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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.12.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-12-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981221019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898122101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898122101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
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- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-12
- Tag1898-12-21
- Monat1898-12
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Vie Morgen^lv»gabe erscheint «m Ve? Uhr, di« Abend-Ausgabe Wochentag» um 5 Uhr. Nr-actio» und Erve-Uio«: L«h«»»e»»affe 8. Die Expedition ist Wochentag» nonnterbroche» geöffnet von früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. Filialk!,: Dtt» Klemm'» Lorti«. (Alfred HatznX UlliversitLt»srraffe 3 (Pauliaoss»), 8<uiA?ösche. Katdarinenstr. 2t. -art. und KSAgSpIatz 7. Bez«g-.PE A» der Hanptexpedilion oder h« d» Etckdt» driirk nnd den Vororte» errichteten Ao»- labestrvra abgrholt: vierteljährlich^lt^o, bei zweimaliger täglich« Zustellung in« (-aus KLO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertrstährlich 8.—. Direkte täglich« Kreuzbandiendung in» Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. MpMer TagMM Mzeiger. Amtsökatt -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Aathes im- 3?olizei-Ämtes -er Sta-t Leipzig. Arrzeigett-Pret- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pf^ Reckamrn unter demRedactiontstrich (4g- spalten) 50^L, vor den Familiennachrichte» (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Preis- ve^zeichniß. Tabellarischer und Zissernsay nach höherem Tarif. Extra-Vettagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Posibesvrderung vch 60.—, mit Postbesvrderuug 70.—. Annahmtschluß für ^nzei-en: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4Uhc. vei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde srüher. Anzeigen sind stet» an d:« Erpedttia» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in LeipziL «^5. Mittwoch den 21. December 1898. S2. Jahrgang. -Fürst Lismarck's Gedanken und Erinnernngen. XVI. (Fortsetzung.) Ich komme zu einem der lehrreichsten Capitel des ganzen Werkes, dem 30., das überschrieben ist: Zukünftige Politik Rußlands; es behandelt eine Frage von hervor ragender Wichtigkeit, eine Frage, die in einer verhältnißmätzig nahen Zukunft an uns herantreten kann und herantretrn wird. Seit 1879 hat Rußland eine Dislocation seines Truppenstandes vorgenommen, die mit ihren Truppenanhäufungen an den Grenzen von Deutschland und Oesterreich deutlich die Absicht wahrnehmen läßt, zu gegebener Zeit Europa gegenüber seine militairische Stärke zur Geltung zu bringen. Die Unruhe, die sich über diese bedrohliche Erscheinung der Gemüther in Deutsch land bemächtigte, hat sich einigermaßen gelegt, seitdem Fürst Bismarck in der gewaltigsten seiner politischen Reden, der Rede vom 6. Februar 1888, als Staatsmann sich über den Zusammen hang der Truppenanhäufungen mit Rußlands zukünftigen politischen Zielen äußerte. Der Leser der „GedaNken und Er innerungen" muß bei der Lectüre des 30. Capitels sich die Aus führungen von 1888 gegenwärtig halten. Ich setze sie (im Aus zug) hierher: „Es hat ja sehr leicht den Anschein, als ob die Anhäufung russischer Truppen . . in der Nähe der deutschen und österreichischen Grenzen . . . nur von der Absicht eingegeben werden