daran zweifeln, daß die Social- ^demokraten sich über diejenigen bürgerlichen Parteien, die, auf der Theorie der völligen Gleichberechtigung stehend, für die Ge währung einflußreicher Stellungen an Socialisten plaidiren, in ihrem Innern lustig machen. Sie halten bei jeder passenden und unpassenden «Gelegenheit ihren Anhängern das Sprüchlein vor: „Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber" und bekunden damit auf das Unzweideutigste, was sie von einem „Bourgeois" denken, d«r trotz der Macht, die die Socialvemokratie bereits errungen, dieser das Metzgermesser schleifen hilft. Ins Gesicht können sie diese ihre Ansicht den freundlichen Helfers helfern allerdings nicht sagen, denn sie würden sich dadurch schädigen. Sie müssen sich also äußerlich darüber entrüsten, wenn ihnen Rechte nicht zu Theil werden, die sie selbst Anderen nie gewähren würden. Es erscheint aber des Ansehens eines Mannes würdiger, von einem Gegner gehaßt, als von ihm verlacht zu werden. Deutsches Reich. Berlin, 20. October. (Reform des Militair- Pensionswesens.) Es bestätigt sich, >daß die nächst« Tagung des Reichstages die Wünsche der Erfüllung entgegen führen wird, welche hinsichtlich einer Reform des Militair- Pensionswesens vorn Reichstage und auch von der Regierung wiederholt als berechtigt anerkannt worden sind. Insbesondere ist eine Erhöhung der Sätze für die M i l i t a i r r« l i c t« n in Vorbereitung. Diese Sätze sind seit 1871 stehen geblieben, obwohl seither die Kosten der Lebenshaltung sich so sehr gesteigert haben. Nach dem Gesetze von 1871 sind für die Wittwen der im letzten Feldzüge gefallenen Angehörigen der Militairunter- classen die Pensionsverhältnisse in der Weise geregelt worden, daß die FeldwebelsWittwe 324 <^, die Unterofficierswittwe 252 und «ine einfache Soldatenwittwe 180 jährlich erhielt. Für vorhandene Kinder wurden bis zum vollendeten 15. Lebensjahre je 126 ausgeworfen, di« für den Fall des Todes der Mutter sich auf 150 ->/( erhöhten. Da diese letzteren Zahlungen von selbst seit 1886 aufhörten, so kommen jetzt nur noch die Wittwenpensionen in Frage, und daß hier im Vergleich zu anderen Ländern eine Sparsamkeit grübt worden, die beinahe beschämend ist, wird kaum geleugnet werden können. In Frankreich z. B. bezieht heute die Witwe eines einfachen Soldaten, der im Feldzuge von 1870/71 oder an den Folgen desselben gestorben ist, eine Pension von 450 also ungefähr das Zweieinhalbfache dessen, was die Wittwe eines gefallenen deutschen Soldaten erhält. Weiterhin soll, wozu der Reichstag sich auch bereits beifällig geäußert, die Belassung der Militair- pension neben dem Civil-Diensteinkommen bezw. der Civil- prnsion einheitlicher geregelt werden. Bisher finden je nach der Anstellung der Beamten im Reichs- und Staatsdienste oder im Communaldienste Unterscheidungen statt, die zu vielen Klagen Anlaß gegeben. Freilich wird die Durchführung dieser Neuerungen nicht unerhebliche Mittel beanspruchen; vorläufig wico etwa auf 6 Millionen Mark Mehrausgaben zu rechnen sein. Aber genau wie im Volke, wird man auch im Reichstage der Meinung sein, daß gerade bei der Fürsorge für Kriegs invaliden und deren Angehörige und die Wittwen 'der in den letzten Kriegen gefallenen Söhne «des Vaterlandes es einem Staatswesen, das mit Milliarden rechnet, auf einige Millionen nicht ankommen darf. Schließlich ist eine Reform der Be stimmungen über die Entschädigung für die Nichtbenuhung des Civilversorgungsscheines in Aussicht genommen in Richtung einer Gleichstellung der für diese Entschädigung jetzt bestehenden Sähe. Auch in diesem Puncte werden Reichstag und Regierung auf allgemeine Zustimmung rechnen dürfen. * Berlin, 20. October. (Der Vatikan und die internationalen Konferenzen.) Zur Theilnahme an der Konferenz über Maßnahmen gegen den Anarchismus ist, tvie die „Kreuzzeitung" erfährt, der päpstliche Stuhl nicht eingeladen. Der Papst ist darüber