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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.11.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-11-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981103021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898110302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898110302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-11
- Tag1898-11-03
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WaS der Kaiser, um seine Friedensgesinnung gegenüber der katholischen Kirche klarzulegcn, gethan und gesagt hat, seine Schenkung, seine Telegramme und seine Ansprachen, das entsprach nicht nur der gehobenen Stimmung eines Augenblicks, sondern dem stets bekundeten Friedens wunsche deS Herrschers. Wie aber steht eS auf der anderen Seite? Schöne Worte hat der Pater Schmidt ge sprochen, indem er versicherte, die Treue der katholischen Unterthemen des Kaisers solle „immer und immer unerschüttert und fest stehen". Pater Schmidt sprach im Namen desVereinS vomHeiligen Lande. Da muß man sich denn daran erinnern, daß vor einigen Wochen daS officiellc Organ dieses Bereins eine ganz andere Gesinnung kundgethan hat. Gerade dieses Organ, das „Heilige Land", war das erste deutsche klerikale Blatt, welches das deutsche Protektorat über die Katholiken im Orient nur mit einer sehr großen Ein schränkung anerkannte und Letzteren daS Recht zusprechen wollte, sich gegebenen Falls von Deutschland abzuwenden. Nur wenn Deutschland nicht etwa nur Leben und Besitz seiner katholischen Unterthemen im Oriente schütze, sondern auch deren rein katholische Interessen in vollster Ausdehnung fördere, solle das deutsche Protektorat als in Kraft stehend anerkannt werden; wenn aber die deutsche Regierung in der Förderung dieser Interessen versage, solle man sich an Frankreich wenden. Hier wurde also die „immer und immer unerschütterte Treue", von der Pater Schmidt sprach, direkt verneint. Die Treue sollte nicht unter allen Um ständen gelobt werden, sondern nur für den Fall, daß die deutsche Regierung nach dem Satze handeln würde: „Katholisch ist Trumpf". Der Gegensatz zwischen dem officiellen Organe und dem officiellen Festredner des deutschen Vereins vom heiligen Lande ist leicht zu verstehen. Als das „Heilige Land" die Bedingungen aufslellte, unter denen die deutschen Katholiken im Orient das deutsche Protektorat anerkennen sollten, befand eS sich unter dem Eindrücke der bekannten Ansprache des Papstes an die französischen Pilger; nach der Abberufung des preußischen Gesandten v. Bülow hat die vatikanische Diplomatie eS für zweckmäßig erachtet, jene Ansprache als durchaus unver fänglich hinzustellen; da nun der Klerus immer die Stellung einmmmt, die der Papst einzunebmen für gut findet, so konnte Pater Schmidt am 31. Oktober anders sprechen, als er vielleicht drei Wochen vorher hätte sprechen müssen. Zum Zweiten hatte ja der deutsche Kaiser soeben erst nicht nur die Interessen der deutschen Katholiken im Oriente geschützt, sondern sie sogar durch eine Schenkung positiv gefördert. Man kennt die Fabel von Timon von Athen. So lange Timon ein reicher Mann ist, der seine Freunde bewirthet und beschenkt, geloben sie ihm ewige Treue; als er aber seinen Besitz verliert und den Freunden nichts mehr schenken kann, wollen sie nichts mehr von ihm wissen. Wenn vielleicht einmal der Tag kommt, an dem der deutsche Kaiser den Klerikalen nichts schenken kann, sondern im Gegentheil im StaatSintereffe ihnen etwas verweigern