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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.12.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-12-12
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981212021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898121202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898121202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
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Der Byzantinismus hat im „Deutschen Adels blatt" einen staatsgefährlichen Charakter angenommen, den zu beleuchten für die vaterländische Presse um so mehr Pflicht ist, je kecker da« genannte Blatt für seine constitutionSfeind- liche Theorie auf die preußische Verfassung und auf den Geist sich beruft, der Preußen und Deutschland groß gemacht habe. DaS Organ der „Deutschen AvelSgenoffenschast" behauptet, wenn der Kaiser sein eigener Kanzler sei, so entspreche das „vollständig der preußischen Ver fassung und demjenigen Geiste, der Preußen uao Deutschland groß gemacht hat." WaS zunächst die Berufung auf die preußische Verfassung anlangt, so ist es unmöglich, aus dem Rechte deS Königs zur Ernennung der Minister die Auf fassung herzuleiten, daß der Monarch sein eigener Minister sei; denn einmal wären dann die Mistister ja überhaupt überflüssig und zum Zweiten läßt sich jene Auffassung nicht vereinigen mit der Bestimmung in Artikel 44: „Alle Regierungs acte des Königs bedürsen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit über nimmt." Die Ausschaltung dieser ministeriellen Verant wortlichkeit durch das „Deutsche Adelsblatt" zeigt, daß letzteres weder das Wesen unseres Versassungslebens, uoch den Geist, der Preußen und Deutschland groß gemacht hat, kennt. Niemand anders als Fürst Bismarck ist eS gewesen, der die ministerielle Verantwortlichkeit direct als das Wesen unseres Verfassungslebens bezeichnete; das geschah in einem Augenblick, da Fürst Bismarck in gewissem Sinne die Summe seiner Thätigkeit als verantwortlicher Minister zog: eS geschah am 18. März 1890, an jenem Tage, an welchem er dem Kaiser sein von diesem gefordertes Entlassungs gesuch vorlegte. Hat das „Deutsche Adelsblatt" wirklich vergessen, was Fürst Bismarck in diesem Gesuch über die ministerielle Verantwortlichkeit ausführte? Dann wollen wir das Gedäcbtniß des „Deutschen Adelsbl." aussrischen. Be kanntlich sollte Fürst Bismarck damals dem Kaiser einen Ordre-Entwurf vorlegen, durch welchen die CabinetSordre vom 8. September 1852, welche die Stellung eines Minister präsidenten seinen College» gegenüber behufs Aufrechterhaltung einer einheitlichen Politik regelt, aufgehoben werden sollte. Fürst Bismarck hat diesem Befehl nicht nachzukommen ver mocht und seine Auffassung mit einer Begründung motivirt, in der eS helßt: „Diese Ordre (vom 8. September 1852 Red.) . . . allein gab dem Ministerpräsidenten die Autorität, welche es ihm ermöglicht, dasjenige Maß von Verantwortlichkeit sür die Gesammtpolitik des Cabinet« zu übernehmen, welches ihm im Landtag und in der öffentlichen Meinung zugemuthet wird. Wenn jeder einzelne Minister Allerhöchste Anordnungen rxtrahiren kann, ohne vorbrrige Ver ständigung mit seinen College», so ist eine einheitliche Politik, für welche Jemand verantwortlich sein kann, nicht möglich. Keinem Minister und namentlich dem Ministerpräsidenten bleibt die Möglichkeit, für die Gesammtpolitik des