ungehalten und soll sogar beabsichtigen, dagegen, daß eine solche Einladung unterlassen wurde, Protest zu erheben. Die italienische Regierung scheint jedoch nicht nur entschlossen zu sein, auf dem Ausschlüsse des Vatikans von dieser Konferenz zu bestehen, sondern auch die Fern Haltung eines vatikanischen Delegirten von der A b r ü st u n g L conferenzzu verlangen. Dem geannten Blatte wird darüber aus Rom geschrieben: „Ueberhaupt dürfte die Frage der Theil nahme des Vatikans an den beiden internationalen Conferenzen noch mancherlei Erörterungen erheischen. Zur Abrüstungs confercnz ist der Papst von der russischen Regierung be kanntlich eingeladen worden; allein di« Theilnahme des päpstlichen Stuhles an der Konferenz dürfte noch von Auseinandersetzungen zwischen «dem Vatican und den Mächten, sowie zwischen «diesen abhängig sein. In italienischen Kreisen hält man es für aus geschlossen, daß die Theilnahme des Vatikans an der Konferenz in einer Weise erfolge, durch welche von vatikanischer Seite Capital für die Frage der Wiederherstellung der weltlichen Macht des Papstes geschlagen werden könnte. Daß die „römische Frage" von der Konferenz ebenso ausgeschlossen bleiben müsse, wie die Erörterungen der den Status guo berührenden Fragen überhaupt, gilt als selbstverständlich und es wird, wenn der Vatican sich an der Abrüstungskonferenz betheiligen soll, in geeigneter Form vorgesorgt werden müssen, daß sich aus seiner Theilnahme kein Präjudiz ergebe. Daß man in vatikanischen Kreisen es gerne sehen würde, wenn durch die Betheiligung an der inier nationalen Confercnz ein Präjudiz geschaffen würde, ist un verk«nnbar, und wenn es sich bestätigen sollte, daß der Vatican wirklich gegen Nichteinladung zu der Anarchisten-Conferenz Protest erheben wollte, so würde Lies eben nur das Obwalten der erwähnten Absicht bestätigen. Begreiflich ist jedoch, daß die italienische Regierung, nachdem die Anarchisten-Conferenz in Rom abgehalten werden soll, eine Einladung an den Papst nicht erlassen hat und auch nicht erlassen konnte, wenn sie sich nicht selbst mit ihrer Haltung gegenüber dem Daticanismus in Wider sprach setzen wollte. Üebrigens mag auch die an den Papst zur Abrüstungs-Conferrnz ergangene Einladung nur ein Höflichkeits act gewesen sein. Bei beiden Conferenzen wird es sich um praktische Fragen handeln, pnd was die Aufgaben der Anarchisten-Conferenz anbelangt, so wäre ja der Vatican kaum in der Lag«, sich an dem geplanten Zusammenwirken sämmt- licher Mächte in wesentlicher Weise zu betheilrgen." * Berlin, 20. October. (v. Diederichs und De wen.) Ueber den Brief eines deutschen Sceofficiers von der „Kaiserin Augusta", den der amerikanische Marineattach«'- in Berlin sich in Abschrift verschafft haben soll, regen sich die Amerikaner fürchterlich auf. In dem Briefe, der übrigens gar kein Gcheimniß ist und dessen Inhalt wir vor einiger Zeit bereits mittheilten, war von einem Befehl Dcwev's die Rede, daß alle in den Hafen von Manila einlaufenden Schisse einen amerikanischen Osficier an Bord nehmen sollten. Die „Augusta" sei darauf gefechtsklar in den Hafen eingelaufen, obne einen Amerikaner an Bord und sei trotzdem nickt «»gehalten worden. Moralisch sei der Fall für die Amerikaner eine Flaggenstreichung gewesen. Feuilleton. Joseph Joachim in Leipzig. Von Andreas Moser. (Schluß.) Wie warm aber der Antheil Schumann's an dem vielver sprechenden Talent des Knaben schon in der Leipziger Zeit war, bezeugt die folgende kleine Episode: In einer Abendgesellschaft bei Mendelssohn hatte dies«: mit Joachim die Kreutzersonate von Beethoven gespielt. Nach der Musik nahm die Gesellschaft in zwangloser Weis« an kleinen Tischen das Abendbrod ein. Joachim fand sein Unterkommen an einem Tischchen, an dem Schumann saß. Es war Sommerzeit, und durch die weitgeöffneten Fenster sah man den mit unzähligen Sternen besäeten Nachthimmel. Da berührte Schumann, der lange schweigsam