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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.11.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-11-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189811205
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18981120
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18981120
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-11
- Tag1898-11-20
- Monat1898-11
- Jahr1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.11.1898
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BezugS'PreiS N der Hemptrxpedittou oder den kn Städte deztrl and den Vororten errichteten An-- oabestellen abgeholt: vierteljährlich ^»4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in« Hau- 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich S.—. Direkte tägliche Kreuzbandsendung ins Ausland: monatlich 7.50. Di« Morgen-Au-gabe erscheint um '/.? Uhr^ di« Abeud-AuSgabe Wochentag- um b Uhr. Nedaction und Expedition: JohanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- Abend» 7 Uhr. Filialen: klt» Klemm'» Sortim. (Alfred Hahn)» UniversitätSstraße 3 (Paulinum), LouiS Lösche, Katharinenstr. 14, part. und König-Platz 7. MpWr TaMatt Anzeiger. MtsöM des Königlichen Land- nnd ÄintsgerichLes Leipzig, des Nathes nnd Volizei-Ämtes der Stadt Leipzig, AuzeigenPreiS die 6gespaltme Petitzeile SO Pfg. Reklamen unter dem Redactionsstrich (-ge spalten) 50^, vor den Familirunachrichten (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzetchniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilage» (gefalzt), nur mit der Morgen-Au-gabe, ohne Postbeförderuuß 60.—, mit Postbesörderung ^l 70.—. Äunahmeschluß für Änzrigea: Ab end.Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittags 4UHL, Bei den Filialen und Annahmestrllea je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet- au die Expedition zu richten. Druck und Verlag vou L. Polz in Leipzig. 588. Sonntag den 20. November 1898. 92. Jahrgang. Aus der Woche. Wenn nicht abermals eine Aenderung in den Reise- bestimmungen des Kaisers getroffen wird, so dürfte die Eröffnung des Reichstags an dem ursprünglich dafür in Aussicht genommenen Tage, dem 29. November, stattfinden. In Berlin ist man wenigstens auf diesen Termin gefaßt. Zwischen Rückkehr und Eröffnung braucht keine längere Zeit zu liegen, da der Kaiser den politischen Tenor der Thron reden selbst angiebt und auch mit deren Stilisirung die Minister gewöhnlich nicht sonderlich bemüht werden. Selbst verständlich wird die morgenländische Reise in der Ansprache an den Reichstag Erwähnung und diese späterhin im Par lament ein Echo finden. Das Cenlrum macht sich offenbar zurecht, von Loyalität überzufließen. DaS ist natürlich; weniger begreiflich wäre eS gewesen, wenn der Plan eines Berliner Comilös, dem Kaiser einen an die Tage von 187 l erinnernden Empfang zu bereiten, sich verwirklicht hätte. Dieses Vorhaben hat mit vollem Rechte eine herbe Kritik erfahren. Unrecht aber war eS, die Berliner Eigenart, das „Berlinerthum", für den Gedanken verantwortlich zu machen. Die „Boss. Ztg." verlheidigt denn auch ihr Publicum gegen den Vorwurf mit großem Eifer und guten Gründen, nachdem sie schon vorher die Nichtigkeit der Legitimation der Mitglieder deS HuldigungS-CoinilvS, im Namen der Berliner Bürgerschaft zu handeln, einleuchtend dargethan. DaS Blatt kann sich auf die ganze einigermaßen beachtete Berliner Presse berufen, die theils vollendete Zurück haltung gezeigt, tbeilS dem Projekt in sehr entschiedener, die Tragweite der Orientfahrt freimüthig bemessender Weise entgegengetreten ist. Man bekam sogar das Wort „Barock- EnthusiaSmus" zu lesen. Die