Cabinets die ver fassungsmäßige Verantwortlichkeit zu tragen. In der abso luten Monarchie war eine Bestimmung, wie sie die Ordre von 1852 enthält, entbehrlich und würde es noch beute sein, wenn wir zum Absolutismus, ohne ministerielle Verantwortung, zurückkehrten. Nach den zu Recht. bestehenden verfassungsmäßigen Einrichtungen aber ist eia» präsidiale Leitung des Minister - Collegiums auf der Basis der Ordre von 1852 unentbehrlich. Hierüber sind, wie in der gestrigen Staat« - Ministerialsitzung festgestellt wurde, meine sämmtlichen College» mit mir einverstanden und auch darüber, daß auch jeder meiner Nachfolger im Ministerpräfidium die Veranwortlichkeit nicht würde tragen können, wenn ihm die Autorität, welche die Ordre von 1852 verleiht, mangelt." Von diesem Geiste beseelt, hat Fürst Bismarck Preußen und Deutschland groß gemacht, und als er die ministerielle Thätigkeit in dem Sinne, wie er sie auffaßte, nicht mehr sortsetzrn konnte, ist er aus dem Amte geschieden. Wenn irgend ein Minister vor ihm, so ist Fürst Bismarck trotzdem oder vielmehr gerade deswegen der Vertheidiger eine« starken KönigthumS gewesen. DaS „Deutsche AdelS- blatt" aber bindet sich lediglich die Maske eines VertheidigerS eines starken KönigthumS vor, wenn es unter Ausschaltung der ministeriellen Verantwortlichkeit dafür eintritt, daß der Kaiser sein eigener Kanzler sei: in Wahrheit untergräbt eS damit die monarchische Autorität. Die Freude, die im fortschrittlich-Ücmvkratischeu Lager des neuen Reichstags darüber herrschte, daß das ausschlag gebende Ecntrnm bei der Bildung des Präsidiums die Nationalliberalen ausschloß und dem volksparteilichen Herrn Schmidt-Elberfeld den Sitz deS zweiten Vicepräsidenten einräumte, ist rasch verflogen. Giebt man sich auch auf dieser Seite noch immer den Anschein, als hoffe man sich mit dem Centrum häufig in der „Abwehrmehrheit" zu befinden und mit seiner Hilfe alle „reactionären" Vorlagen zu Falle bringen zu können, so kann man doch die Sorge nicht bergen, die von Herrn Windthorst in alle Künste deS Handels eingeweihte CentrumS- fraction nicht selten mit den übrigen „reactionären" Frac- lionen Hand in Hand gehen zu sehen, sofern nur die Re gierung sich bereit erklärt, Herrn vr. Lieber und seinen Freunden noch weiter gehende reactionäre Forderungen zu erfüllen. Mit besonderer Beklemmung weist das Oraan der süddeutschen Demokratie, der „Beobachter", auf den Wunsch zettel hin, den „Germania" und „Köln. VolkSztg." der Re gierung vorlegen, um die Bedingungen anzugeben, unter denen das Centrum der Militairvorlage seine Zustimmung geben könnte. An der Spitze dieser Bedingungen stehen die lex Üoinro und das Jesuitengesetz. Der „Beobachter" be merkt zu der Präsentation der klerikalen Rechnung u. A. Folgende-: „Bon der Wiederzulassung der Jesuiten wollen wir vorerst ab- seheu. Wird aber die lex Heinde so gestaltet, wie das Centrum sie verlangt, dann geht das deutsche Volk Zuständen entgegen, wie sie in diesem Jahrhundert noch nicht bestanden haben. Selbst Kunst und Wissenschaft müssen umkehren und sich „unter das Gebot Gottes fügen", so wie das Centrum es versteht und aoffaßt. Es ist dann nur gut, daß unsere Classiker schon vor hundert Jahren ihre Werke versaßt und veröffentlicht haben; unter dem vom Centrnm verlangten Gesetze würde «in Lessing, ein Schiller und ein Goethe nicht mehr das schreiben dürfen, WaS sie geschrieben haben und was