dagesessen hatte, leise das Knie seines kleinen Nachbarn, und mit der Hand auf den Sternenhimmel deutend, sagte er in seiner unnachahmlich gütigen Weise: „Ob wohl da droben Wesen existiren mögen, die wissen, wie schön hier auf Erden «in kleiner Junge mit Mendelssohn die Kreutzersonate gespielt hat?" Auch di« Bekanntschaft Joachim's mit Clara Schumann fällt noch in die Leipziger Zeit, da er öfters das Glück hatte, mit der allverehrten Künstlerin musiciren zu dürfen. Erst das Hin scheiden der ehrwürdigen Greisin löste den innigen Freundschafts bund, der «in halbes Jahrhundert überdauerte und dem dir Mitlebentxn so viel« köstliche Stunden reinsten, ungetrübten Kunstgenusses zu verdanken haben. Es ist nur natürlich, daß Joachim nach mehrjährigem Auf enthalt in Leipzig Verlangen trug, sein« Lieben in der Heimath wieder einmal zu seh«n und ihn«n zu zeigen, was mittlerweile aus ihm geworden war. Da Liszt gerade in Wien weilt« und er diesen Clavierheros noch niemals gesehen und gehört hatte, so war das zugleich eine günstige Gelegenheit, sich durch eigene An schauung ein Bild von dem berühmten Künstler zu machen, über den di« widersprechendsten Gerücht« in Leipzig herumschwirrten. Joachim empfand damals schon eine ausgeprägte Abneigung gegen das specifische Virtuosenthum, und da man zu jener Zeit von Liszt nur als von dem glänzendsten Virtuosen der Welt sprach, so hatte sich bei ihm ein gewisses Dorurtheil gegen Liszt eingeschlichen, aus dem er Mendelssohn gegenüber beim Abschied kein Hehl machte. Darauf rntaegnrte dieser: „Na, Söhnchen, passen Sie nur gut auf; da ist so viel Schönes und Eigenartiges zu bewundern, daß ich sicher bin. Sie als vollständig Bekehrten wiedrrzusehen. Reisen Sie glücklich und grüßen Sie LiSzt von mir." Und Mendelssohn hatte recht mit seiner Vorhersage, denn LiSzt machte auf Joachim einen geradezu faScinirenden Ein druck als Künstler und al« Mensch. Im Hotel „Stadt London", wo LiSzt im März 1846 in Men wohnte, spielte er ihm dar Diolinconcert von Mendelssohn vor; LiSzt begleitet« ihn am Flügel. Heute bewahrt Joachim noch di« Erinnerung an Liszt'» wunderbares Clavierspiel, besonders an die unvergleichlich« Art, wie er das Finale des Concertes accompagnirte, wobei er immer die brennend« Cigarre zwischen d«m Zeig«- und Mittelfinger der rechten Hand hielt. Am 3. Februar 1847 wurde in Leipzig Mendelssohn's Ge burtstag in Moscheles' Hause festlich begangen, und der Gefeierte wurde durch di« ihm zu Ehren getroffenen Veranstaltungen in eine so kindlich frohe Laune versetzt, daß jener Tag noch lange in der Erinnerung d«r Betheiligten fortlebte. Unter Anderem wurden lebende Bilder in Charadenform über das Wort „Ge wandhausorchester" g«st«llt. Als «rste Silbe improvisirte Joachim, den man als Paganini verkleidet hatte, eine tolle Sache auf der ,,6-Sait«"; die zweite Silbe wurde dargestellt durch die Scene an der „Wand" zwischen Pyramus und Thisbe im „Sommernachtstraum"; im dritten Bilde veranschaulichte Frau Moscheles, mit einem Strickstrumpf in der Hand der Köchin wirthschaftliche Weisungen ertheilend, die Silb« „Haus", und zum Schluß dirigirte Joachim mit einer Marktgeig« in der Hand das „Orchester", gebildet aus Mendelssohn's und Moscheles' Kindern, die auf allerlei lärmenden Kinderinstrumenten Unfug verübten. Hierbei imitirte Joachim das Geburtstagskind durch Geberden und Redewendungen in so ergötzlicher Weise, daß Meister Felix Gefahr lief, in Lachkrämpfe zu verfallen. Men delssohn gestand nachher, daß dieser Geburtstag der schönste sein«s Lebens gewesen sei, — Niemand konnte ahnen, daß es auch sein letzter gewesen sein sollte! Im Frühjahr 1847 reiste Joachim in Mendelssohn's Gesell schaft nach London, wo der „EliaS" unt«r d«s Komponisten Leitung mehrer« Aufführungen erfuhr. Dies« Reise war d«r letzte größere ConoertauSflug Mendelssohn's und steht mit ihren Be gleiterscheinungen in Joachim'S lebhaftester Erinnerung. Zu