könnte, eines der Nachbarländer . . . unvorbereitet zu überfallen und anzugreifen. Nun, das glaube ich nicht. Einmal liegt es nicht im Charakter des russischen Volkes . . . und dann würde der Zweck davon ganz außerordentlich schwer verständlich sein. Rußland kann keine Absicht haben, preußische Lanoestheile zu erobern; ich glaube auch nicht österreichische. Ich glaube, daß Rußland reichlich so viel polnische Unterthanen besitzt, wie es zu haben wünscht, und daß es keine Neigung hat, die Zahl der selben zu vermehren. Etwas Anderes von Oesterreich zu annectiren, wäre noch schwieriger. Es liegt gar kein Grund vor, kein Vorwand, der einen europäischen Monarchen veranlassen könnte, nun ganz plötzlich über seine Nachbarn herzufallen. Und ich gehe soweit in meinem Vertrauen, daß ich überzeugt bin, selbst dann, wenn wir uns durch irgend eine explosive Erscheinung in Frankreich ... in einen französischen Krieg verwickelt fänden, daß daraus der russische nicht unmittelbar folgen würde; um gekehrt, würden wir in einen russischen Krieg verwickelt, so würde der französische ganz sicher sein; teine französische Regierung würde stark genug sein, ihn zu hindern, auch wenn sie den guten Willen dazu hätte. . . . Sie werden fragen: Wozu denn die russischen Truppenaufstellungen in dieser kostspieligen Form? Ja, das sind die Fragen, auf die man von einem auswärtigen Cabinet, welches dabei betheiligt ist, nicht leicht eine Aufklärung fordern kann . . . Truppenaufstellungen sind . . Erscheinungen, über die man nicht . . . kategorische Erklärungen fordert, sondern denen gegenüber man mit derselben Zurückhaltung und Vorsicht seine Gegenmaßregeln trifft. Ich kann also Uber die Motive dieser russischen Aufstellungen keine authentische Erklärung geben; aber ich kann mir doch als Jemand, der mit der auswärtigen und auch mit der russischen Politik seit einem Menschenalter ver traut ist, meine eigenen Gedanken darüber machen; die führen mich dahin, daß ich annehme, daß das russische Cabinet die Ueber- zeugung hat . . ., daß in der nächsten europäischen Krisis . . . das Gewicht der russischen Stimme in dem diplomatischen Areopag von Europa um so schwerer wiegen wird, je stärker Rußland an der europäischen Grenze ist, je weiter westlich die russischen Armeen stehen. Rußland ist als Verbündeter und als Gegner um so schneller bei der Hand, je näher es seinen westlichen Grenzen steht mit seinen Haupttruppen oder wenigstens doch mit einer starken Armee." Die Situation ist im Wesentlichen dieselbe geblieben. Denn wenn auch das Bündniß zwischen Rußland und Frankreich nach der Verbrüderung von Kronstadt perfect geworden ist, so liegt Doch Rußland an sich ein Angriff au,' Leut?/ >nd s-rn. Wa-' könnte es dabei gewinnen? Rußland vermag kaum den deutschen Brstandtheil seiner baltischen Provinzen zu vertragen, wie sollte es danach trachten, das für gefährlich gehaltene deutsche Element durch einen so kerndeutschen Stamm, wie es die Ostpreußen sind, zu verstärken? Auch an polnischer Bevölkerung hat es mehr als es brauchen kann. Auch zum Angriffe auf Oesterreich dürfte Rußland kaum ohne Grund übergehen, wenn seine Aufstellungen im Westen beendet sind. Denn nicht an seinen Westgrenzen, sondern auf der Baltanhalbinsel und in Asien liegen die Inter essen, deren Wahrnehmung die Zukunft von Rußland gebieterisch fordert. Bismarck ist der Meinung, daß die Truppenaufstellung im russischen Westen auf keine direkte aggressive Tendenz gegen Deutschland oder Oesterreich