trotz Centrum und lex Loivxs zum unentreißbaren Eigenthum des deutschen Voltes geworden ist." So der „Beobachter". Man sieht, es fehlt den süd deutschen Demokraten durchaus nicht die Einsicht in das bilduntzsfeindliche Wesen der Centrumspartei. Schade nur, daß die Thaten der süddeutschen Demokratie jener Einsicht ganz und gar widersprechen. Ja Württemberg wie in Baden nimmt die süddeutsche Demokratie bei den Wahlen die Unterstützung des Centrums einerseits in Anspruch, andererseits gewahrt sie ihre Unterstützung dem Centrum gegen die Nationalliberalen, welche die Vertheidigung der Freibeit von Kunst und Wissenschaft gegenüber dem Centrum sich angelegen sein lassen. Aber auch pro grammatisch? fördert die süddeutsche Demokratie den KlerikaliSmuS. Sie verlangt in ihrem Programm die „Freiheit des Unterrichts", ohne zu bedenken, daß eine solche „Freiheit" die Herrschaft der Kirche über die Schule bedeutete. Leider besteht nicht die geringste Hoffnung, eS könnte in absehbarer Zeit die vorübergehende theoretische Bekämpfung des Centrums durch die Demokratie das Zusammengehen beider Parteien in der Praxis wesentlich beeinträchtigen. Man wird, wenn die CentrumSfraction des Reichstags trotz deS Vorhandenseins einer „Abwehrmebrheit" reactionäre Ge setze herbeisührt, über ultramontane Treulosigkeit klagen, aber doch den Ultramontanen fort und fort Heeresfolge leisten. Die ungarische Regierung hat sich gezwungen gesehen, da» Abgeordnetenhaus um eine Woche zu vertagen, da der Vorsitzende und der erste Vicepräsident infolge des Ent schlusses der Regierung, ohne Verfassung die Verwaltung weiter zu sührrn, zurückgetreien sind und der zweite Vice präsident krank ist. Die Frist von acht Tagen wird genügen, das Präsidium zu ergänzen, aber das Stück ist noch nicht zu Ende, wenn auch der Vorhang gefallen ist. Sobald daS Parlament wieder Zusammentritt, wird die Opposition von Neuem mit aller Kraft gegen die Regierung, speciell gegen die Person deS Ministerpräsidenten Baron Banffy und die liberale Majorität einsetzcn und jede ernste parlamentarische Arbeit, vor Allem daS Zustandekommen deS Ausgleichs mit Cisleithanien zu verhindern wissen. Ungarn befindet sich also gegenwärtig m demselben Zustand deS parlamentarischen WirrnisseS ohne Ende wie Oesterreich: Hier wie dort die Erscheinung, daß die Minorität der Majorität sich nicht fügen und dieser ihren Willen aufzwingen will. Aber si äuo kaciunt. ickem, uon est iäom. Unsere ganze Sympathie war und ist auf Seite der deutschen Minorität in Oesterreich, weil hier die deutschfeindliche slawisch-klerikal-feudale Majorität offenkundig auf die Knebelung und Vergewaltigung deS Deutsch- thumS aus ist. DaS deutscheElement in Cisleithanien ist die stärkste Stütze des Dreibundes. Schon deshalb muß man im Reiche wünschen, daß eS der deutschen Minorität gelingen möge, den Kampf siegreich hinauszusühren. Auch die Parteikämpfe in Ungarn betrachten wir vornehmlich vom Gesichtspunkt des deutsch-österreichischen Bündnisses auS, sehen uns darum aber genöthigt, hier im Gegentheil nicht der Minorität, sondern Banffy und der Majorität unsere moralische Unterstützung zu leihen. Allerdings hat Baron Banffy eS fertig gebracht, mit den österreichischen Staatsmännern ein Attentat gegen die österreichische Verfassung zu schmieden, um den Willen Ungarns bezüglich deS Ausgleiches ohne die Mitwirkung des Parlamentes zum Gesetz zu erheben, aber