dem bedarf eS wohl kaum d«r Erwähnung, daß rine solche Reise in solcher Gesellschaft für eine empfängliche junge Künstlerseele eine Fülle de« Belehrenden und Anregenden mit sich bringen mußte. Die Reise nach England, die anstrengenden Proben und Ausführungen in London hatten aber Mendelssohn diesmal kör perlich so angegriffen, daß er müde und abgespannt nach Deutsch land zurückkehrte. In Frankfurt wollte er sich einige Tage der Erholung gönnen. Allein «S war anders bestimmt: di« Nachricht von dem Tode seiner geliebten Schwester Fanny ereilte ihn da selbst und schmetterte ihn vollend» nieder. Seetisch und körper lich gebrochen kehrte er endlich nach Leipzig zurück mit der Ab sicht, dm größten Theil seiner bi»herig«n Thätigkeit aufzugeben, um sich mehr seiner Familie widmen zu können und hauptsächlich in tonschöpferischem Wirken seinem künstlrrischen Schaffensdrang Genüge zu leisten. Ein längerer Somineraufenthalt in der Schweiz schien für sein» Stimmung und s«in Befinden dm ge wünschten Erfolg gehabt zu haben, denn zu Anfang de» Winter» 1847 seh«n wir ihn wieder einen Theil seiner Functionen in Leipzig aufnehmen. Allein r» war nur noch «in kurzes Auf flackern seiner überanstrengten L«dm»geister: am 4. November 1847 schloß der herrliche Meister die Augm für immer! Die Kunde von dem Hinschetdm Mendelssohn'- wurde in der gesammtm Musikwelt mit größter Bestürzung und tiefst«: Trauer ausgenommen, denn überall hatt« man das schmerzliche Bewußt sein, daß die Kunst allzu früh einen ihrer edelsten Söhne, einen ihrer reinsten Priester verlor«» hatte! Für Joachim war der plötzliche Tod des verehrten und ge liebten Meisters txr schmerzlichste Verlust, der ihm in seiner langen, ereignißreichen Künstlerlaufbahn überhaupt widerfahren ist. In gleicher Weise an dem edlen, liebenswürdigen Menschen hängend, wie den feinsinnigen Künstler in ihm verehrend, gedenkt er stets in innigster Dankbarkeit alles Dessen, was er der ver klärten Lichtgestalt Mendelssohn's schuldet. Und mit dem Worte: „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich Mendelssohn nicht so früh verloren hätte!" will Joachim hauptsächlich an deuten, wie schwer er dm Verlust in Bezug auf seine eigene tonschöpferischc Entwickelung empfand und heute noch empfindet. In Mendelssohn's Nachlass« fanden sich fünf Tactstöcke vor, die er bei verschiedenen Gelegenheiten abwechselnd benutzt hatte. Jedes der vier Kinder erhielt einen davon zur Erinnerung an den geliebten Vater; den fünften schenkte die trauernd« Wittwe Joachim, eingedenk der herzlichen Zuneigung und künstlerischen Werthschätzung, die Mendelssohn dem Knaben stets entgegen gebracht hatte. Bei der Gedächtnißfeier, di« das Konservatorium anläßlich der ersten Wiederkehr von Mendelssohn's Todestag beging, spielte Joachim das tief aufgeregte und leidenschaftliche k'-moll-Quartett des verewigten Meisters und trug es, wie Moscheles sagt, „vor trefflich und ganz im Geists seines Schöpfers vor". Joachim hatte seit Jahren schon Ubungsweise in den Ge- wandhausccmcerten im Orchester mitgewirrt; mittlerweile war seine Tüchtigkeit und Routin« im Orchesterspiel so weit gediehen, daß er zum Dice-Koncertmeister ernannt wurde, als welcher er hauptsächlich im Theaterdimst mit David zu alterniren hatte. Dieser Thätiakeit hauptsächlich verdankt Joachim seine Vertraut heit mit dem Wesen der Orchesterinstrummte und dm verschieden artigen Klangwirkungen derselben, ein« Kmntniß, die doch wohl nur im praktischen Orchesterdienst durch eigen« Anschauung und Wahrnehmung, durch gewissermaßen handwerksmäßige Be- thätigaing, gewonnen werden kann. Lebhaft erinnert sich Joachim noch der Proben zu Schumann's Oper „Genovefa", die am 25. Juni 1850 ihr« erste Aufführung in Leipzig erfuhr. Der Komponist war von Dresden zu den Proben und der Aufführung herübergekommm, und Joachim hatte so Gelegenheit, die alte Bekanntschaft mit ihm nicht nur