Berliner Presse ist wirklich nicht Schuld, wenn da und dort verkannt wird, daß der Kaiser in der Hauptsache eine Vergnügungsreise bei seiner Rückkehr hinter sich haben wird, und daß, soweit von einer Bedeutung di« Rede sein kann, diese in den Triumphen zu suchen ist, die bei dem zur Bethätigung protestantischen Selbst gefühls aufgenommenen Unternehmen der katholischen Kirche bereitet worden sind. Freilich spielte dabei auch daS Miß geschick mit, wie daS auf Reisen nicht selten vorkommt. So lesen wir in einem vom 3. November datirten Jerusalemer Briefe der „Germania": „Bei der am vorigen Montag im Anschluß an die Einweihung der Erlöserkirche stattgehabten Einweihung des neuen protestantischen Waisenhauses in Bethlehem, welche schon um 7 Uhr Morgens staltfand, war derKaiser nicht zugegen. Er fuhr vielmehr erst um 9 Uhr mit der Kaiserin und seinem gewöhnlichen Gefolge hinaus, besuchte die Geburtskirche und die Geburtsgrotte, abermals unter Führung von deutschen Franziskanern, die er sich ausdrücklich erbeten hatte, und be fahl dann, nach dein eine Stunde außerhalb Bethlehem- liegenden Waisenhaus« zu fahren. Der Kutscher verstand aber den Befehl unrichtig und fuhr nach Jerusalem zurück, und so kam es, daß der beabsichtigte Besuch deS protestan tischen Waisenhauses unterblieb." Dem genannten, auS be greiflichen Gründen gut unterrichteten Blatte entnehmen wir noch folgenden Bericht vom gleichen Tage: „Dem lateinischen Patriarchen Mgr. Ludovico Piavi stattete der Kaiser gestern zuitt zweiten Male einen selbstständigen Besuch ab; cS war in dem Empfangssalon ein Thronsessel für ihn hergerichlet, aber er weigerte sich, darauf Platz zu nehmen, nahm vielmehr den Patriarchen bei der Hand nnd führte ibn zum Divan, auf den er sich an der Seite des Patriarchen setzte. WaS während dieses halbstüncigen Be suches besprochen wurde, da- entzieht sich der öffentlichen Kenntniß; man wird aber nicht fehlgeben in der Vermutbung, daß die Unterredung die Protectoratsverhältnisse im Orient betraf. Beim Nachhausegehen vom Besuch beim Patriarchen äußerte der Kaiser zu einem Herrn seiner Umgebung: „So la ugeichdeulscherKaiserbin, wird Piavi Patriarch von Jerusalem bleiben." Wenn, um mit einem Berliner Blatte zu sprechen, der Versuch gemacht wurde, der dortigen, Bevölkerung „einen Begeisterungstaumel einzuimpfen", so hätte das allerdings mit Berufung auf deutsche Zeitungen geschehen können. Nur nicht auf Berliner. Im Lande macht sich allerdings die gedruckte Byzantinerei vielfach sehr breit und, wie nicht verschwiegen werden soll, zum hervorragenden Theil in nationalliberalen Zeitungen. Eine von diesen nannte die Kaiserreise sogar eine „That für des Reiches Wohlfahrt und Festigkeit". Es ist überhaupt nicht zu verkennen, daß ein Theil der Presse mithilst, dem deutschen Bürgerthum un richtige Maßstäbe über die Beurtheilung deS gegenwärtigen Regiments und seine vielgestaltigen Unternehmungen an die Hand zu geben. Es fehlt der Preßerörterunz viel zu sehr an männlicher Herbe; die Politik wird mit Vorliebe als „süße Speise" servirt und ein Engländer oder Amerikaner, der sich mit dem Studium unserer Zeitungen beschäftigt, könnte auf die Vermuthung gerathen, die politischen Leiter vieler von ihnen hätten über ein illustrirteS Familienjournal den Weg zu ihren gegenwärtigen Stellungen gefunden. Die Tbätigkeit mancher Staatsanwälte und Gerichte ist an dieser Erscheinung nicht ganz unbetheiligt. Aber sie erklärt nicht die „positive" Leistung eines großen TheileS der Presse und nicht einmal den Umfang, in dem er auf die Kritik Verzicht leistet. Die «Köln. Ztg." schreibt zwar soeben: „Wir geben ohne Weiteres zu, daß in den letzten Jahren reicher Stoff