berechnet ist, sondern nur auf Ver- theidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehen gegen die Türkei die westlichen Mächte zur Repression bestimmen sollte. Er hält für wahrscheinlich, daß Rußland nach Beendigung seiner Rüstung zu Wasser und zu Lande dem Sultan eine Garantie seiner Stellung in Konstantinopel und den ihm verbliebenen Provinzen anbiete, wenn er Rußland den Schlüssel zum Schwarzen Meere in Gestalt eines russischen Verschlusses des Bosporus gewähre, und die Möglichkeit der Annahme eines solchen Vorschlages durch den Sultan scheint ihm nicht ausgeschlossen, nachdem England und Oesterreich — das eine durch die Gladstone'schen Kund gebungen, das andere durch die Besitzergreifung von Bosnien und Herzegowina — sich von ihrer traditionellen Politik der Er haltung des türkischen Reiches offen losgesagt haben. Sollte der Sultan das russische Anerbieten abweisen, so würde Rußland vermuthlich mit seiner neugebildeten Schwarzen - Meer - Flotte die Stellung am Bosporus mit Gewalt nehmen und abwarten, ob sich irgend eine Macht findet, die sie ihm streitig macht. Wie hat sich Deutschland in solchem Falle zu Verhalten? Hat es Eng land oder Oesterreich mit den Waffen zu unterstützen, wenn sie versuchen sollten, Rußland durch Kriege zur Rückgabe seines Raubes zu zwingen? Bismarck verneint diese Frage unbedingt. ;Es würde im Gegentheil für Deutschland nützlich sein, wenn die Russen sich physisch oder diplomatisch in Konstantinopel fest setzten: „wir würden dann nicht mehr in der Lage sein, von England und gelegentlich auch von Oesterreich als Hetzhund gegen russische Bosporus-Gelüstc ausgebeutet zu werden, sondern ab warten können, ob Oesterreich angegriffen wird und damit unser casus belli eintritt." Darf Oesterreich die Festsetzung der Russen in Konstantinopel zulassen? Bismarck beantwortet diese Frage bejayend, und die österreichischen Staatsmänner der Zukunft werden gut thun, den Argumenten nachzudenken, die Bismarck für seine Ansicht bei bringt. Oesterreichs Betheiligung an der türkischen Erbschaft kann nur im Einoerstänvniß mit Rußland geregelt werden, „uno der österreichische Antheil wird um so größer ausfallen, je mehr man in Wien zu warten und die russische Politik zu ermuihigen weiß, eine weiter vorgeschobene Stellung einzunehmen. England gegenüber mag die Position des heutigen Rußland als verbessert gelten, wenn es Konstantinopel beherrscht, Oesterreich und Deutschland gegenüber ist sie weniger gefährlich, so lange es in Konstantinopel steht". Lehnt Deutschland ab, neutral zu bleiben, so lange Oester reich nicht gefährdet wird, so wird, meint Bismarck, Rußland ver suchen, Oesterreich zum Genossen zu gewinnen, das Spiel von Reich stadl wird sich wiederholen. Rußland hat zu Anerbietungen an Oesterreich ein weites Gebiet; es kann solche machen auf Kosten der Pforte im Orient, aber auch auf Kosten Deutschlands, und im letzteren Falle, „gegenüber solchen Versuchungen, wird die Zu Verlässigkeil unseres Bünonisses mit Oesterreich-Ungarn nichl allein von dem Buchstaben der Verabredung, sondern auch einiger maßen von dem Charakter der Persönlichkeiten und von den politischen und konfessionellen Strömungen abhängen, die dann in Oestereich leitend sein werden". Den deutschen Staatsmännern der Zukunst darf der rich tige politische Blick nicht fehlen, um das Schiff des deutschen Reiches durch die mancherlei Fährlichkeiten hindurchzu steuern, die als Klippen und Untiefen das Meer der Weltpolitik „Sei Wieder