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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.10.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981029025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898102902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898102902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-29
- Monat1898-10
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Die seit gestern eingetroffenen neuen Meldungen über Ergebnisse der prentzischen LandtagSwahlcn geben zwar noch kein vollständig klare« Bild über die Stärke der Parteien im Abgeordnetenbause, sie reiche» aber hin, um erkennen zu lassen, daß unsere gestern ausgesprochene Annahme, das neue Hau« werde sich in der nächsten Legislaturperiode nur durch eine verhältnißmäßig geringe Verstärkung der Linken auf Kosten der Rechten von dem alten unterscheiden, voll ständig zutrifft. Die Einbuße, welche die konservativen Parteien erleiden, wird ihrem Anflusse wenig oder gar nicht« schaden, aber sie enthält trotzdem eine wichtige Lehre, die hoffentlich nicht unbeherzigt bleibt. Wie sich nämlich bei den letzten R e i ch S t a g s w a h l e n in Norddeutschland in den größeren Städten fast durch weg ein erhebliches Anwachsen der socialdemokratischen Stimmen zeigte, so hat diesmal ebenfalls in größeren Städten die Linke einen erheblichen Stimmenzuwachs zu verzeichnen, während die rechtsstehenden Parteien znrückgingen. So sind diesmal in Berlin in den 4 Wahlkreisen 5058 fortschrittliche Stimmen abgegeben worden gegen 3965 im Jahre 1893, während vieSiual nur 1026 konservative Stimmen abgegeben worden sind gegen 1347 vor 5 Jahren. Die konservativen Wahlmänner, die damals noch ein reichliches Drittel der Gesammtzahl der Wahlmänner ausmachten, stellen jetzt also gerade nur noch ein Fünftel der Wahlmänner dar. In einer Reihe größerer und mittlerer Städte, Halle, Frankfurt a. M., Wiesbaden, Görlitz, Elbing und sechs anderen mehr wurden 1893 für die Linke 1320 Wablmännerstimmeu abgegeben, für die rechtsstehenden Parteien 976; diesmal er hielt die Linke 1908 Stimmen, die rechtsstehenden Parteien nur 784. Die linksstehenden Parteien haben somit nahezu um >/z zugenommen, die rechtsstehenden Parteien '/» ver loren. Da auf dem platten Lande daS Berhältniß geblieben ist, wie eS 1893 war, so zeigt sich ein verschärfter Gegensatz der politischen Auffassungen von Stadt und Land auch bei den preußischen AbgeordnetenhauSwahlc». Nun wird man geneigt sein, die Fortschritte des Radikalismus in den größeren Städten auf die Betheiligung der Socialdemokraten zurückzuführen. Gewiß hat dieser Umstand einen Antheil daran, aber doch nur in beschränktem Maße. In Berlin z. B. haben sich die Socialdemokraten der Stimmenabgabe enthalten. Der Haupt grund liegt vielmehr in der prononcirten Städtefeind lichkeit der agrarischen Parteien, die alles, was etwa den Städten nützlich sein könnte, verwerfen. Es ist damit so weit gekommen, daß ein so durch und durch konservativer Mann, wie der westpreußische Führer von Puttkamer» Plaut sich zu der Mahnung genöthigt gesehen hat: „Wir wollen fordern, was wir nothwendig haben, aber nicht ab lehnen, waS Andere nöthig haben." Leider wird diese Mahnung von den Heißspornen der Rechten weder in der Presse, noch in der Volksversammlung, noch im Parla mente berücksichtigt. Da ist die große Stadt ein Sündenbabel, das man am liebsten vom Erdboden tilgen möchte, der Kaufmann nnd der Gewerbetreibende