zu scharfer Kritik auf politischem Gebiete vorhanden war. Aber man wird ebensowenig bestreiten können, daß diese berechtigte Kritik von allen ernsten politischen Parteien und Zeitungen sehr ausreichend und getragen von dem Bewußt sein der Verantwortlichkeit, die mit dieser politischen Kritik verbunden ist, auSgeübt worden ist." Wir bestreiten die Richtigkeit des zweiten Satzes, WaS die Presse anlangt, zum großen Theil und, soweit die sonst im Gefühl der Verant wortlichkeit bandelnden Parteien in Betracht kommen, ganz und gar. Hätte die „Köln. Ztg." Recht, so würde die Publicistik, gegen die sich ihre Ausführungen richten — „Zukunft", „SimplicissimuS" u. s. w. — nicht das weite Terrain gefunden haben, auf dem sie sich beute bewegen darf. Die „Köln. Ztg." sagt zwar selbst, daß die zerstörende Kritik eine gewisse Befruchtung durch einen „wider lichen Byzantinismus" gefunden habe, aber sie streicht das gute Zeugniß, das sie vorher der gejammten „ernsten" Presse ausgestellt, wenigstens für sich selbst wieder aus, indem sie den widerlichen Byzantinismus als der Ver gangenheit angehörig bezeichnet. Wir sehen ihn im Gegentheil wachsen und selbst an der lippischen Angelegenheit seine landesverderberischen Künste probiren. Diese Sache soll jetzt von Preußen, daS sie eine Weile forcirte, nach der Vermuthung der „National-Ztg." verschleppt werden. Das läßt gerade nicht auf ein Gefühl des guten Rechtes schließen. Aber gleichviel. Zur Zeit steht nicht die Erbfolgefrage selbst, sondern die Telegramm-An gelegenheit auf ter Tagesordnung. Dies ist der richtige Name, mag die höfische Presse noch so oft von einer „Gruß geschichte" reden. Auch wenn dem Fürsten zur Lippe eine irrtümliche RechtSausfassung nachzuweisen ist, so wiegt dies federleicht wiegen gegenüber der Thatsache, daß ein deutscher Bundesfürst vom deutschen Kaiser härter angelassen worden ist, als jemals ein Rheinbundesfürst vom französischen Kaiser Napoleon. Die „National-Ztg." meint zwar, der Gras-Regent Ernst hätte sich nicht beschweren sollen, weil die Kleinheit seines Landes im Mißverhältnisse zu dem Acte stehe; schon Aristoteles habe gesagt, ein spannenlanges Schiff sei kein Schiff. Tas ist sehr geistreich bemerkt, aber eS liegt keine Machtfrage vor und „wo Ehre auf dem Spiel", da giebt eS nicht Große und nicht Kleine. Die „National-Ztg." hat sich denn auch bald wieder zu ihrer alten besseren Auffassung eigenermaßen be kehrt und über die einjährige Nespectirung der Befehle deS Grafen und seine plötzliche einseitige Nichtbeachtung durch einen neuen commandirenden General geurtheilt: „Das ist eine Rücksichtslosigkeit, die auch dem Kleinsten gegenüber un statthaft ist." DaS Berliner Blatt wäre vielleicht gar nicht auf den Gedanken verfallen, den Zollstock in die Hand zu nehmen, wenn das bewußte Telegramm statt nach Detmolv an den Senat von Lübeck ergangen wäre, eines Bundesstaates, der noch viel weniger Einwohner zählt als Lippe. Gegen über der geänderten Stellung zu dem Befehle deS Regenten wäre übrigens unseres Erachten» das von der „Köln. Ztg." citirte Spoltwort: „Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kar toffeln" bester angewandt als auf den Befehl selbst. Dieses Blatt entstellt den Sachverhalt ganz und gar, wenn eS den Regenten eine- Unrechts zeiht, weil früher einmal einem nicht regierenden Grafen Lippe die Erlaubniß zur Führung des PrädicatS „Erlaucht" in Preußen von Preußen nicht be willigt worden ist. Hier aber handelt eS sich um die Anrede im Lippischen, und die Erinnerung, baß an jener preußischen Verweigerung Bismarck betheiligt gewesen sei, ist so unglück lich, wie die Nennung dieses Namen» in dieser Affaire über haupt. Es läuft