aufzufrischen, sondern dem verehrten Tondichter, für dessen Werke er eine immer wachsende Bewunderung und Liebe im Herzen trug, auch menschlich näher zu treten. Al» Sechzehnjähriger ist er überdies schon al» Lehrer am Leipziger Conservaiorium thätig, freilich mit der rigenthiimlichen Begleiterscheinung, daß die meisten seiner Schüler, von denen Langhans, Bargiel und Robert Radecke gmannt seien, zum Theil erheblich älter waren als der Lehrer. In dieser Eigenschaft fin den wir Joachim'« Namen auch unter dm übrig«» Lehrkräften des Leipziger Conservatoriums, die in corpore einen geharnisch ten Protest gegen vr. Brendel, den Rsdacteur der „Neuen Zeit- schrift für Musik", unterzeichnet hattrn, weil dieser, zugleich Lehrer an der von Mendelssohn gegründeten Anstalt, in seiner Zeitung den Artikel „Das Judenthum in d«r Musik" von einem Anonymus veröffentlicht hatte. Erst nach Jahren kam es heraus, daß dicser so viel Staub aufwirbelnde Aufsatz — mit der Fürstin Witgenstein zu reden — ,,uuc <ie ces xros^es dktise8 clc >Va^ncr" war. Von Compositionen Joachim's, die in die Leipziger Zeit fallen, veröffentlichte er als Opus 1 „Andantino und Allegro scherzoso für Violine und Orchester", seinem Lehrer Jos. Böhm gewidmet, und später erschien gemeinschaftlich mit zwei in Weimar componirtrn Stücken die It-ctur-Romanze, Moritz Haupt mann zugeeignet, als Opus 2 im Druck. Das letztgenannte Stück ist ein sprechendes Zeugniß für Vie musikalische Frühreife des jungen Künstlers und hat trotz seiner fünfzig Jahre nichts von seiner liebreizenden Anmuth verloren. In der melodischen Er findung von eigenartigem poetischen Duft und Zauber in der Klavierbegleitung von merkwürdiger Selbstständigkeit in der Stimmführung, trägt die klein« Romanze das Gepräge schlichter Vornehmheit und ungrsuchter Natürlichkeit — «in kleines Cabi netstllck, das die Geiger gerne spielen und das im lntimen Kreise niemals seine Wirkung verfehlt. Mit dem Heimgang Mendelssohn's hatte das Leipzig«! Musik leben für Joachim seine Hauptanziehungskraft eingebüßt, und da er den lebhaften Wunsch empfand, sich auch anderswo in der Welt umzuthun, um seinen künstlerischen Horizont zu erweitern, so nahm er Liszt's Vorschlag, als Concertmeister nach Weimar überzusiedeln, um so lieber an, als er sich von dem Um gang mit dieser glanzvollen KUnstlerersch.'inung viel Anregendes und Belehrendes für seine eigene Weiterentwickelung versprach. Das Ausschlaggebend« für diesen Entschluß Joachim's war der Umstand, daß Liszt, auf dem Zenith einer beispiellos erfolg reichen VirtuosencarriSre st«h.'nd, es vermocht hatte, plötzlich allem äußeren Glanz und Ruhm zu entsagen, um in der weltab geschiedenen Stille der weimarischen Residenz als einfacher Kapellmeister seinen geistigen Neigungen und Idealen nachzu gehen. Zu einer solch seltenen Persönlichkeit in nähere Be ziehungen zu treten, mußte für einen jungen Künstler von dem hohen Streben Joachim's ungemein viel Anziehendes und Ver lockendes haben,- umsomehr, als mittlerweile auch seine wissen schaftliche Bildung «ine Stufe erreicht batte, >die ihn befähigte, sich in Kunstfragen auf sein eigenes Urtheil zu verlassen. Zur Zeit seines Abschiedes von Leipzig war Joachim auf dem besten Wege, ein Großer in seinem alten Berufe zu werden, oder vielmehr, wenn man die übereinstimmenden Urtheile der Zeitgenossen, die ihn kannten, in Betracht zieht, war er es als achtzehnjähriger Jüngling schon: denn sowohl im Vortrag der Bach'schen Sacken al» in dem der Concert« von Mendelssohn und Beethoven hatte er in deutschen Landen keinen Ebenbürtigen mebr, und auch als Quartettsvieler brauchte er den Vergleich mit Niemandem zu fürchten. Die nächsten Jahre sollten mit ihren verschiedenartigen Einflüssen dazu beitragen, sein Können inner lich und geistig noch zu vertiefen, um seinen Leistungen den Stempel höchster Vollendung aufzudrücken.
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