muß, dann mag es ihm vielleicht gehen, wie dem Timon von Athen. Wir be zweifeln keineswegs, daß die trefflichen Worte des Paters Schmidt dem Redner vom Herzen gekommen sind. Aber die Regungen deS Herzens sind wandelbar, am wandelbarsten bei Denen, die im Denken und Empfinden abhängig sind von der vatikanischen Diplomatie. Bon dieser also wird es abhängen, ob die Versicherungen des Paters Schmidt die Probe bestehen, und vom Kaiser selbst wird es abhängen, ob man im Vatikan vor der Festigkeit seines Willen« und vor der Klarheit seiner Einsicht in die Natur des Klerika- lismus jenen Respekt bekommt, der ihn am wirksamsten gegen Undank sichert. Die Vorlage, welche besondere Maßnahmen zum Schutze Arbeitswilliger und zur Abwehr des Streikterroris- mus treffen soll, ist nunmehr ausgearbeitet und den ver bündeten Regierungen zugegangen. In wenigen Wochen tritt der Reichstag zusammen und dann wird, wie angenommen werden darf, ungesäumt die Einbringung der Vorlage erfolgen. Ofsiciös ist zweierlei betont worden: daß sie das Coalitions- recht nicht antaste und auch gegen das System des geltenden Strafrechts nicht verstoße. Das will besagen, daß weder das Recht, in den Ausstand zu treten und Mitarbeiter mit erlaubten Mitteln dazu zu veranlassen, verkürzt, noch die Zuchthausstrafe anders verhängt werden soll, als unter Umständen, die eine so entehrende Strafe auch an sich rechtfertigen. Die nationalliberale Partei wird das Coalitionsrecht schützen, aber auch unter allen Umständen daS Recht des Arbeiters, seiner Arbeit ungehindert nachgehen zu können. Inwieweit die Vorlage dem entspricht, kann natürlich erst dann beurtheilt werden, wenn man sie kennt. Daran kommt auch die Socialdemokratie nicht vorbei, die zwar sehr eilig daS Schlagwort „Zuchthausvorlage" ge münzt, aber sich wohl gehütet hat, zu bestreiten, daß that- sächlich in vielen Fällen Arbeitswillige des Schutzes gegen terrorisirende Genossen bedürfen. Sie hat sich in Folge dessen auch darauf beschränkt, für ihre Anhänger, die gegen „Streikbrecher" vorgehen, die ehrenhafte Gesinnung zu reclamiren. Der Gesetzgeber aber hat sich nicht um Phrasen und die ZukunstSmoral der Umsturzbewegung zu kümmern, sondern an die Tbatsachen zu halten und daran, ob diese That- sachen mit der bestehenden Staatsordnung in Einklang zu bringen sind. Als ein einwandfreier Zeuge wird in dieser Beziehung Wohl Freiherr von Berlepsch angesehen werden, der 1891 im Reichstag mittheilte, aus ganz Deutschland seien von allen betbeiligten Behörden Berichte eingegange», die zweifellos feststellten, daß der Zwang zum Streik, zur Coalition in unerhörtem Maße zugenommen habe; daß Arbeiter ungemein häufig auf der Arbeitsstätte, auf dem Gange von und zur Arbeit angegriffen würden; daß Be lästigungen und Drohungen die Arbeiter bis in ihre Woh nungen verfolgten und sich gegen Frau und Kind richteten; daß Arbeiter häufig genöthigt seien, um zu ihrer Arbeit zu gelangen, Sonntagskleider anzulegen, und durch die Hinter- thür der Fabriken gehen, da sie nur auf solche Weise der Ueberwackung ihrer streikenden Genossen und den sich daran knüpfenden Folgen sich entziehen könnten. Ausschreitungen solcher Art waren die Versuche socialdemokratischer Maurer, in einen Keller geflüchtete arbeitswillige Eollegen auSzuränchern. Die Gewaltthätigkeiten beim Hamburger Riesenstreik und beim Piesberger Ausstand, wo Arbeitswilligen das Getreide auf dem Felde vernichtet und Fenster eingeschlagen wurden. Neuere Fälle solchen Terrorismus hat kürzlich die „Germania" den Socialdemokraten vorgerechnet, ohne widerlegt werden zu können. Wir haben schon einmal darauf bingewiesen und kommen jetzt wieder darauf zurück, daß vor allem Noth thut, für die künftigen Reichstagsberatbungen Vorkommnisse solcher Art in möglichst großer Zahl zur öffentlichen Kenntniß zu bringen, wie eS auch zu wünschen ist, daß die Ergebnisse der be kannten Umfrage, die der Reichskanzler durch daS NcichSamt des Innern bei den einzelnen Bundesregierungen hat veranstalten lassen, der Oeffentlichkeit unterbreitet werden. Ist die Ge fahr da, daß die socialdemokratische Terrorisirung die Gewalt über die Arbeiterschaft an sich reißt, dann muß die Oeffent lichkeit auch nachdrücklich darauf hingewiesen werden, damit sie aus eigenem Interesse rechtzeitig an der Abwehr theil- nimmt. Auf der anderen Seite aber wird auch aus Grund des vorzubringenden Materials zu prüfen sein, inwieweit die geltenden gesetzlichen Schutzbestimmungen ausreichen und ob es zum Theil an der Auffassung von Justiz und Polizei lag, wenn dem Bestreben der Socialdemokratie, unter gewaltsamer Einschüchterung der Arbeiterschaft einen gegen die bestehende Ordnung gerichteten Staat im Staate zu organisiren, nicht genügend entgegengewirkt werden konnte. Das belgische Ministerium Desmet de Naeyer wird dem am 8. November zusammentretenden Parlamente nun doch den seit Jahren erwarteten Wahlreforment wurf unterbreiten. Wie man weiß, führen die belgischen Liberalen seit Jahren ebenso heftige wie berechtigte Klagen über die schwere Benachtheiligung, die sie infolge des gegen wärtig in Belgien herrschenden Wahlsystems erleiden. Bei den letzten Parlamentswahlen vereinigten die Liberalen Uber 500 000 Wahlstimmen aus ihre Candidaten. Trotzdem be schränkt sich ihre Vertretung im Parlamente auf weniger als ein halbes Dutzend Abgeordneter. Die Socialdemokraten, die nur 350 000 Wahlstimmen ausbrachten, besitzen 32 Kammer mandate, wäbrend die Klerikalen, deren Stimmenzahl nicht ganz eine Million betrug, 110 Vertreter in der Kammer zählen. Nach langem Widerstande ist das Ministerium Desmet de Naeyer nunmehr zum Bewußtsein dieser schreien den Ungerechtigkeit gekommen, freilich nicht ganz durch den eigenen guten Willen, sondern mehr durch die ernste Drohung der liberalen Wähler, bei den nächsten Parlamentswahlen, falls bis dahin die Ungerechtigkeiten des herrschenden Wahl systems nicht ganz beseitigt würden, ausschließlich für die Socialdemokraten zu stimmen. Da ein weiteres Anwachsen der socialistischen Opposition ihr sehr gefährlich erschien, so ent schloß sich die Regierung zur Vorlage einer Wahlresorm. Die Frage ist nur, wie diese aussehen wird. Die officielle Presse verräth, daß das Ministerium das von ihm früher so viel bewunderte System der Minderheilsvertretung völlig fallen gelassen und beschlossen bat, die gegenwärtigen großen Wahlbezirke in kleinere zu zerschlagen, die höchstens zwei Ab geordnete und einen Senator zu wählen Kälten. Dies wäre ein werthvolles Zugeständniß an die liberale Partei, die damit Wohl den ihr gebührenden Einfluß in der Kammer wieder gewinnen könnte. Aber Alles kommt natürlich auf die näherenBestimmungen des Entwurfes an. Läßt sich die Regierung nicht vom Partei geiste, sondern nur vom allgemeinen Staatsinteresse leiten, so wird sie sich mit der Wahlreform ein großes Verdienst erwerben. Bei der bekannten extremklerikalen Richtung des Ministeriums Desmet de Naeyer wird man aber gut daran thun, mit dem Lobe zurückzuhalten, bis der Wortlaut des Wahlreformentwurfes