Alles darauf hinaus, der Welt einzureden, Graf Ernst hätte das Telegramm mit ergebenstem Schweigen hinnebmen müssen. Das aber war nicht zu verlangen und die Selbstverleugnung hätte reichspolitisch auch nichts genützt. Denn die anderen Bundesfürsten würden von der ungewöhnlichen Ansprache doch etwas erfahren haben und die Beunruhigung derselben wäre auch ohne förmliche Verwahrung nicht au-geblieben. Hierin liegt aber der Schwerpunkt der Angelegenheit und hierin wurzelt die Noth- wendigkeir, die dem Selbstgefühl eine» Bundesfürsten geschlagene Wunde radical zu heilen, statt sie nach innen weiter fressen zu lassen. Es grenzt an Ruchlosigkeit, wenn gesagt wird, daS Telegramm habe kein« staatsrechtliche Bedeutung, weil es von keinem Minister gegengezeichnet sei. Eine staatsrechtliche vielleicht nicht, aber eine staatliche im höchsten Grade, und wenn der Staat, in diesem Falle daS Reich, durch Erschütterung seiner Grundvcsten zum Schwanken gebracht wird, so wird da» Staat-recht eine sehr gleichgiltige Sache. Bei dem Unfug, den die gefällige Presse treibt, spielt auck, die Anklage des ParticularismuS gegen die Vertheidiger des lippischen Proteste« eine Rolle. In Wahrheit handelt eS sich darum, durch Remedur den Particularisten eine in Berlin geschmiedete gefährliche Waffe zu entwinden. Feuilleton. Todtenftier. Ein Bild au» dem Leben von 3o8 von Reutz. Zum Todtenfeste, 2V. November. Nachdruck verboten. „Mantel und Hut zum Ausgehen!" befahl Fräulein Hilde gard Wildhagen dem durch die Glocke herbeigcrufenen Dienst mädchen, iwoem sie mit äußerster Peinlichkeit sämmtliches Arbeitsmaterial und Handwerkszeug wieder in die zierlichen Fächer ihres eleganten Nähtisches einräumte, das sie bei ihrer fast übereifrigen Näharbeit benutzt hatte. Die ftrttggestellten Arbeiten, größtentheils Winterbedürfnisse für die Armulh, hatten sich durch Fräulein Hikdegard's Fleiß während der letzten Tage bedeutend vermehrt. Die Dame durfte sich rühmen, das thätigste, am meisten anerkannte Mitglied ihres selbstbegründeten Wohlthätigkeitsvereins zu sein. Und nicht einmal allein des ihrigen — wenn sie ihre menschenfreundlichen Würden, nach Art der Amerikanerinnen, auf ihrer Visitenkarte hätte verzeichnen wollen, würde der Raum auf den modernen, schmalen Visiten karten dazu nicht ausgereicht haben. „Soll ich das gnädig« Fräulein begleiten?" fragte da» Mädchen. „Nein! Nur der The« soll heiß sein, wenn ich zurückkomme!" Dabei setzte sie den einfachen, aber eleganten Sammethut vor dem Spiegel aufs Haupt. Die schwarze Kleidung stand ihr gut, das stark ausgeprägte, aber wohlconservirt« Gesicht mit seinem klugen, aber etwas männlichen Ausdruck vertrug absolut kein» zarten Farben. Sie, die in ihrer Jugend fast häßlich gewesen war, konnte jetzt, mit ihren fünfundvierzig Jahren für „ganz ansehnlich" gelten. Es glitt, trotz ihrer puritanischen An- schauungsweift, auch unwillkürlich ein Lächeln der Befriedigung über ihre Züge: als sie zum Bild des Vaters aufblickte, das sie zur morgenden Todtenftier schon mit einem sclbstgewundenen Jmmortellenkranz umrandet hatte, erschien sie im feuchten Glanz der Augen wirklich angenehm . . . Sie trocknete eine einzige, hervorquellende Thrän«, und wandt« sich zum Gehen, um vor Anbruch der Nacht sein geliebtes Grab auf dem Friedhof zu schmücken. Sie schritt über den nächstgelegenen Marktplatz der Großstadt, auf dem die Blumenverkäufer des Viertels ihre Maaren verschwenderisch ausgestellt hatten. Heute wartete ja ihrer die reichste Ernte! . . . Palmwedrl, vornehm, weihevoll, oder zu graziösen Kränzen geigen, herrliche Rosen, die ehe mals nur den Sommer schmückten, wie die Veilchen den Lenz, . und durch eine wunderbar