so sehr uns dies dem ungarischen Ministerpräsidenten entfremdet hat, auf der anderen Seite ist er und die liberale Mehrheit die starke, unerschütterliche Grundlage des Bundesverhältnisses, in dem Oesterreich-Ungarn zu uns und zu Italien steht, während die Opposition im Gegensatz zu Cisleithanien gerade die Elemente enthält, welche als die erbittertsten Feinde des österreichisch-ungarischen Dualismus bekannt sind. Mit dem Dualismus aber steht und fällt die Donaumonarchie, mit ihm steht und fällt der Dreibund. Und noch eins. Die ungarische Minorität birgt, wiederum im direkten Gegensatz zu Oester reich die Avantgarde RomS, sie ist die klerikal-rückschrittliche, deutsch- und dreibundfeindliche Phalanx, und gerade Banssn und die liberale Majorität waren eS, welche den gewaltigen Kampf gegen Rom und seine Gefolgschaft kraftvoll und erfolgreich durchgeführt haben. Man sagt, Banffy sei schuld an der Magyarisirung der Deutschen in Ungarn, aber auch sein Nachfolger wird diese Politik verfolgen. Man sagt, Banffy sei wegen der Hentzi - Affaire und wegen seiner alles Maß überschreitenden Wahlbeeinflufsungen der Minorität persönlich verhaßt und sie werde die Obstruction sofort auf geben, wenn Banffy verschwinde, allein auch Banffy'S Nach folger könnte der Opposition den Dualismus nicht opfern, und so würden die alten Parteikämpfe, auch wenn die Regierung wechselte, doch von Neuem anheben. Banffy ist am Sonnabend vom Kaiser sehr gnädig empfangen worden, er hat also noch einen festen Rückhalt. Hoffen wir, daß die klerikal-feudale Camarilla ihm denselben nicht doch neck en twindet. Immer zahlreicher und eindringlicher werden in Frankreich die Stimmen, welche einer Annäherung an Deutschland das Wort reden. Ja, der Gedanke der Versöhnung hat bereits solche Macht über die Gemüther erlangt, daß — man staune! — einer der fanatischsten Chauvinisten, Paul de Cassaznac, sogar bereit ist, auf Elsaß-Lothringen definitiv zu verzichten, wenn Deutschland dem arg von England bedrohten Frankreich zu Hilfe kommen will. Nachdem er in einem ,,1'oujour I'^nglLw'' überschriebenen Leitartikel seines Blattes „^utoritS" sehr zutreffend festgestellt hat, daß England den Krieg mit Frankreich um jeden Preis wolle und suche, so lange die Flottenmacht seines russischen und seines fran zösischen Rivalen der englischen nicht gewachsen sei, und daß Frankreich, von Rußland im Stich gelassen, jeden Conflict vermeiden müsse, aber sich schließlich doch auch nicht jede Herausforderung gefallen lassen könne, fährt er fort: Man muß Alles voraussehen und auch annehmeii, daß England uns in eine unerträgliche Existenz stürzen könnte. Wir rathen ihm aber, sich in Acht zu nehmen! Lange schon macht uns DeutsH- land mit einer Zielbewußtheit, die durch nichts verleugnet wird, kaum verhüllte Avancen. In dem Ueberschwange unseres getretenen und noch blutenden Patriotismus gehen wir noch immer so weit, uns zu fragen, ob e« nicht besser ist, die Beschimpfungen der Engländer hinzunehmen, als den Deutschen verdanken zu müssen, von ihnen befreit zu werden. Aber in vielen Herzen und gerade in den chauvinistischsten legt man sich bereits die Frage vor, waS grausamer sür das Vaterland sein würde: auf Elsaß-Lothringen zu verzichten oder für alle Zeiten von den Engländern aus den Meeren ver jagt zu werden und in einem Augenblicke die so theuer er worbenen Colonialgebiete verschwinden zu sehen? Man