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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.11.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991102013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899110201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899110201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-02
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentag- um 5 Uhr. Ne-action und Erpe-ition; AohanniSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Ttta klemm'- Tortim. (Alfred Hahn), UniversitätSstraße 3 (Paulioum), LoniS Lösche, Aatharinenstr. 14, pari, und Königkplatz 7. Bezugs-PreiS fn dir tzauptexpkdition oder den im Stadt bezirk und den Dororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich^ 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in- Hau- 5.50. Durch dir Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Dircctr tägliche jrrruzbandsendung in- Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. MpMer TaMaü Anzeiger. Amts Klatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Polizei-Amtes der Ltadt Leipzig. 558. Donnerstag den 2. November 1899. Anzeigen-PreiS die b gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Neclamen rmtrr dem RedattionSstrich (4g«» spalten) 50A, vor drn yamilirnnachrichtra (6 gespalten) 40/H. Größere Schriften laut unserem Preis» verzeichniß. Tabellarischer und giffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittag» 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeige» sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 93. Jahrgang. Die Wahlen im «Großherzogthum Laden. LS Am nächsten Sonnabend finden die Wahlen zum badischen Landtage statt. Wie immer ist nur die Hälfte der Landtagssitze neu zu besetzen, da im Großherzogthume Buden alle zwei Jahre die Hälfte der Abgeordneten ausscheidet. Verfolgt man die Zusammensetzung der Zweiten Kammer im Großherzogthume Baden in den letzten beiden Jährizshnten, so findet man einen ziemlich erheblichen Unterfchied in der Zu sammensetzung der Kammer der Parteistellung der Abgeordneten nach. Die Nationalliberalen hatten nach den Wählen 1879, 1883, 1885 und 1887 eine erhebliche Mehrheit; bei den Wahlen von 1881, 1891, 1893 und 1895 konnten sie sich nur noth- diirftig behaupten. Immerhin haben sie von 1891—1896 dem vereinigten Anstürme der Klerikalen, Demokraten und Socialisten wacker Stand gehalten. Erst bei den Wählen von 1897 gelang es oen vereinigten Parteien, den Nationalliberalen eine ziemlich er hebliche Schlappe beizubringen. Die Zahl der nationalliberalen Mandate ging auf 26 zurück, so daß nunmehr die Ultramontanen, Demokraten und Socialdemotraten über die Mehrheit verfügten, von der sie auch Gebrauch machten, um das ihnen nicht genehme Ministerium näch Möglichkeit zu ärgern und einige thörichte Be schlüsse durchzubringen. Mit der Verdrängung der Nationalliberalen aus der Majori tät will sich indessen das klerikal-idembkratisch-socialistische Kartell nicht begnügen. Als Ziel für die gegenwärtige Wahlbewegung haben sie sich gesetzt, der nationalliberalen Partei so viele Man date abzunehmen, daß sie selbst die Zweidrittelmehrheit in der Kammer erhalten und die von ihnen geplante Wahlreform wenigstens in der Kammer selbst durchsetzen können. Daran ist freilich nicht zu zweifeln, daß diese Reform keinesfalls zum Gesetz werden würde, denn an die Zustimmung der Ersten Kammer und der Regierung ist unter keinen Umständen zu denken. Immerhin ist nicht zu leugnen, daß die Wahlreform für die Wahlagitation von dem Kartell sehr gut fruetificirt werden kann, denn natürlich ist einem erheblichen Theile der Wählerschaft die Einführung des Reichstagswahlrechtes auch für die Landtagswahlen sympathisch. Wird es nun gelingen, die klerikal-demokratisch-socialistische Zweidrittelsmajorität zu schaffen? Die Nationalliberalen sind insofern am übelsten daran, als sie nicht weniger als 16 Mandate, also die Hälfte aller frei werdenden Sitze und nahezu zwei Drittel ihres gegenwärtigen Besitzstandes, zu Ver theidigen haben, während die Ultramontanen nur neun Mandate, also noch nicht die Hälfte ihres Besitzstandes, zu vertheidigen brauchen. Je mehr Truppen die nationalliberale Partei aber parat halten muß, in desto geringerem Umfange kann sie zur Offensive übergehen, während umgekehrt die Gegner, die nur einen geringeren Theil des gegenwärtigen Besitzstandes schützen müssen, viel eher versuchen können, den Nationalliberalen eine Anzahl der 16 frei werdenden Sitze dieser Partei zu entreißen. Eine weitere Schwierigkeit für die Nationalliberalen