vorgeschrittene Gärtnerkunst Alles so massenhaft, daß die Blumen dabei sogar ihren eigensten Charakter eingebüßt halten, der sie gerade mit einer ganz bestimmten Jahreszeit verknüpft«! Und daneben billig« Mooskränz«, mit buntfarbigen Papierblumen, für die Armuth — die aber doch reich an Liebe! . . . Fräulein Hildegard hatte mit der Wahl die Qual.... „Ich möchte auch einen Kranz haben, einen recht schönen!" redete in diesem Augenblick ein« silberne Kinderstimme an ihrer Seite, „aber sehr schön soll er sein!" Di« junge Verkäuferin reichte einem ungefähr neunjährigen Kind« ein«n Moo-kranz über den DerkaufStisch, der sich aber durch geschmackvolle« Arrangement Vortheilhaft au» der Masse hrrauShob. Die Klein« nahm ihn auch strahlend und dankbar, und händigte der Verkäuferin sehr eifrig einig« Nickel ein, welch« Er krampfhaft in der Hand trug. „Der Kranz kostet eine Mark, Kleine. Dies sind die Fünfzig-1 pfennigkränze", wies di« Verkäuferin ab. „Bitte, Fräulein, geben Sie mir doch den schönen Kranz I und noch Blumen für die Gräber", bat die Kleine inständig. „Ich bringe bas andere Geld — ganz gewiß!" „Borgen thun wir hier nicht! Du mußt einen billigen nehmen!" „Für wen ist der Kranz?" frug Fräulein Hildegard die Kleine, unwillkürlich durch die Situation, wie durch die Er scheinung der Kleinen interessirt. Das in einfache Trauer kleidung gekleidete Kind hatte für sie etwas Bekanntes, An sprechendes. „Für Mama!" „Wo ist Dein Vater?" „Auch todt — schon lange! Auch ein Brüderchen —" „Wo liegen Deine Eltern begraben, Kleine?" „Auf dem Centralfriedhof draußen vor dem Egrdienthorr." „Suche Dir Blumen aus für Deine Gräber — Rosen, Astern Reseda, was Du willst. Das Fräulein bindet Dir einen Strauß — nimm nur, auch den schönsten Kranz", sagte Fräulein Hilde gard freundlich. Die Kleine starrte die Dame einen Augenblick unverwandt an anscheinend zweifelhaft, ob sie im Ernst rede. Die Verkäuferin hatte schneller begriffen, sic begann schon ihre Zeit geschäftsmäßig zu benutzen, indem sie auch einige abgeknickte Blüthen zu dem Strauß verwandte. „Ich wünsche nur das Beste!" tadelte Fräulein Hildegard, „ich bezahle Alles!" Dann spannte sie den Regenschirm auf, weil der Novembernebel sich in Regen aufzulösen begann, zwischen welchen auch einzelne federartige Schneegebilde trieben, um niederfallend das aufgeweichte Straßrnpflaster allmählich in festem, winterlichem Frost erstarren zu lassen. Vorläufig nur Alles Näss« und Schmutz . . . Fräulein Hildegard winkte einem Wagen und sagt«: „Steig ein, Klein«, wir fahren zusammen!" Aber sie mußte ihre Aufforderung wiederholen, das Kind schien vollständig be nommen von dem Reichthum, mit dem es plötzlich überschüttet war. Endlich saß man drinnen beisammen, der Rücksitz war vollständig mit Floras Kindern bedeckt. Der Weg zu dem großen Gräberfeld« war ziemlich weit, zurrst durch belebt« Straßenz«il«n, dann durch «in Villenviertel, zuletzt zwischen Fabrikschornsteinen und Arbeiterwohnungen hin durch. Die Unterhaltung stockte, Fräulein Hildegard war wenig kinderlieb, und die Kleine hütete mit den Augen ihren Schatz. Um sich als Vorsteherin ihres WohlthLtigkritsvrreins gebührend zu unterrichten, frug die Dame endlich doch: „Wie lange ist Deine Mutter todt?" „Mama ist nun schon viele Wochen todt — rin Vierteljahr." „Wo wohnst Du jetzt?" „Ferdinandstraße 16, hinten heraus, bei Frau Seger, Frau Rendant Seger." „Die Dame ist eine Verwandte von Dir?" „O nein! Tante Schwester hat mich zu ihr gebracht — als Mama gestorben war! Und als Mama begraben war, kam Herr Pastor Werner mit einem anderen Herrn — ich glaube, es war em Bürgermeister. Sie sagten, daß ich hier bleiben sollte, bis ich vierzehn Jahre alt