sind nutzlose Drohnen und Schwindler, jeder Bewohner der größeren Stadt ist ein Müssiggänger. Und doch kann auch das platte Land nur bestehen, wenn es größere Städte als Mittelpunkte und Absatzgebiete hat. Dieser sinnlose Haß, mit dem man die Städte schädigen möchte, ohne daß der Landwirthschaft genützt würde, fördert den Radikalismus in den größeren Städten und erschwert eS den Nationalliberalen ungemein, die Couservativen zu unterstützen. Die Freisinnige Volkspartei hgt allen Grund, sich bei den agrarischen Heiß spornen zu bedanken. Bei den ReichstagSwahlen und noch mehr bei den Landtagswahlen von 1893 lag sie derart am Boden, daß ihr baldiges Hinscheiden von Tag zu Tag zu erwarten war; dem agrarischen Ueberschwang ist cü geglückt, die in den letzten Zügen liegende Partei neu zu beleben. Es ist nur bedauerlich, daß unter dem Anwachsen deS Radikalismus in den größeren Städten diejenigen, die die Schuld daran tragen, weniger leiden als gemäßigte Par teien, die naturgemäß den Schaden haben, wenn eine zu extreme Politik getrieben wird. Und darum ist eS sehr wenig angebracht, wenn die „Deutsche Tageszeitung" witzelt: „Es wäre ein hübscher Treppenwitz der Tagesgeschichte, wenn die Nationalliberalen mit ihrer Schaukelpolitik zwar das Ziel der Schwächung der konservativen Mehrheit ein klein wenig erreicht hätten, aber selbst den Haupttheil der Zeche bezahlen müßten." Die agrarische Presse sollte nicht Witze darüber machen, daß der Radikalismus auch in Preußen wieder an Boden gewonnen hat, sondern an die Brust schlagen und ausrusen: „meu culpa, i»ca culpa!" Wenn in der Art der agrarischen Agitation kein Wandel ein tritt, so könnte doch Wohl der Radikalismus nicht von heute auf morgen, aber über Jahr und Tag Fortschritte machen, bei denen auch wobt den geistvollen Politikern der „Deutschen Tageszeitung" der Humor ausgehen mochte. Man bat sich allgemach mit der Thatsache abgefunden, daß die deutsche Toetaldemokrattc von einem Gefühle tiefsten Wehs beschlichen wird, wenn in einem anderen Staate irgend etwas schlechter gestellt ist als in Deutschland. Deshalb wendet die socialdemokratische Presse alle erdenkliche Mühe auf, die Zustände in fremden Staaten rosiger erscheinen zu lasten, als sie sind, die deutschen Zustände schwärzer, als sie sich in Wirklichkeit verhalten. Alles aber, waS bisher in dieser kühnen Vcrtheilunz von Licht und Schatteu ge leistet worden ist, wirb durch eine geradezu imposante Thal des „Vorwärts" bei Weitem übertroffen. Der Fall TreyfnS hat Frankreich die Verachtung der gesammten civilisirten Welt eingetragen, aber der „Vorwärts" führt den — natür lich völlig überzeugenden — Nachweis, daß auch im Falle DreysuS nicht etwa Frankreich sich vor Deutschland zu schämen habe, sondern daß Deutschland als der sittlich viel tiefer stehende Staat sich vor Frankreich verkriechen müsse. Hätte sich der Fall DreysuS in Deutschland abgespielt, so würden nach der Meinung des „Vorwärts" Labori nnd Zola bereits im Zucht bause sitzen. Mau dürfe auch nicht etwa glauben, daß dieser Fall in Deutschland unmöglich wäre. „Der Lärm darüber — gewiß. Aber der Fall selbst? Der Fall Ziethen spielt in Deutschland, nicht im wilden Frankreich: Der unglückliche und zweifellos unschuldige Ziethen sitzt jetzt fünfzehn Jahre im Zuchthaus, ohne daß eS möglich gewesen wäre, die VolkS- massen und die Presse in Bewegung zu setzen, wie das in Frankreich für DreysuS geschehen ist. Da will es uns denn doch bedünken, wir