beginnt ernst die beiden Arten von Haß abzuwägen, den gegen die Deutschen, der im Laufe der Zeit etwas erkaltet ist, und den gegen die Engländer, der unerwartet wieder entzündet hell ausflammt. Würde es nicht vor- zuziehen sein, sich in ein vor dreißig Jahren grausam verstümmeltes Frankreich zu fügen, als sich der Eventualität auszusetzen, das furchtbare Ge- schick Spaniens zu theilen? Solche Gedanken, die vor Kurzem noch fast wie rin Blasphem erschienen wären, beschäftigen die FerrrHeton. Die Lettelmaid. 27f Roman von Fitzgerald Molloy. Nachdruck verboten. „Der Brief ist nicht von Hauptmann Dankers, der schreibt nur zum Quartalswechsel. Ralhe weiter." „Ich kann nicht", entgegnete sie verdrießlich, und ließ ihr Haupt wieder auf die Marmorplatte sinken. „Guy Rutherford hat mir geschrieben." Eine heiße Blutwelle stieg ihr ins Gesicht, ihr Herz that einen heftigen Schlag, aber sie rührte sich nicht. Eine Weile schwiegen Beide, dann sagte sie mit einem nervösen Zittern in der Stimme: „Ich dachte, er sei in Egypten." „Du wirst Dich erinnern, als er damals Rom so plötzlich verließ —" „Ja, ja." „Schrieb er mir, daß er mehrere Jahre in Egypten zu bleiben gedenke, sich vielleicht dort niederlassen würde . . . Aber ich kenne ihn und weiß, daß er nirgends lange aushält .... Er gedenkt auch richtig nach England zuriickzukehren." Im Geheimen und gegen ihr besseres Wollen hatte sie sich da nach gesehnt, ihn noch einmal zu sehen, wenn auch nur aus der Ferne. Jetzt, da die Befriedigung ihrer Sehnsucht in Aussicht stand, bebte sie vor dem Augenblick, wo dies geschehen könnte, zurück! O, sie wußte, daß er früher oder später kommen müsse! Ihr Gatte hatte soeben gesagt, daß Guy heimkehren wolle, aber nicht, wann dies geschehen werde. Sie mußte Gewißheit haben. Doch ehe sie noch fragte, fuhr der Lord gähnend fort: „Gegen Ende dieser Woche trifft der ruhelose Mensch hier ein." Das Helle Kerzenlicht, der starke Blumenduft wirkte plötzlich bedrückend auf Capri, sie glaubte ersticken zu müssen, und preßte erbleichend die Hand auf die Schläfe. „Ich habe heftige Kopfschmerzen, Du bist doch nicht böse, wenn ich mich auf mein Zimmer zurückzirhe. . . Wann, sagtest Du, trifft Mr. Rutherford in London ein?" „Segen Ende der Woche . . . Geh' zur Ruh«, mein Lieb, die heutige Anstrengung hat Deine Nerven überreizt." Er er faßte ihre glühende Hand, di« heftig in der seinen zitterte. „Ein kräftiger Schlaf wird Dir wohlthun", fügte er hinzu, ihren Arm in den seinigen schlingend und sie bis zur Thüre geleitend. „Nicht wahr. Du erlaubst, daß ich in meiner Zelle drunten noch eine Cigarre rauche?" Sie nickte stumm mit dem Haupte und stieg die breite, hell erleuchtete Treppe hinan, die zu ihren Gemächern führte. Er sah ihr nach, bis sie hinter einer Portiöre verschwand, und ging dann seufzend in sein Rauchzimmer hinunter. Dreiundzwanzig st es Capitel. Eine Woche nach seinem Abschied von Mrs. Stonex verließ Marc England, um seine Ferienzeit in der Bretagne zu ver bringen. Newton Marrix ließ in allen nennenswerthen Tagesblättern eine Notiz erscheinen, der junge Künstler sei Studien halber ins Ausland gereist, und seine Bewunderer könnten sich gefaßt machen, in der nächsten Saison wieder ein seiner würdiges Kunstwerk ausgestellt zu sehen. Marcus Phillips selbst kümmerte sich jetzt wenig darum, was die Presse und das Publicum von ihm dachte. Sein Ehrgeiz war erstorben, nicht