sei. Dann sollte ich ins Mutterhaus, weil ich auch Krankenpflegerin werden sollte, wie Tante Schwester. Mama habe es so gemeint! . . . Pastor Werner kommt manchmal, mich zu besuchen, und Tante Schwester auch! — Frau S«y«r bekommt auch G«ld für mich, sie holt «S jeden Monat vom Rathhaus. Es sind auch noch zwei Kinder bei ihr — wir spielen zusammen!" „Gefällt es Dir dort?" fragte das Fräulein weiter. „O — ja! — Aber, ach — wenn doch Ntama noch lebte!" entgegnete die Kleine thränenschluckend. Der Wagen hielt; man stieg aus, und betrat zusammen, blumenbeladen, den Friedhof. Die Kleine schien vollkommen vertraut mit der Oertlichkeit des Gräberfeldes, mit Gruß und Dank verschwand sie bald, um auf einem Seitenpfad die Gräber ihrer Lieben aufzusuchen. Fräulein Hildegard hingegen hotte einen ziemlich weiten Weg bis zu dem letzten Bett des geliebten Vaters. Langsam und gedankenvoll schritt sie zwischen den, den Hauptweg ein säumenden, mächtigen Akazien dahin, die ihr« leeren Blatt rippen wie Todtenfinger in die Luft streckten. Der Ernst und die Weihe des Ortes, der Zweck ihres Besuches und die Melan cholie des Novrmbertagrs »«reinigten sich in ihr zu stimmungs vollem Empfinden. Unwillkürlich schaute sie wieder und wieder aus nach bekannten Namen auf den Leichensteinen und damit — nach alten Erinnerungen: Vergangenheit un!d Gegenwart be gannen sich allmählich in Fräulein Hildegards Gedanken zu ver schmelzen. Sie sah sich wieder als langjährige Gefährtin des früh verwittwrten Vaters, der als Gelehrter doppelt einer Stütze bedurfte. Dann empfand sie sich jung und in heimlichem Ver kehr mit ihm, dem einzigen Manne, den sie geliebt hatte. Er war gleichaltrig mit ihr, Assistent des Vaters gewesen, und demselben schnell unentbehrlich geworden. So war er auch in dir Familie gekommen, und mit ihm ein neues, volleres, schöneres Leben! Denn bald hatte sich aus dem freundschaftlichen Verkehr zwischen der feingebildeten Proftssorentochter und dem jugendkräftig, geistvollen Arzte ein wärmeres Gefühl entwickelt, welches bei der leidenschaftlichen Natur Hildegord's schnell in Hellen Flammen emporgelodert war. Es geschah Aussprache und Treugelöbniß, ganz geheim ... Di« bald darauf erfolgte Niederlassung des jungen Doctors in einer Vorstadt bildet« den ersten Schritt zur Vereinigung. Da bemerkte Hildegard ein allmähliches Er kalten, während die eigene Leidenschaft wuchs. Sie forderte Erklärung, rückhaltlos. Was sie erfuhr, war Vernichtung! Der Geliebte gestand frei und unumwunden, daß er eine andere, heißere Liebe hege, die über ihn gekommen sei, plötzlich und un widerstehlich. Die Geliebte sei eine junge Volksschullehrerin, die er behandelt habe. Es geschah, wie er erwartet haben mochte: Hildegard Wildhagen wandte sich stolz, tödtlich verletzt . . . . Das Leben in der Großstadt erleichtert« den Bruch — man hörte nichts mehr von einander, weil man nichts hören wollte. Fräulein Hildegard lebte von dieser Zeit an nur der Wohlthätigkeit der Wohlanständigkeit und hatte sich über ihre äußere Lebensstellung auch keineswegs zu beklagen. Die kluge, vermögende Professoren tochter ward in der Gesellschaft nicht nur geduldet, sondern aus gesucht und bevorzugt, zumal es in der Gegenwart alte Jungfern nicht mehr giebt, sondern nur Verheirathete und Unverheirathete. Nur die Erinnerung ließ sie empfinden, daß sie einmal reicher gewesen war, als jetzt. Dann freilich brannte die Wunde, um somehr als das heiße Blut nach innen strömte, weil ihr stolzer Wille das kranke Herz von Anfang an vor der Welt verborgen hatte.... Sehnsüchtig, erinnerungsooll, grübelnd, war fl am Grab« des Vaters angelangt.... Sie wand ihre beiden köstlichen Palmenzweige um das weiße