hätten uns eher Vör den Franzosen zu schämen." — Der vom „Vorwärts" citirte Fall Ziethen ist zunächst der beste Gegenbeweis gegen die Behauptung, daß Labori und Zola in Deutsch land im Zuchthause säßen. Labori und Zola heißen, auf den Fall Ziethen übertragen, Liebknecht und Oberstlieutenant von Egidy, denn diese Männer haben wiederholt ihre Ueber- zeugung von der Unschuld Ziethen'S in Wort und Schrift mit Nachdruck vertreten. Sie sind aber dafür nicht ins Gefängniß gewandert, während Zola bekanntlich ein Jahr Gefängniß zudictirt erhalten hat, dem er nur durch die Flucht entgehen konnte. Sie sind auch noch nicht vom gebildeten und ungebildeten Pöbel beschimpft und bedroht worden, wie es Zola und Labori angethan worden ist. Im Falle DreysuS sind ferner gemeine Fälschungen von den Urheber» einaestanden und grobe Inkorrektheiten deS abnrtheilenden Gerichts nachgcwiesen, während im Falle Ziethen kein Nachweis für derartige Unge heuerlichkeiten erbracht werden konnte. Im Falle Drcysus ist seit Jahr und Tag das Wiederaufnahmeverfahren verweigert worden — erst jetzt eben wird der Gerechtigkeit ibr Lauf gelassen —, obwohl den regierenden Kreise» die Thatsache des inkorrekten Gerichtsverfahrens längst bekannt war; im Falle Ziethen müssen auch die eifrigsten Freunde des Berurtheilten zugeben, daß der Gerichtshof daö Wiederaufnahmeverfahren ablebnen m u ß, weil trotz aller Bemühungen nur cineMenge ge ringfügiger Einzelheiten und Wahrscheinlichkeiten beigebracht werden konnte, nicht aber eine entscheidende neue Thatsache. Der Fall DreysuS bat schließlich ein eminentes politisches Interesse, das dem Falle Ziethen abgeht, und cs ist daher ganz erklärlich, daß der Fall Ziethen in Deutschland nicht soviel Interesse erweckt und Lärm erregt, wie der Fall Dreyfus in Frankreich. Und wetin der „Vorwärts" sagt, daß man in Frankreich die Volksmassen nnd die Presse für DreysuS in Bewegung gesetzt habe, so ist auch dies eine Lüge, denn der größere Theil der Presse und der Volksmassen sind gegen DreysuS in Bewegung gesetzt worden; ist doch selbst ein Tbeil der Socialisten in Frank reich zu den antisemitischen Hetzern abgeschwenkt. Es ist traurig, daß ei» in deulscher Sprache erscheinendes Blatt ungeheuerliche Beschuldigungen und Lügen über die Zustände im eigenen Lande verbreiten darf, aber eS ist noch viel trauriger, daß die vielen Tausende von Lesern des Blattes einen unsäglichen Tiefstand von Gesinnung und Verstand er reicht haben müssen, denn sonst würde daS Blatt nicht wagen können, ihnen Derartiges vorzusetzen. Mit lebhaftem Bedauern muß die Nachricht von der Sprengung Ser Sentscheu Ptcmcinbürgschaft in Oesterreich alle Freunde der deutschen Sache im Reiche erfüllen. Es ist ein Theil der Gruppe kärntnerischer und Salzburger Ab geordneten im Verbände der deutschen Volkspartei, welche, ans dem radikal-nationalen Standpunkte stehend und stets einen Anschluß au die Schönerer-Gruppe suchend und das Aufgeben der Obstruktion bekämpfend, den trennenden Keil in die deutsche Opposition getrieben bat, die erst vor Kurzem sich auf den Standpunkt „iu äubüs liborius, in nccossaiiij unita«" emporgerungen hatte. Den Anstoß für den Austritt der genannten Gruppe aus der gemeinsamen Partei- Organisation gab der Umstand, daß bei der Abstimmung des Ausgleichsausschusses über den Antrag Groß von der Volkspartei: „ES sei über die Ausgleichsvorlagen zur Tagesordnung überzugeben und die Negierung werde auf gefordert, neue