minder seine Hoffnung für die Zukunft, es trieb ihn weit weg von der Stätte, wo sein Glück begraben lag. Er fühlte sich geistig und körperlich erschöpft und erhoffte von dem vollständigen Wechsel der Verhältnisse Besserung seines Zu standes. Vor seiner Abreise hatte er an Lord Harrick einen höflichen Brief geschrieben, ihn ersuchend, von dem Kauf der „Bettelmaid" abzustehen, da er sich entschlossen, das Bild selbst zu behalten. Schon am nächsten Morgen erhielt er die ebenso höfliche Ant wort, der Lord sei bereit, eine größere Summe für dasselbe zu bewilligen, falls die bereit» übersandte dem Künstler zu niedrig dünke, aber er sei nicht gewillt, den Kauf rückgängig zu machen. Marcu» mußte sich zufrieden geben. Al» die Groivenor-Galerie am ersten August geschlossen wurde, übersiedelte die „Bettelmaid" nach dem Harrick-House, wo sie auf Anordnung de» Besitzer» in Capri'» Boudoir auf gehängt wurde. Am Abend nach ihrer Ankunft in London führte Harrick seine Gattin in da» elegante, im Pompadourstil einge richtete Gemach und zeigte ihr da» Bild — von der Hoffnung be seelt, ihr damit eine Freude zu bereiten. Capri erbleichte beim Anblick ihre» Ich», da» mit einem Male olle unterdrückten Er- innerungen heraufbeschwor. Ihre Augen hafteten wie gebannt darauf, und der Abschied von Marc tauchte plötzlich vor ihrem geistigen Auge auf. Damals glaubte sie den Künstler zu lieben, jetzt wußte sie besser, was Liebe sei. Eine große, unendliche Leidenschaft erfüllte ihr Herz, gegen die sie ankämpfen mußte, trotzdem sie wußte, daß sie sie zu neuem Leben erweckt und daß sie ohne diese zu Grunde gehen würde. Je länger sie das Bild anstarrte, desto bleicher wurde sie und desto weher ward es ihr ums Herz, denn es sprach zu ihr von Tagen und Stunden reinen, ungetrübten Glückes, wie sie es nie wieder empfinden würde, von einer Vergangenheit, die für immer begraben sein mußte. Es war nicht nur ihr wohlgelungenes Por- trait, sondern auch der Spiegel ihrer Vergangenheit! In dem kindlich-unschuldigen, süßen Antlitz der „Bettelmaid" spiegelte sich ihr Bohemienleben wider, das sie als Trägerin eines alten Namens Nie mehr aufnehmen durfte. Die Vicomtesse Harrick konnte mit diesem Kinde des Impulses nichts mehr gemein haben, dessen träumerische und doch schelmische Augen sie vorwurfsvoll anzublicken schienen. Eine große Kluft, die nie mehr überbrückt werden konnte, trennte sie von der Vergangenheit. Nie. . . nie mehr! . . . Jetzt, da es zu spät war, wußte sie, daß es etwas Besseres und Beglückenderes gab als Reichthum! Hätte sie doch damals Marc's Worten Beachtung geschenkt, sie würde sich heute nicht so unglücklich gefühlt haben. Ja, sie verachtete das Geld und würde es willig für ihre Freiheit hingeben. Sie selbst hatte sich verschachert, ihre Seele, ihr besseres Ich für ein Phantom ge opfert! Und sie durfte dem Manne, dem sie sich verkauft, nicht einmal zürnen, denn er bemüht« sich, ihr den Himmel auf Erden zu gestalten. Wenn sie nur ihr Herz, ihr thörichtes Herz ersticken könnte, dann wäre daS Leben ja erträglich. „O Guy, Guy, warum mußte ich Dir begegnen!" schrie es in ihr auf. Lange stand sie mit krampfhaft ineinander gefalteten Händen bleich und wortlos neben ihrem Gatten, der vergebens auf den Ausbruch ihrer freudigen Ueberraschung harrte. Endlich faßte sie sich und sagte tonlos: „Es war sehr aufmerksam von Dir, das Bild hier anbringen zu lassen, aber es paßt