gut, Papa!" Weihnachtsgrschichte von Else Hofmann. Nachdruck verboten. (Schluß.) Der erste Tag vorüber, denkt Annemarie, und kein Brief von Fritz da! Er fühlt sich also getroffen und ist jedenfalls noch fassungslos, daß sie hinter sein erbärmliches Treiben ge- l. u.men ist! Aber wie hat er's nur übers Herz bringen können, ihr solch eine Treulosigkeit anzuthun! Nie kann sie ihm das verzeihen. Ein langes Leben liegt noch vor ihr, sie Wird es ihren kleinen Mädchen weihen, ganz und gar in diesen aufgehen. Sir werden in Zukunft keinen Vater mehr haben, also doppelt des mütterlichen Schutze« bedürfen! Lisi ist noch klein, sie wird ihren Papa nach und nach vergessen. Aber ihre Maria, dieser Liebling mit den klugen Kinderaugen, die wird immer und immer wieder nach ihrem Papa fragen, an dem sie so hängt! Das wird einen schweren Kampf geben, das Grdächtniß an den Vater in den Herzen der Kinder auszulöschen. Und jetzt Weihnachten vor der Thür! Weihnachten, das Fest der Liebe nennen fie's so wunderschön! Und man kann doch an keine Liebe mehr glauben, es aiebt ja keine, die treu ist! O ja, rine Liebe giebt'S, die ewig ist! Tiefe, volle Glockentöne klingen durch das Schneetreiben zu Annemarie herüber. Sie läuten den Sonntag ein. Dort die Spitze des Kirchthurms, in schwachen Umrissen sichtbar, sie deutet dorthin, wo diese ewige Liebe für uns sorgt. Mein Gott, betet Annemarie, schick ein Wunder, wie Du eins vor Jahrhunderten geschickt hast! Gieb Frieden in die zagenden Herzen Deiner Kinder! Ich bitte nicht nur für mich, Vater im Himmel, auch für die Anderen, für die ganze leidende Menschheit!" Das Herz der jungen blaffen Frau wird weit und groß. Weihnachtlich wird ihr im Innern, ein Wehen jener Liebe, die alljährlich einmal in alle Menschenherzen wie ein Hauch Gottes zieht, geht über sie hin. Und die Glocken klingen. . . . „Annemarie, ein Brief!" Die junge Frau springt auf. Sie hat ihn erwartet, den Brief, der die letzten Fäden durchreißen soll, die sie noch mit ihrem Mann verbinden, und nun er in ihren Händen ist, zittert sie und lehnt sich weinend an ihren Vater. Die ganze Schwere dessen, was sie gethan hat, kommt plötzlich über sie. Aber nein! rafft sie sich auf, sie war im Rechte, eS war ihre Pflicht, es gebot ihr der weibliche Stolz, das Haus ihres Mannes zu verlassen. Lisi wird zur Minna in die Küche gegeben, von woher gar bald drS Kindes Helle» Lachen bi» in die Stube dringt, in der Annemarie neben ihrem Vater auf dem Sopha sitzt, den Brief in Händen. „Soll ich ihn vorlesen?" fragt der alte Herr, dem seltsam angst wird, jetzt kommt ja die Entscheidung über seine» Kindes Glück und Herzensfrieden. Und Fritz hat so wenig geschrieben! Bedeutet da» Gutes?" „Ja, lies, Papa!" haucht Annemarie und zerknittert ihr Taschentuch in den feuchten, eiskalten Händen. Der alte Herr schiebt die Lampe heran und beginnt zu lesen. „Meine Annemarie! Du hast an mir gezweifelt, und ich bin Dir eine Erklärung schuldig. Alt ich Dich noch nicht meine Braut nannte, sprachst Du mir einmal davon, daß Du eine wahre Sehnsucht nach Schönheit in Dir hättest, daß Du e» al» eine Schwäch« Deiner- seit» bezeichnen müßtest, keine durch Krankheit entstellten Menschen sehen zu können. Erinnerst Du Dich Deiner Worte?" Der alte Herr blickte auf. Seine Tochter nickt ihm ernsthaft zu, wohl erinnert fie sich jener Worte. Und Annemarie erscheint sich jetzt recht klein und engherzig in ihrer damaligen Lebens auffassung. Der alte Herr liest weiter: „Wir standen im Wald, und um uns