Verhandlungen mit der ungarischen Regie rung einzuleiten", die Vertreter des verfassungstreuen Groß grundbesitzes und die Vertreter der Mauthner-Gruppe gegen diesen Antrag gestimmt hatten. Da an dieser Abstimmung nur vierzehn Mitglieder der Parteien der Rechte» sich bc- theiligten, so bätte, falls die genannten Vertreter der beiden Gruppen der Linken mit den übrige» Mitgliedern der Linken im AuSgleichsauSschusse für den Antrag Groß gestimmt hätten, dieser die Majorität erhalten. Aber WaS wäre die wahrscheinliche Folge der Annahme VeS Antrags Groß gewesen? Die Heimsendung deS ReichSrathS und die Proclamirung deS § 14, welche die Deutschen gerade ver hindern wollen! Das ist ja auch zweifellos der Grund ge wesen, weSbalb fast die Hälfte der CommissioiiSmitgliedcr der Mehrheit bei der Abstimmung fehlte. Die Rechte wollte die Opposition zu der Annahme des Antrags Groß reizen und cs wäre ihr beinahe gelungen. Erfolglos war ihr Ma növer aber trotzdem nicht: die Rechte hat es jetzt mit einem getrennt marschirenden und wohl auch getrennt schlagenden Gegner zu thun. Vor dem Pariser CafsationShofc beantragte gestern der Gcneralprocurator Manau schließlich die Revision und die Annullirung des DreysuS - ProcesseS, seine Verweisung an ein neues Kriegsgericht und SuSpendirung der Strafe, während nach einem Tele gramm der „Köln. Ztg." der Berichterstatter Bard gefordert hatte, den Fall Dreyfus der MilitairgerichtSbarkeit zu en tzieh en und ihn vor den Cassationshof zu verweise», also vollständige neue Untersuchung und Ab- urtheilung durch den Cassationshof. Es muß con- statirt werden, daß zwischen den Anträgen der beide» Referenten ein sehr wesentlicher Unterschied besteht. Manau will Verweisung an ein neues Kriegsgericht, Bard Ver weisung an den CassationShof, weil er genug hat an den „Pslichtwidrigkeiten" der Militairgerichte, wie er sagte, nnd überzeugt ist, daß eine solche Behörde auf Grund der bis jetzt vorgelegtcn Dossiers schon den Antrag auf Erhebung einer neuen Anklage mit dem Einwand ..rosjuciicuta!' abweisen, oder wenn sie ja in eine neue Verhandlung cintreten sollte, zu dem selben Resultat kommen würde, wie daS Kriegsgericht vom Jähre 1891. Ob dieser Dissensus zwischen de» beiden Referenten von ungünstiger Wirkung auf die Entschließung des CassationshofeS sein wird, wird sich ja zeigen. Ganz ohne Befürchtungen nach dieser Richtung kann man auf Grund des Gerüchtes, der Gerichtshof beab sichtige sich hinter ein non liguet zurückzuzieheu, nicht sein. Einig sind beide Referenten in dem Verlangen der Auslieferung der Geheimacten, die die falschen Briefe deS Kaisers Wilhelm enthalten sollen. Dies Ver langen erregt iu den Kreisen des GeneralstabeS großen Schrecken. ES ist nicht unmöglich, daß der CassationShof die Auslieferung begehrt und man erwartet dann den Wider stand des Generalstabes, der jedoch ungesetzlich und revolntionair wäre. Man hätte dann einen schweren Conflikt des CassationSbofS mit der Militairgewalt zu gewärtigen. Neber die Lage in Marokko schreibt man uns aus Tanger: Die Partei des Prinzen Muley Mahomed, welcher als Thronbewerber der Mittelpunkt aller gegen die Person des jetzigen SultanS Abdul Aziz gerichteten Be strebungen gewesen ist, wird mit äußerster Grausamkeit ver folgt und muß augenblicklich als ohnmächtig angesehen werde». Der Prinz wird nach der amtliche» Versicherung gefangen gehalten,, doch dürfte er bereits seinen Tod gefunden habe». In der Provinz Tadla, in welcher