besteht darin, daß sie für sich allein sichen, während die gegnerischen Parteien fest aneinander geschlossen sind. Die Ultramontanen be treiben zwar diesmal das Zusammengehen mit der Socialdemo kratie um eine Kleinigkeit vorsichtiger als früher, aber wie un versöhnlich ihre Gesinnungen gegen die nationalliberale Partei sind, ergiebt sich schon aus dem heftigen Proteste, den sie, be sonders in der Landeshauptstadt, der Lieber'schen Auffassung von der Möglichkeit eines gelegentlichen Zusammengehens mit den Nationalliberalen entgegengesetzt haben. Die Nationalliberalen gelten ihnen nach wie vor als der auf das Heftigste zu be kämpfende Feind, was ja auch vom klerikalen Standpunkte ganz begreiflich ist, denn wenn sie erst diesen Feind niedergerungen haben, so wird es ihnen ein Leichtes sein, der anderen viel be deutungsloseren Parteien, von denen überhaupt 'höchstens die Socialdemokratie in Frage kommen könnte, Herr zu werden. Die Demokraten und die Socialisien Badens sind viel zu ver bohrt, um einsehen zu können, daß, wenn sic die Macht des Centrums steigern, sic sich selbst damit zur Ohnmacht ver- urtheilen. Die badischen Socialdemokraten sind so in leiden schaftlichem Hasse gegen die nationalliberale Partei befangen, daß sie beschlossen haben, die den Nationalliberalen feindlichen Parteien unter allen Umständen und mit allen Kräften zu unter stützen, selbst wenn sie auf Gegendienste nicht zu rechnen hätten. Dieser Wille, den Nationalliberalen unter allen Umständen Ab bruch zu thun, geht so weit, daß die Sociäldemokraten sogar dort, wo sie von vornherein keine Aussicht haben, durchzudringen, sofort die Wahlmänner der bürgerlichen Gegner des National liberalismus unterstützen wollen. Sie machen sich hier also sogar von der ras« 6u nomdre frei, die sonst für die Social demokraten bei öffentlichen Wählen charakteristisch ist. Unter diesen Umständen wird die nationalliberale Partei die größte Mühe haben, sich zu behaupten; darauf, daß es ihr etwa gelingen könnte, einen Theil des bei den früheren Wahlen verlorenen Terrains wieder zu gewinnen, wird man kaum hoffen dürfen. Immerhin wird man aber auch nicht so pessimistisch zu sein brauchen, zu besorgen, daß die klerikal-dvmokratisch- socialistische Zweidrittelsmehrheit zur Thatsache werden könnte. Dazu müßten denn doch mindestens 6 von den 16 zu ver- theidigenden nationalliberalen Sitzen von den Gegenparteien er obert werden, und das ist nicht anzunehmen. Oer Verzicht auf die „Drauf"-Politik in Indien. ZV. L. Kalkutta, 20. September. Nachdruck auch mit Oukllenangabr verboten. Wenn Indien nicht unbeträchtliche Truppenmasien nach Süd afrika hat abgehen lassen können, und wenn es im Nothfalle noch mehr Truppen dorthin entsenden kann, so ist dies in erster Reihe der neuen Politik unseres Vicekönigs, Lord Curzon, an der indischen Nordwestgrenze zu verdanken. Kurz gesagt, bedeutet das neue Programm einen gänzlichen Bruch mit der bisher be folgten „Drauf"-Poliiik (kor>vurck-polia^). Ob die neue Politik von Erfolg sein wird, läßt sich jetzt natürlich nicht erkennen. Eines aber kann bereits gesagt werden: Lord Curzon wird ent weder der größt« Vicekönig werden, der je Indiens Geschicke ge leitet, oder aber er wird als gebrochener Mann Indien verlassen. Schlägt die neue Politik fehl, so wird all' das bisherige mit so viel Kosten an Geld und Blut Erworbene wieder neu zu erobern sein; glückt aber das Experiment, so ist eine der schwierigsten Fragen, an deren Lösung so lange vergebens ge arbeitet wurde, zu einem erfolgreichen Ende geführt. Um jedoch die >-eue Politik zu verstehen, wird es nokhig sein die augenblicklichen Verhältnisse an der Nord- West-Grenzc Indiens kurz zu erläutern. Man kann die dort wohnenden Stämme in zwei große Gruppen zusammenfassen, solche, die nördlich» und solche die südlich des Gomal-Passes wohnen. Das Land südlich des Gomal-Passes umfaßt die heutige Baluchestan Agency, d. h. Britisch-Baluchestan; die dieses Land bewohnenden Stämme erkennen durchweg die Autorität ihrer Häuptlinge an und fügen sich deren Anordnungen unbedingt. Es war das große Verdienst des verstorbenen Sir Robert Sand- man, diesen Charakterzug der Baluches erkannt zu haben, und durch geschickteZahlung von Unterstützungsgeldern an die betreffen den Stammeshäupter deren Interesse zu gewinnen und damit Einfluß auf den ganzen Stamm zu erlangen. In Baluchestan hat sich diese Politik auf das Glänzendste bewährt. Die Häupt linge erhalten Subsidien und stellen Garantien für die Ruhe ihrer Stammesgenossen und die Sicherheit der europäischen Beamten. Das Land