vorliezt. Zum dritten Mal innerhalb eines Zeitraums von wenig mehr als einem halben Jahrzehnt ergreift Charles Tupuh, der ehemalige Gymnasialprofessor, die Zügel der Regierung in Frankreich. Erstaunlich schnell hat er sich vor wenigen Jahren, nachdem er als junger Abgeordneter in dem ersten Eabinet Ribot, Ende 1892, mit dem Unterrichtsministerium betraut worden war, zu den höchsten staatsmännischen Würden auf geschwungen. Am 5. April 1893, nach dem Sturz Ribot's, bildete er selber ein Ministerium, in dem er neben dem Vorsitz daS Innere übernahm, und als sein Eabinet zurück trat, wurde er, Anfang December 1893, zum Präsidenten der Kammer der Abgeordneten gewählt. Zum zweiten Male fiel ihm die Ministerpräsidentschaft nach dem Sturz des Eabinets Easimir - Perier, Ende Mai 1894, zu und er behielt sie damals bis Ende Januar 1895. Jetzt ist aufs Neue seine Zeit gekommen, da man einen Mann der Vermittelung, der Versöhnung der ver schiedenen republikanischen Gruppen braucht, zu welcher Auf gabe Dupuy, der ursprünglich den Radikalen sehr nahe stand, sich dann aber immer mehr zu gemäßigten Anschauungen be kannt bat, als der Berufenste gilt. Ribot, der neben ihm noch in Betracht kam, mußte bekanntlich für diesmal fallen ge lassen werden. Seine Ansichten in der Dreyfus-Sache sind zu be stimmt — nämlich unbedingt freundlich für den Deportirten —, als daß man nicht hätte befürchten müssen, durch seine Er nennung zum Ministerpräsidenten die ganze große Partei der für den Generalstab eintretcnden Straßen- und Kammer politiker in Harnisch zu bringen. Charles Dupuy hat ein mal Gelegenheit gehabt, durch Kaltblütigkeit und Selbst beherrschung eine gewisse Popularität zu erringen: das war damals, als der Anarchist Vaillant am 9. December 1893 in der Abgeordnetenkammer von der Tribüne eine Bombe in den Saal schleuderte, deren Wirkung zum Glück dadurch sehr abge schwächt wurde, daß eine neben dem Bombenwerfer sitzende Person ihn am Arme faßte und auf diese Weise das An prallen des Geschosses an eine Säule und damit ein vorzeitiges Explodiren desselben veranlaßte. Die ungeheure Aufregung, die sich aller Anwesenden bemächtigte, legte sich in dem Augenblick, als der damalige Kammerpräsident Dupuy mit großer Gelassenheit den Ausspruch that: ch,u seaueo eou- tinuo, die Sitzung geht weiter, eine Aenßerung, die seitdem zum geflügelten Wort geworden ist. Dupuy hat seine Stel lung zur Dreyfus-Affaire mit den Worten charakterisirt: „Jeder rechtschaffene Mensch wird sich dem Urtheilsspruch der Justiz beugen müssen." Trotzdem wird von der Dreysus- partei nickt ohne Besorgniß auf seine Vergangenheit hinge wiesen. Unter Dupuy's Mitregierung hat der Kriegsminister Mercier daS Verbrechen gegen Dreyfus inaugurirt, und Dupuy selbst hat die Volksvertretung jenes grausame Gesetz votircn lassen, daS dem unschuldig Verurtheilten die Tortur der Teufelsinsel aufcrlegte. Unter Dupuy'S Augen wurde das Märchen von den Geständnissen des TreyfuS gegen über dem Hauptmann Lebrun-Renault gedichtet. Nun soll Dupuy berufen sein, Herrn Freycinet zu stützen, damit die MilitairS gezwungen werden, vor dem Caffalionshof zu er scheinen, nm ihre finsteren Geheimnisse der Kritik prüfender Richter zu offenbaren. Dieser Mann, sagt man, ist kaum geeignet, die militaristischen Neigungen der Kammer zu über winden, und mag er am Freitag eine noch so große Majorität finden, so liegt in seiner Vergangenheit Grund genug zur Be fürchtung, daß am nächsten Tag schon wieder die republi kanische Einigung