die Gegenpartei die meisten An hänger zählte, wurden bisher 40 Häuptlinge und StammeS- älteste ergriffen und nach Fez iu den Staalskerker gebracht. Der Sultan trifft jedoch diese Anordnungen nicht selbst, sondern hat die gesammten Rcgierungsgeschäste seinem Groß vezier Bahamer» übertragen, welcher zur Zeit als Diktator unumschränkt gebietet, während der junge Sultan den größten Theil seiner Zeit mit der Pflege der Musik hinbringt. BemerkenSwerth ist jedoch, daß der Großvezicr im Allgemeinen ein Freund des Fortschrittes ist und besonders die Frage des Eisenbahnbaues angelegentlich studirt. Der frühere In- FeniHetsn. Die kleine Lulu. L4j Seeromao von Clark Russell. Nachdruck verboten. „Hier iS mihr, as ik jemals tau sluckcn hadd, sörredem ik en Mustrrroll unnerschrew'", schrie Welchy, indem er, seine Flasche hochhaltend, um das Deck tanzte. „Mak glik en Pott hrit Water, Polly", feuerte Suds den Koch an, indem er ihn mit einem Stoß in den Rücken der Küche zutrieb, „ik bün für ein richtigen Punsch. Schipper!" rief er mir zu, „fetten Sei uns vör acht Glasen irgendwo an Land, wo wi «n poor Citrons uplesen künn'; ik bün jetzt verdammten fein worn und müggt girn mien Punsch up de richtige Ort supen." Auf dem Deck umherspringend, lachend und brüllend, ver schwanden sie endlich in der Luke inmitten eines schweren Nebels, welcher die Brigg in diesem Augenblicke einhüllte. Mit bangen Ahnungen erwartete ich die Wirkung der Spiri tuosen auf die Leute. Sinnlos geworden durch ihre Unmäßig- keit, konnten sie in die Cajüte taumeln, wo Miß Franklin dann ihrer Willkür preisgegeben war, und auch die Sicherheit der Brigg gefährden durch ihre Unfähigkeit, zu arbeiten, falls der Wind sich drehen oder stärker werden sollte. Tief besorgt ging ich nach unten und trat bei Miß Franklin ein. Ich erklärte ihr kurz, was vorgegangen war, und beschwor sie, im Falle die Leute in die Cajüte kämen, ihren Muth zu be wahren, ihnen freundlich zu begegnen, keine Furcht zu verrathen und sogar auf ihre Einfälle einzugehcn; im klebrigen würde ich wissen, da« Schiffsvolk in die nökhigen Schranken zu weisen und sie vor jeder Beleidigung zu schützen. Das arme Mädchen war ganz entsetzt, kam auf mich zu, hing sich an meinen Arm, flehte mich an, sie nicht zu verlassen, und erklärte, daß, wenn die Menschen in ihre Cajüte kämen, sie vor Schreck sterben würde. Ich liebte sie in ihrer Furcht nur umsomehr und fühlte, wie mein Muth dadurch wuchs, aber ich sagte mir, daß gegebenen Falls ihre Schüchternheit meine Aufgabe, sie zu schützen, sehr er schweren würde. So, wie ich den Charakter betrunkener See leute kannte, sah ich voraus, daß die Bande sich durch ihre Angst beleidigt fühlen würde, dagegen war eS sehr leicht möglich, daß ein ruhiges, gelassenes Wesen selbst den Trunkenen imponiren konnte. Und doch, wenn ich ihr abgespanntes, bleiches Gesicht sah, mußte ich erkennen: da war kein Muth zu finden, auf den ich mich hätte verlassen können. Ich sah es kommen, daß ich würde kämpfen, für sie mein Blut vergießen müssen. Das war ja aber das Wenigste, wenn ich sie dadurch nur zu retten vermochte. Ich hätte mich für jedes hilflose Weib in ihrer Lage in die Schanze geschlagen, hier aber war cs noch die Liebe, die mich vor keinem Wagniß zurückschrecken ließ. Ich war vollständig be reit, mich für sie zu opfern. In ihre sanften, schimmernden Augen blickend, schwor ich ihr, mit meinen Lippen an ihrem Ohr, daß ihr kein Leid widerfahren solle, so lange