nicht gut zu dem Stil diese» Gemaches, und Du wirst mir nicht zürnen, wenn ich es im Frühstückszimmer aufhängen lasse?" Sie würde es nicht ertragen haben, das Bild immer vor sich zu sehen. Ihr Gatte war zwar sehr enttäuscht, daß seine Auf merksamkeit ihr nicht mehr Freude bereitete; aber da sie die Ansicht aussprach, daß sie e» in einem anderen Zimmer unter gebracht wünsche, stimmt er ihr bei. „Ich danke Dir." Kein Wort wurde mehr darüber ge sprochen. Marcus Phillips bereiste die Bretagne und ließ sich endlich in dem kleinen, malerisch gelegenen Fischerdorf St. Jncet nieder. Er wohnte bei einem alten Fischer, dessen Häuschen auf einer kleinen Anhöhe stand. Von seinem Fenster au» konnte er das unendliche Meer beobachten, das hier fast ebenso blau schimmerte wie die Adria, und in dessen glatter Fläche sich Licht und Schatten, Sonne und Wolken wie in einem ungeheuren Spiegel widerspiegelten. Das Meer paßt sich allen Stimmungen des Menschen an. Das Meer kann, wenn wir fröhlich sind, mit uns fröhlich sein, und traurig, wenn uns Kummer drückt. Die murmelnden Wellen erzählen uns von den tausend Wundern, die Vater Ocean in seinen Tiefen verborgen hält, von seiner unendlich«» Macht und Stärke, von der ungebundenen Freiheit, deren man sich in seinem Reiche erfreut. Sein stürmisches Grollen erfüllt uns mit Angst und Bewunderung zugleich, sein Kosen und Lispeln er freut unser Ohr und Herz. Marcus war entzückt von dem stets wechselnden Anblick desselben, die kräftige und doch milde Luft, die einfache Lebens weise, der Verkehr mit den biederen und tüchtigen Fischern, die täglich ihr Leben aufs Spiel setzten, war von sehr wohlthuendem Einfluß auf seine Gemüthsstimmung. Er erhob sich bei Sonnen aufgang von seinem harten Lager, frühstückte Schwarzbrot» mit Milch und suchte dann, ausgerüstet mit Staffelei, Leinwand, Feldstuhl, ein geeignetes Plätzchen auf, um der Natur manches abzulauschen. Bald versuchte er es, eine Möve während ihres Fluges zu zeichnen, bald einen auf der Wasserfläche sich brechenden Sonnen strahl oder den weißen Schaum der melodisch an den Strand schlagenden Wellen. Er bemühte sich tapfer, durch ernste Arbeit den tiefen Schmerz niederzukämpfen und die bittere Enttäusch ung, die ihm den Glauben an das weibliche Geschlecht geraubt, zu vergessen. Anfangs wollte es ihm nicht gelingen, denn immer wieder tauchte das liebliche Antlitz Capri's vor ihm auf, es ver folgte ihn wie ein Gespenst, das er nicht zu bannen vermochte. In seinem Geiste nahm Capri an Allem theil, was er unter nahm, seine Phantasie beschäftigte sich unausgesetzt mit ihr. In jedem Fischermädchen, das ihm begegnete, fand er eine Aehnlich keit; bei der Einen erinnert« ihn di« Stimme, bei der Anderen die Augen oder der Gang an die verlorene Geliebte. Nach und nach jedoch vermochte er ohne Bitterkeit an diese, die längst das Weib eines Anderen geworden, zu denken. Ja, nach wenigen Wochen war er soweit, daß er ihr nur mehr selten einen Gedanken schenkte. Und dieses Wunder hatte die ernste Fee „Arbeit" voll bracht. Die Kunst sollte fürder seine einzige Geliebte sein, in ihren Armen wollte er Vergessenheit finden. Während er arbeitete, fühlte er sich vollständig befriedigt, aber in seinen Mußestunden empfand er eine innere Leere, die ihn unglücklich machte. Er war eine liebebedürftige Natur, dir sich an Jemanden klammern,
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