zersplittert, die er eben zusammeugeleimt hat. Der „Temps" bespricht die Faschodafragc und sagt, es sei schwer, zu glauben, daß die englische Regierung plötzlich die Verhandlung abbrechen, die Fassung einer beinahe ab geschlossenen Vereinbarung zurückweisen und eine brutale Aufforderung an Frankreich erlassen werde. Man müsse gleichwohl Alles vorauSschen, sich auf Alles vorbereiten. Es gäbe aber diplomatische Siege, welche theuer ge büßt werden. Wenn England seinen augenblicklichen Vor- theil mißbrauchen und Frankreich demüthigen sollte, so lause es Gefahr, eine Aenderung der internationalen Eon- Frrrilletan. Die kleine Lulu. 27j Seeroman von Clark Russell. Naibdruck vcrboNn. Mein« Zweifel führten mich zu einer neuen Ueberlegung. Wenn die Leute an ihrem Glauben an die Wahrheit von Deacon's Aussage festhielten, würde es dann klug von mir gehandelt sein, mich zu bestreben, ihnen Zweifel einzuflößen? Sie konnten sich vielleicht dann in, den Kopf setzen, ich wünschte sie von dem Schatz abzulenken, um ihn mir selbst anzueignen. Einen solchen Argwohn in ihren begehrlichen und nicht gerade sehr skrupulösen Herzen zu erregen, würde mein Loben gefährdet und damit allen Plänen ein schnelles End« bereitet haben, welche ich mir ausge dacht hatte, um Miß Franklin, die Brigg und mich selbst zu retten. Um die Therzeit an diesem Tage forderte ich Miß Franklin auf, in die gemeinschaftlich« Cajüte zu kommen und sich mit mir an den Tisch zu setzen. Dies gewährte ihr eine Abwechslung in d«r Eintönigkeit ihres Gefängnißlebens und frischte sie etwas auf. Es war wie in früherer Zeit, und sie vergaß für den Augenblick ihre Furcht vor d«n Leuten. Wie lieblich und schön sah sie im Schein der Lampe aus! Me zart waren ihre Wangen, wie ge dankenvoll und glänzend ihre Augen! Sie hatt« die Leute auf Deck durcheinander laufen hören und die seltsame Bewegung ge fühlt, als die Brigg steuerlos herumgeschw«nkt war und ihren Schnabel den tosenden Wogen zugedreht hatte; aber das liebe Herzchen, es hatte gottlob kein« Ahnung von der Ursache und Be deutung dieser Bewegung gehabt, nicht im entferntesten hatte cs geahnt, daß der Tod, d«r gräßliche, kalt« Tod, m diesem Augen blick uns umlauert hatte; diese Angst war ihr erspart geblieben. Wozu sollte ich sie nun jetzt noch mit Dem erschrecken, was vorüber war? Ich gab ihr daher nur «ine Beschreibung der Eis berge, wobei ich die große Gefahr, die uns von denselben gedroht hatte, ganz überging. Es war mir «in Genuß, zu beobachten, wi« sie bei dieser einfachen Erzählung, die Händ« fest ineinander gefaltet, mit ihren Augen gespannt an meinem Munde hing. Ich hatte kein« Eil«, mich niederzulegen, solange ich mich mit ihr unterhalten konnte. Der alte Banyard hatt« die Wache, und da di« Sterne glitzerten, al» er mich ablöste, hatte ich keine Sorge, daß die Leute auf dem Ausguck Eisberge erst sehen würden, wenn wir beinahe mitten unter ihnen wären. Den Curs der Brigg konnte ich üb«r meinem Kopf in dem Axiometer sehen, und ich brauchte nicht über die Schanzkleidung zu blicken, um beurtheilen zu können, daß die mächtigen Wogen, welche draußen donnerten und schäumten, uns eine Fahrt gaben, die, wenn sie nur einige Tage so,fortging, uns nach ruhigen Ge wässern und warmen Breiten bringen mußte. Um uns einander bei dem Lärm, den Wind und Wellen ver ursachten, besser verständlich machen zu können, stand ich auf und setzte mich dicht neben sie. Dies schien sie zu erfreuen, und ein Lächeln lag in ihren Zügen, wenn si« mich ansah. „Ich bin immer