ich noch einen Finger rühren könnte. Darauf ge leitete ich sie zurück auf ihren Stuhl, und mit der geflüsterten Bitte, doch Muth zu haben, drückte ich ihr innig die Hand und verließ sie. Als ich auf Deck kam, wurde ich von dem alten Banyard nicht sehr beruhigt, denn er theilte mir mit, daß die Leute be absichtigten, sich einen Festtag zu machen. „Das bedeutet", sagte ich, „sie werden heute Abend sammt und sonders schlafen und es dem Wind überlassen, der Brigg die Segel zu kürzen, wenn eine Bö käme." „Dat ward woll so sien", antwortete er. Der Koch kam und meldete, die Leute wünschten zum Mittag Pudding zu haben. „Wat ganz Extra's sall't sien, «in brennenden Pudding", sagt er, „mit en ganzen Boddel Brandy doräwer." „Gut", erwiderte ich, „nimm meinethalben ein ganzes Fatz Mehl, mir soll cs gleich sein; ich bin ja doch blos Euer Diener, es hat gar keinen Zweck, Ri mir Befehle einzuholen." Ich erkundigte mich nach Deacon, worauf Banyard mir mit- theilte, datz er im Vordercastell sei und seinen Antheil dem all gemeinen Vorrath beigefügt hätte. Ich, für meinen Theil, war es ganz zufrieden, datz er dort war, und Rschlotz, für ihn Wache zu halten, wenn er nicht nach hinten kommen sollte, da mir der Gedanke, datz er betrunken in die Cajüte kommen könnte, ganz entsetzlich war. Und wirklich, er blieb vorn. Vielleicht suchte er die Gunst der Leute zu gewinnen, indem er mit ihnen trank, wahrscheinlicher aber noch war es, daß er ein gutes Geschäft zu machen hoffte, das heißt , auf mehr Getränk rechnet«, wenn er seinen Antheil zur Masse schüttete, als wenn er auf diesen allein angewiesen wäre. Den ganzen Morgen über verhielten sich die Leute ruhig, manchmal tauchte Einer aus der Luke auf, warf einen Blick um her und verschwand dann wieder. Der Wind blies beständig, aber die langen Wogen über strömten das Vorderdeck bis zur großen Luke, und das Wasser sprudelte und schäumte in den Speigaten auf der Leeseite wie ein kleiner Wildbach. Es schien, daß die Leute bis jetzt verhältnißmäßig wenig getrunken hatten, denn erst nach dem Mittagessen begannen sie zu singen. "Zunächst noch in ziemlich gehaltenen Tönen, bald aber artete der Gesang in ein wüstes, wildcs Gebrüll aus, woran ich die Zunahme der Trunkenheit erkennen konnte. Banyard war um acht Glasen nach unten gegangen unv ich blieb auf Deck. Nur auf zehn Minuten verließ ich es, als der Koch unser Mittagessen brachte, um dieses für Miß Franklin zu präpariren und ihr hinzutragen, denn vorläufig hielt ich daran fest, daß Niemand als ich allein ihr Gemach betreten sollte. Eilig erzählte ich ihr, daß soweit Alles sicher sei, und bat um Entschul- digung, wenn ich mich gleich wieder entfernte, da ich die Wache übernommen hätte und die Leute im Auge zu behalten wünschte. Als ich wieder nach oben kam, hörte ich Alle schreien, was nur ihre Kehlen vermochten. Ich sah den alten Sam kommen, um das Rad zu übernehmen; seine Augen waren wie entzündet, er bewegte sich aber fest und sicher, und wenn sein Gehirn vielleicht auch etwas umnebelt war, so gab ihm der seemännisch« Jnstinct doch Klarheit genug, um das Steuer richtig und fest zu hand haben; ja, er widmete seiner Thätigkeit vielleicht mehr Aufmerk samkeit, als wenn er ganz nüchtern gewesen wäre. So lastete wenigstens diese Sorge nicht aus mir. Kurz nachdem Sam das Steuer übernommen hatte, wurde der Lukendeckel zurllckgeschoben und die ganze Mannschaft kam auf Deck. In diesem Augenblick wurde die Brigg von einer