war Sonnenschein. Wie ein sorgloses Kind sprachst Du, das sich die Augen zuhält, wenn es etwas sehen soll, was es nicht sehen mag. Du wußtest nichts vom Ernst des Lebens. Und ich, der Dich liebte, ich wußte in diesem Augenblick, daß ich Alles thun würde. Deinen jungen, die Schönheit liebenden Augen alles Häßliche fern zu halten. Aber damit beging ich eine Sünde, und jetzt bin ich dafür gestraft. Es giebt Wesen, auf die Gott alle Schönheit ausgegossen hat, Wesen, die zur Freude ihrer Mitmenschen da sind. Aber im Gegensatz zu diesen Sonnengeschöpfen giebt es armselige Krea-r turen, geistig und körperlich entstellte Geschöpfe, die nie am Born der Freude, nur am Born des Leides trinken dürfen. Spiel der Natur! Hier schafft sie Entzückendes, die Herzen Eroberndes, dort Abstoßendes. Annemarie, Dir, Deinem Schönheitsdurst zuliebe, schwieg ich ein Wesen todt, das zu mir gehörte, meine Stiefschwester Sophie Weber!" Dem alten Herrn entsinkt das Briefblatt und entfällt seinen zitternden Händen. Und er braucht jetzt diese Hände, sie auf seiner Tochter Haupt zu legen. Lachend und weinend zugleich schlingt Annemarie ihre Arme um des Vaters Hals. Wie Bergeslast fällt es ihr vom Herzen: ihr Verdacht war grundlos, ihr Fritz ist ihr treu, und nur seiner grenzenlosen Liebe zu ihr hat sie diesen Jrrthum ihres Herzens zu danken! „Papa, der gute, beste Fritz!" Annelnarie's Freude verklärt ihr ganzes Wesen. Mit heißer Liebe und Sehnsucht ruft sie sich das Bild ihres Mannes zurück Seine Schwester also ist's, die in jenem Vorstadthäuschen wohnt, seine arme, häßliche, alte Schwester. Oh, sobald wie möglich wird Annemarie zu ihr gehen, wieder gut zu machen suchen, was sie unbewußt an ihr gesündigt hat. Und wenn Sophie noch so häßlich, vielleicht durch Krankheit entstellt ist, sie muß zu ihnen, zu ihren Geschwistern ziehen. Annemarie sagt das Alles zu ihrem Vater. Sie ist wie aus getauscht, lacht und weint in einem Athem, läuft fort und kommt mit Lisi auf dem Arm tänzelnd und lachend zurück. Die Kleine wird infolgedessen irre an der Zett und fragt: „Jst's denn schon Weihnachten, Mama? — Hm, Großpapa?" „Wenn Weihnachten — Liebe bedeutet, dann schon!" murmelt der alte Herr. „Nein, Mäuschen", ruft die junge Mutter, ihr Kind herzend, „erst müssen wir wieder zu Hause bei Papa und Maria sein! Und denke Dir, auch eine Tante bekommst Du, eine liebe, gute Tante!" Annemarie stellt plötzlich die Kleine hin. Sie hat den am Boden liegenden Brief gesehen. Lisi, der e» bei Minna in der Küche recht gut gefallen hat, fühlt sich hier überflüssig und spaziert, die aller Sägrspäne beraubte Puppe im Arm, wieder in die Küche. — Annemarie steht am Tisch und beugt sich über den Brief. Halblaut liest sie vor, die Zeilen nur so überfliegend: „Du weißt nun, Annemarie, wem jene abendlichen Besuche galten! Meiner armen, schwer leidenden, einsamen Schwester, die Dich und die Kinder kannte und liebte . . ." .Kannte?" ruft die juNge Frau und hält einen Augenblick erstaunt inne. Dann liest fie weiter: „Der Gedanke an de» Bruder, an sein Weib und seine Kinder machte den Inhalt von Sophiens Leben aus. Armes, leere» Dasein,^auch Du willst gelebt sein! Gestern Abend habe ich meiner Schwester die Augen zugedrückt, ihre letzten Worte waren Segensworte für diejenige, welche da» Glück meines Lebens aus macht, für mein Weib!" „Und da» hatte ihn verlassen!" jammert Annemarie auf. Vorbei die jubelnde Freude, ihr Herz ist zerrissen von Reue und Scham über sich selbst. Wie klein erscheint