Marmorkreuz und legte einen Chrysanthemenkranz auf das letzte Bett des Vaters nieder. Dann brach sic ein paar Epheublätter, um sie als Erinnerungszeichen an ihren heutigen Besuch zu ver wahren, und wandte sich. Die rasch einbrechend« Dämmerung des Novembertages mahnt« energisch zum Aufbruch, auch di« Schaaren der Leidtragenden, welche heute zu ihren Lieben gewall- fahrtet waren, begannen sich längst zu zerstreuen. Erst als sie fast 'oen Ausgang des Friedhofes erreicht hatte, fiel ihr das verwaist« Kind wieder «in. Die Kleine war nirgends zu erblicken ... In neu erwachter Theilnahme schritt Fräulein Hildegard den Seitenpfad hinab, den die Kleine vor einer Viertelstunde eingeschlagen hatte — dort in nächster Nähe saß ja das Kind auf einem frisch behügelten, aber noch unbe pflanzten Grabe! Der Mooskranz lag daneben, die Blüthen des Straußes waren symmetrisch über die beiden benachbarten Gräber ausgestreut. Mitleidig, aber auch ein wenig neugierig, trat Fräulein Hildegard näher und sagte: „Ich wartete auf Dich — es dunkelt schon, komm!" Die Kleine fuhr auf, thränenüberströmt, doch ohne zu ant worten. „Draußen wartet der Wagen — wir müssen eilen! Komm, der Erdboden ist feucht, Du wirst Dich erkälten!" Di« Kleine erhob sich jetzt und trat Fräulein Hildegard ent gegen. Aber die Dame steht plötzlich starr und stumm und blickt unverwandt nach dem einfachen Eisenkreuz hinüber, das auf dem angrenzenden wohlgepflegten Grabe aufgerichtet war. Sie liest mit bebenden Lippen: „Bernhard Peikert, vr. meck. Ist das Deines Vaters Grab?" fragt sie stockend. „Ja, gnädige Frau!" „Dein Vater ist schon lang« todt?" „Ja, ich war noch rin kleines Mädchen!* „Du hast — Papa nicht gekannt?" „Doch — ich weiß auch noch, wft Papa aussah!" berichtete die Klein« triumphirend. „Er war groß und trug eine Brille. Wenn ich auf seiner Schulter saß, konnte ich an dir Decke reichen! — Ich weiß auch noch, wi« Brüderchen lebte — dort liegt es be graben!" deutete sie auf ein letztes Kinderbettlein, das zu Füßen des Elternpaares ausgemacht war. „Wie heißt Du?" „Hilde — Hilde Peikert —" Ein Augenblick der Verwunderung, Freude, dann sagte die Dame, indem sie einen letzten, für einen tobten Freund oder Bekannten zurückbehaltenen Kranz schnell auf das Grab des Geliebten niederlegte, „komm, Hilde, wir halten unsere Todten feier morgen zusammen! Ich werde Nachricht senden, es wird Alles eingerichtet werden — alles! .... Du wunderst Dich? Aengstige Dich nicht und komme!" Es war eine wunderbar friedliche „Todtrnfeier", welche die Beiden am anderen Tage untereinander begingen; aus den ge meinsam vergossenen Thränen sprießte «in stiller, beruhigender Trost! Die kleine Hilde empfand seit dem Tode der Mutter zum ersten Male wieder ein lebendiges, persönliches Interesse und war voll rührender Dankbarkeit. Und Fräulein Hildegard empfand das herzliche Anschmiegrn der Kleinen al» etwa» wunderbar An genehmes, Süßes, NiebesesseneS! Dazu blickten sie die Gold pünctchen in den braunen Augen de» Kinde» mit dem naiv schelmischen Ausdruck des Geliebten an, so daß ihr ordentlich jung umS Herz wurde. Am Abend war ihr Entschluß gefaßt, nein, sie ließ sich den unverhofft gefundenen Schatz nicht wieder ent reißen! Sie war leistungsfähig genug, um neben ihrer Vereins- thätigkeit auch dem eigenen Glück sein Theil gönnen zu können. Ja, sie ahnte, daß sie, durch Zärtlichkeit eines Kindes, ihres Kindes, beglückt, frohen Herzens noch mehr leisten werde! . . . . Die einleitenden Schritt« waren bald gethan und damit die diesjährige Todtenftier auf ihrem einsamen Lebenspfad« zum blumenumwundenen Meilensteine lebendiger Liebe geworden!
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