glücklich, wenn Sie bei mir sind, denn nur dann fühle ich mich sicher", sagte si«. „Als wir uns in dem Hotel in Bayport sahen, wie wenig hat uns da geahnt, was wir zusammen durchmachen würden!" „Lassen Sie mich nur einmal erst glücklich wieder in England sein, und nie, nie gehe ich wieder auf die See!" rief sie mit be zaubernder Lebhaftigkeit. Ich veranlaßte sie, von England und ihrer Heimath in Kent zu sprechen. Es war herrlich, dabei ihr schönes Gesicht zu be obachten und ihre holden Lippen von ihrem Garten, ihren Blu men, ihren Vögeln, ihren Büchern und all den hundert Kleinig keiten plaudern zu hören, die ihr Beschäftigung gewährten und mir ein Bild des stillen, beschaulichen Landlebens gaben, welches sie zu Hause führte. Ich hörte ihr mit jeder Fiber meines Herzens zu; kalt über lief es mich aber, wenn die heftigen Bewegungen des Schiffes mich plötzlich wieder herausrissen aus aller Seligkeit, die ich in ihrer Nähe empfand, und mich an die Lage erinnerten, in der wir uns befanden. Ach Gott, was stand ich aus, wenn ich dieses un heimliche Brausen und Rauschen des Wassers, dieses Pfeifen und Heulen des Windes hörte, wenn ich an das eisumgürtete Kap Horn dachte, welches unS nur eine halbe Tagereise fern lag, an die furchtbare Gefahr, der wir soeben entgangen waren, und an di« Verbrechergesellschaft im Vordercastell, von deren unberechen baren Launen wir abhingen. Alle diese Gedanken bewegten mich im Innersten, aber ich hielt sie tief verschlossen, denn ich war ja doch zu froh, daß dieses liebe Kind auf kur^ze Zeit einmal die Angst der Gegenwart in den friedlichen, glücklichen Erinnerungen vergaß. Aber das alte, unglückliche Thema, ihr Bruder, kam schließ lich doch wieder aufs Tapet. Sie wollte wissen, ob wohl Aus sicht sei, daß er gerettet war, und was er thun würde, wenn er daS Kap der guten Hoffnung erreichte? Ob er dann Wohl ein Kriegsschiff auSsenden würde, uns aufzusuchen und zu befreien, oder ob er heim nach England gehen würde? Ach du barmher ziger Gott, das war eine wahre Tortur für mich; was in aller Welt sollte ich ihr darauf antworten? Hier will ich gleich vorweg bemerken, daß man weder vom Capitain Franklin, noch von Mr. Sloe je wieder «twas gehört hat; damals aber konnte ein vertrauenseliges Gemüth ja noch immer Hoffnungen für ihre Errettung hegen. Was mich in dieser Beziehung betraf, so war ich aber auch schon damals ziem lich überzeugt, daß der Schiffer schon in der ersten Nacht, nach dem «r ausgesetzt war, umgekommen sei, denn der Wind, welcher sich erhoben hatte, mußte meiner Ansicht nach das Boot mit Wasser gefüllt und zum Sinken gebracht haben, selbst wenn es dreimal so groß und mit einem Segel versehen gewesen wäre, welches ihm die Möglichkeit gewährt hätte, vor dem Winde zu laufem Mir fehlte der Muth, ihr meine Gedanken zu verrathen, doch hielt ich es auch für gut, ihr allmählich die Sache im richtigen Lichte zu zeigen, damit sie sich nicht länger Hoffnungen hingäbe, welche in der Unkenntniß der Gefahren des Meeres ihren Grund hatten. Ich erklärte ihr daher die wenigen Chancen, welche Men schen in einem kleinen Boot auf bewegter See für sich hätten, daß solche Unglücklichen zuweilen von vorüberfahrenden Schiffen gerettet würden, manchmal wohl auch durch eigene Anstrengung festes Land erreichten, daß aber unfraglich die Meisten unkämen. Dies läge aber in des Allmächtigen Hand, sagte ich; wir wollten für des Capitains Sicherheit beten und das Beste für ihn hoffen; aber zu vi«l Vertrauen würde Thorheit sein; die grausame