sie sich jenen Ge schwistern gegenüber, die ausharrten in Schweigen und Leiden. Nun ist's zu spät, sie kann an Sophie nichts von dem wieder gut machen, was sie an ihr verschuldet hat. Und ihr Mann, ihr Geliebtester auf der Welt! In der Stunde, wo er die Schwester verlor, ist er allein, sein Weib hat ihn verlassen, verlassen um eines niederen Verdachtes willen, ihn, der so viel höher steht, so viel besser ist als sie selbst. Wird er ihr verzeihen, wird er sie wieder aufnehmen? Er schreibt kein Wort: Komm wieder! Freilich in seiner Güte auch keinen Vorwurf! Wird er sie mit der alten Liebe an sein Herz nehmen? Draußen heben die Glockenstimmen wieder an mit ihrem Singen und Klingen, und morgen ist Weihnachten, das Fest der Liebe .... Der alte Herr, dem jetzt leicht und froh, recht weihnachtlich ums Herz ist, hat still das Zimmer verlassen. Seine Annemarie soll allein sein und in der Stille nachdenken. Sie muß sich selbst erst wiederfinden. Aber sie bleibt nicht lange allein. Ein kleines Händchen tappt auf ihre Hand. Lisi fragt die leise weinende Mutter: „Du weinst wohl, weil das Christkind nicht gekommen ist? Die Minna sagt, es käme morgen, Mama! Ganz gewiß! Ich weiß auch jetzt, was ich dem Papa schenke, die Puppe hier kriegt er! Aber er wird sich freuen, Mama!" Wichtig hält Lisi ihr beneidenswerthes Geschenk von sich, es mit Kennermiene betrachtend. Wird der Papa eine Freude haben! Annemarie zieht ihr Töchterchen auf den Schooß und drückt ihr Gesicht in die blonden, duftigen Härchen. Wie bange ist ihr im Herzen! Auf den Wegen der großen Stadt ist ein Drängen und Hasten. Vor den hellerleuchteten, mit den verlockendsten Dingen ausgestatteten Schaufenstern stauen sich die Menschen. Ganz vorne drücken die Kinder ihre Näschen an die Scheiben. Sie können sich nicht satt sehen und vergessen Kälte und Hunger vor allem Schauen. Weiter draußen, wo die Straßen breiter sind, der Verkehr ge ringer wird, ist es still. Eigentlich echt weihnachtlich! Kein Laufen, kein Hasten, nur glitzernder Schnee, flackerndes Gaslicht und droben der weithin sichtbare, sternenflimmernde Himmel. Sie sinkt herab, die hohe, heilige Nacht, mit ihrem Erinnern an das Jesuskind in der Krippe, mit ihrem Kerzenglanz, Tannen duft, mit ihrem Zauber, der Jung und Alt erfaßt, mit ihrer großen, menschheitumfassenden Liebe. An einem Fenster seines Zimmers sitzt Annemarie's Mann, seine Maria auf den Knien. Vor einer Stunde ist er vom Begräbniß seiner Schwester zurückgekehrt. Welch ein armes, stilles Begräbniß war das gewesen, so ganz, wie Sophiens Dasein selber. Und doch, wie schön, in die Erde gesenkt zu werden, wenn die erste Nacht im Grabe die heilige Nachi ist. Und wie friedlich war es auf dem Gottesacker gewesen. Beinah« wie Frevel war es ihm erschienen, daß er mitten in der Welt der Tobten so voll erwartender Freude gewesen war. Immer hatte er sich seines Weibes Heimkehr vergegenwärtigt, sich auf den Augenblick ge freut, wo seine beiden kleinen Mädchen vor dem Lhristbaum stehen würden .... Drüben im großen Zimmer steht der fertig aufgeputzte Baum Sonst hat Annemarie das besorgt. Diesmal war sie fern von ihm gewesen. Arme, kleine Frau, denkt der Mann, während er auf die Straße hinabblickt, was mag sie seit Langem gelitten haben! Thörichte Annemarie! Al» ob es je «inen Augenblick im Leben geben könnte, wo seine Liebe zu dem schönen, geliebten Wesen sich verringern könnte! Sie wird doch kommen? Ihn und ihr Kind nicht allein lassen am heiligen Abend? Er hat sie freilich