Sturzwoge getroffen, die auf sie niederpraffelte wie auf das Dach eines Hauses. Unter Flüchen, Gebalge und Gelächter schüttelten sie das Wasser wi« nasse Pudel ab. Diese Begrüßung machte äber, daß sie anhielten, umherblickten und offenbar sehr unent schlossen waren. Vier der Leute schienen schwer betrunken. Mit blassen Ge sichtern, das Haar über die Augen hängend und in unordentlicher Kleidung taumelt«» sie umher. Die anderen hatten verschiedene Stadien der Trunkenheit erreicht, und unter ihrem Einfluß, der ja, wie man sagt, di« Wahrheit an dcn Tag bringt, konnte man die verschiedenen Charaktere erkennen. Blunt, häßlich und finster, stieß roh und wüthend Jeden von sich, der bei dem Stampfen des Schiffes oder aus eigener Un sicherheit gegen ihn anprallte- Welchy gröhlte Lieder mit leb haften Bewegungen der Arme und Beine.. Suds grinste unauf hörlich, wenn er nicht laut lachte. Deacon predigte mit aus gestreckten Armen und Jimmy kaß bitterlich schluchzend am Deck hause. Die Meisten verriethen in mehr oder weniger manierlicher Art ihre liebenswürdigen Eigenschaften. Es stellte sich heraus, daß sie auf Deck gekommen waren, um zu tanzen. Suds mit seinem einfältig«» Gesicht stellte sich zwischen die Ohrhölzer am Bugspriet und begann, sein« Har monika zu martern; er entlockte ihr Töne, die wie das Miauen einer Katze klangen, welche man in den Schwanz kneift. Aber betrunken wie sie waren, getauft von der Sturzsee, welche sie voll ständig durchweicht hatte, angeblasen von dem kalten Winde, gaben sie bei dem schrägen, schlüpfrigen Deck das beabsichtigte Vergnügen auf. So schliche» sie also lallend, einander zurufend, wieder nach ihrer Höhle. Zuerst wurde Suds sammt seiner Harmonika hinabgestoßen, ihm folgte der ganze wüste Haufen, sich drängend und stoßend, in wirrem Durcheinander, als, zu meinem unend lichen Vergnügen, eine neue Woge sich wie «in Wasserfall über sie ergoß. Was hiernach bei ihnen weiter vorging, weiß ich nicht. Das letzte Bäd veranlaßte sie, die Luke mittels des Deckels fest zu verschließen; es drang nun kein Laut mehr auf Deck. Ich blieb bis vier Uhr auf meinem Posten, dann weckt« ich Banyard und fordert« ihn auf, das Steuer zu übernehmen; als dies geschehen war, befahl ich Sam, die Wache aufzurufen. Der alt« Mann schob den Lukcndeckel zurück, schrie und pochte, so laut er konnte, aber umsonst. Darauf stieg er hinunter, ließ jedoch von da ab nichts mehr von sich hören und sehen. Ich nahm jetzt Banyard das Räd ab und schickte ihn nach vorn, um sich von dem Zustand der Leute zu überzeugen. Er blickte, wie ich sah, in die Luke, konnte wohl aber bei der dort unten herrscbenden Dunkelheit nichts unterscheiden und stieg auf einmal kühn hinab. Nach einigen Minuten erschien er wieder auf der Bildfläche und kehrte mit einem breiten Grinsen auf seinem aus druckslosen Gesicht zu mir zurück. „Ein liggt ümmer öwer den annern as wo dod", sagte er; „äwerall trett man up zerbroken Boddeln, kein is mihr ganz. Sei h-bben sülwst Sams Bramwien nich schont, un de flucht un ßakcrirt nau ganz gottslästerlich, un schimpt sei Spitzbauws un Röwer; hei sänkt dorbi umher nah en Droppen, dreiht All'ns üm, finn äwer nicks." „Hängt die Lampe auch fest?" fragte ich. „De is utgahn", antwortete er. „Dann, alter Kerl, werden wir Beide allein die Brigg be dienen müssen, bis das Viehzeug nüchtern wird. Gott sei Dank, daß «s nun nichts mehr für sie zu trinken giebt."
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