That wäre leider Gottes nun einmal begangen und ließe sich nicht ungeschehen machen, daher würden wir gut thun, alle Gedanken daran vorläufig zu verbannen, da sie uns nichts helfen könnten, sondern immer nur von Neuem aufregen und traurig machen müßten. Wir hätten überdem allen Grund, uns zunächst mit unserer eigenen Lage zu beschäftigen, die, weiß Gott, schlimm genug wäre. In dieser Weise suchte ich sie an den Gedanken zu gewöhnen, daß ihr Bruder ein todter Mann sei; an den Maat dachte sie, wie es mir schien, ebensowenig wie ich. Darauf kamen wir auf andere Dinge zu sprechen und saßen so «ine ganze Stunde beisammen, flüsternd über Hoffnungen und Pläne. Es war die angenehmste Stunde, die ich bisher verlebt hatte, denn ich hatte noch niemals gewagt, ihr meine Gesellschaft so lange aufzudrängen. Sie war heute Abend ruhiger, muthiger und mehr als seit langer Zeit wieder daS harmlos plaudernde Mädchen von früher. Ich hörte Banyard'S regelmäßigen Schritt über unseren Köpfen. Manchmal blieb er stehen, und wenn ich ihn auch nicht sehen konnte, so schielte er doch ohne Zweifel durch das Oberlicht oft auf uns herunter. Er hielt mich sicherlich für einen rechten Einfaltspinsel, daß ich eine langathmige Unterhaltung der Wärme des Bettes vorzog. Dieses Beisammensein war mir aber wie ein Sonnenstrahl nach tagelangem Nebel und Regen. In der Erinnerung sehe ich uns noch nebeneinander sitzen: sie in einer dicken Pelzjacke, ihr weißes Kinn tief in dem dunkeln Pelz vergraben, an den Händen Wollhandschuhe, durch deren Maschen ihre Ringe glitzerten; ich, der arme Jack, in einer groben Lotsen-Jacke, auf welcher das Schneewasser langsam trocknete, vorgebeugt und die Augen nicht abwendend von dem lieblichen Antlitz, Gesicht und Hände steif ge froren, aus Eitelkeit die eine Hand in der Tasche, die andere im Kopfhaar vergraben. Von dem Anprall der Wogen zittert die Bank, auf der wir beide sitzen, an der Decke schaukelt die Lampe, um uns her krachen die Kajütenthüren, der Sturm pfeift und heult, das Meer rauscht und braust, donnernd brechen seine Wogen sich am Bug, das Schiff zittert in allen seinen Fugen, die Balken und Spieren ächzen schauerlich und bergauf, bergab stürmt das Schiff im Dunkel der Nacht vorwärts. — „Es ist wohl Zeit, schlafen zu gehen", sagte ich, weil ich be merkte, daß sie ein Gähnen unterdrückte. Horch! Durch den Lärm von Wind und Wasser dringt das harte Stampfen eiliger Tritte das Deck entlang; sie kamen näher, und ich springe nach der Cajiitentreppe, um den Weg zu versperren; meine Hand ist in der Brusttasche an meinem Revolver. „Deacon het Jim erstochen", schrie eine Stimme. „Hei blaud as en Swien. Kümm'n Sei schnell helpen, eh' hei ganz dod is." „In Ihre Cajüte!" rief ich eilig Miß Franklin zu. „Ver riegeln Sie sich." Als ich sic hatte einjreten sehen und die Thür abschließen hören, setzte ich meinen' Südwester auf und stürzte auf Deck. Dort traf ich drei Leute, die gleichzeitig auf mich cinschrien; Alles aber, was ich verstehen konnte, waren ihre Flüche. Die Nacht war klar, aber dunkel. Niedrige Wolken jagten über die frostig leuchtenden Sterne. Der kalte Wind schnitt so scharf wie ein Messer, und rechts und links wälzten sich die wild bewegten schwarzen Wasser des Cap Horn. „Still!" rief ich, „nur Einer von Euch spricht! WaS giebt eS?" Der Mann, welcher antwortete, war Suds. „Jimmy was falsch, Wiel Deacon dat Rad verlatcn het. Ein Wurt gaw dat anner, un Jimmy dreiht sik üm un slägt na
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