nicht zurückgerufen. Es hatte ihm doch weh gethan, daß sie von ihm gegangen war. Aber in dem Wahn, in den sie sein eigenes Thun hatte drängen müssen, konnte sie nicht anders handeln. Er horcht. Ging nicht die Thür draußen? Nein, Alle» wieder still. Es waren die Dienstboten. Fritz hatte ihnen so gut wie Maria gesagt, daß die Herrin des Hauses natürlich zur Bescheerung wieder da sei. — Und Großpapa? Ob er mitkommen wird? „Papak' sagt Maria und hebt das Gesichtchen mit den dunklen "lugen zum Vater auf, „ich möchte, daß Mama und Lisi kämen! Siehst Du, dort drüben in der Villa, da ist das Christkindcheu schon gewesen! Da brennt der Weihnachtsbaum!" Das klingt so sehnsuchtsvoll. Maria lehnt ihr Köpfchen an Papa an. Diesem wird bange. Sollte Annemarie vor Auf regung krank geworden sein. Muß er ohne sie Weihnachten feiern. Wie öde und leer der Abend, wäre sein Weib und sein kleiner Liebling fern! Das Gas summt, sonst ist es still, wie ausgestorben. Horch, da singen sie, die über Weber's wohnen. Ganz deutlich hört man's: „Stille Nacht, heilige Nacht . . . ." Annemarie kommt nicht, Minute um Minute vergeht .... Da, ein Stimmchen, ein süßes, bittendes, geliebtes Kinder stimmchen! Vater und Tochter starren nach der Thür. Jst's ein kleiner Weihnachrsengel, der sich hierher verirrt hat? Im schneeweißen Mäntelchen steht Lisi dort, hält ein mit brennenden Lichtern bestecktes Weihnachtsbäumchen in den Händen und geht auf jene Beiden zu. „Lei wieder gut, Papa!" klingt'» so süß und bittend. Lisi weiß eigentlich nicht recht, warum der Papa wieder gut sein soll! Sie hat nichts genascht, nichts zerbrochen, Papa war überhaupt gar nicht böse! Aber die Mama will, daß sie so sagen soll, also thut sie's. Maria stürzt auf die kleine Schwester los; Fritz aber sieht über die Kinder hinweg nach der Thür zu. . Dort steht sein Liebstes auf der Welt, sein schlankes, blondes Weib und blickt ihn beinahe verschüchtert an. „Annemarie!" Sie fliegt in seine ausgebreiteien Arne. „Verzeih mir und sei wieder gut!" bitte, sie an seinem Halse. „Thörichtes Annemariechen!" Da weint sie, und er legt ihr die Hand auf den blonden Scheitel. Als wollte die junge Frau ihren Mann gar nicbl mehr loslassen, so fest umfaßt fie ihn. — Später, als auch Großpapa erschienen war, als die Kinder mir rothglühenden Wangen bald den herrlichen, buntflimmernden Baum, bald ihre Spielsachen bewunderten, saßen Vater und Mutter beisammen. Lisi bringt dem Papa ihr Geschenk, die geleerte Puppe. „Aber Mama", sagt sic vorwurfsvoll, „wo ist Venn die gute Tante, die Du mir versprochen hast?" Die Mama sagt nichts und wird ganz ernst. Papa aber hebt sein schneeweißes Engelein zu sich herauf und sagt leise: „Die Tante ist lieber zum Christkindchen in den Himmel gegangen!" „Da hat sie's aber gut!" sagt Lisi, rutscht auf ihre zwei Füßchen und läuft zu Großpapa und Maria, die eben dabei sind, in der Puppenküche etwas Gutes zu kochen. Lannenduft füllt den Raum, hier und da knistett's am Baum, liebliche Kinderstimmen klingen mit der tiefen Stimme Groß papas zusammen. Und drübtn, im Lichtrrglanz des Baumes, sitzen Zwei, die sich von Neuem gefunden haben und meinen, noch nie so glücklich gewesen zu sein, wie an diesem heiligen Abend. Die kleine Lisi aber hat ihre Worte gar zu emsig gelernt gehabt, kein Wunder daher, daß sie noch machmal in Gedanken vor sich hinsagt, ohne auch nur ihren Baker eines Blickes dabei zu würdigen: „Sei wieder gut, Papa!"
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