nördlich vom Gomalflusse wird von den räuberi schen Waziris, weiter nördlich den Orekzais, Afridis, Moh- manos, kurz allen den Stämmen bewohnt, die im Jahre 1897 Anlaß zu einem blutigen Feldzüge gaben. Im Gegensätze zu den Baluches ist bei diesen Stämmen die Autorität der Häuptlinge oder Maliks nahezu Null. Jeder dünkt sich dort selbst ein König und handelt demgemäß. Ruh« und Ordnung unter diesen unge fügen Elementen, denen di« Nähe der afghanischen Grenze stets Gelegenheit zum Entkommen bot, war — selbst angenommen, daß die Häuptlinge willig gewesen wären, ein ähnliches Ab kommen wie in Baluchestan zu schließen — unmöglich. Das einzig« Argumrnt, welches diese unruhigen Geister verstanden, war die Gewalt, aber diese konnte nur durch eine dauernde militärische Besetzung des Landes aufrecht erhalten werden. Abgesehen von den gewaltigen Kosten, die Indien aufzubringen hatte, war hauptsächlich die ständige Anwesenheit der fremden, namentlich europäischen Soldaten, «ine permanente Quelle neuer Zwistigkeiten. Nach Ansicht der maßgebenden militärischen Autoritäten war eine militärische Besetzung jedoch das einzige Mittel, um den Frieden an der Nordwestgrenze aufrecht zu er halten. Lord Curzon hat mit dieser Politik gebrochen, wahr scheinlich sehr gegen den Widerstand der militärischen Autori täten, und es sollte uns durchaus nicht wundern, wenn als eine nächste Folge der neuen Politik der gegenwärtige Commander- in-chief, Sir W. Lockhardt, Gesundheitsrücksichten halber auf Urlaub gehen würde. Lord Curzon beabsichtigt nach dem Muster der alten Khybcr Rifles eine Art subsidirter Stammesmiliz zu errichten, dieser Miliz die Sicherheit der Nordwestgrenze anzuvertrauen, die regulären Truppen zurückzuziehen und nur an einzelnen strategisch günstig gelegenen Plätzen auf indischer Seite, wie Dera Ismail Khan, Bannu, Kohat u. s. w., fliegende Colonnen zu etabliren, die, wenn nöthig, in der kürzesten Frist eingreifen könnten. Das Experiment ist, wie gesagt, sehr gewagt und gerade im Hinblick auf die Khyber Rifles wäre das Prognostikon ein recht ungünsti ges. Die Khyber Rifles wurden nach dem letzten afghanischen Kriege errichtet; es war dies eine Art Miliz aus den den Khyber- paß bewohnenden Stämmen, die gegen Zahlung eines Monats geldes von 9 Rupees per Mann sich verpflichteten, eine Art von Polizei in Khyber auszuüben und an bestimmten Tagen den Paß für das Passiren von Karawanen offen zu halten. Die Leute stellten ihre Waffen und Munition selbst, wählten ihre eigenen Officiere, und nach und nach hatte sich ein« Art Uniformirung herausgebildet. Wie schlecht sich aber die Khyber Rifles im Jahre 1897 bewährten, ist noch frisch in Aller Erinnerung, und der Fall von Landi Kotal war typisch. Diejenigen der Khyber Rifles, die zum Stamme der Angreifer gehörten, gingen mit fliegenden Fahnen über, die Nichtstammesangehörigen wurden von den Anderen erschlagen. Lord Curzon will also versuchen, dieses System weiter auszu dehnen und dadurch zu vervollkommnen, daß die Officiere dieser Milizregimenter Engländer sein werden. Beneidenswerth wird die Stellung dieser Officiere nicht sein. Ganz abgesehen von dem einsamen Dasein, ist ihr Leben so gut wie nichts Werth, da es jeden Augenblick dem Messer eines fanatischen Ghazi's (religiöser Meuchelmörder) zum Opfer fallen kann. Wie gesagt, die neue Politik ist ein Experiment, von dem zur Zeit Niemand sagen kann, wie es auSfallrn Wirt-, denn selbst, wenn sie sich für die nächste Zeit scheinbar bewährt, so ist damit der endliche Erfolg noch nicht garantirt Deutsches Reich. Berlin, 1. November. (Eine Vereinigung der deutschen evangelischen Landeskirchen.) Die sächsische Provinzialsynode hat einstimmig ohne Debatte den. An trag des Professors Beyschlag angenommen, „bei d«r General synode den Antrag zu stellen, daß diese bei ihrer nächsten Tagung den evangelischen Oberkirchenrath ersuche, eine Bereini gung der deutsch-evangelischen Landeskirchen zur Förderung der allen gemeinsamen Interessen unbeschadet der Selbstständigkeit und des Bekenntnißstandes jeder einzelnen Landeskirche in die Wege zu leiten." Die klerikale „Köln. Volksztg." ist über diesen Antrag in große Aufregung ge- rathen. Sie fragt zunächst, was einer solchen kirchlichen Behörde Anderes übrig bleibe, als der „Kampf" gegen Rom". Die Ant wort hierauf hätte das rheinische Centrumsblatt der Begründung entnehmen können, die Professor Beyschlag seinem Anträge gab. In ihr wurde dargelegt, daß die kirchliche Versorgung der deut schen Colonien und der socialen Colonien in fremden Ländern auf die Schaffung einer gemeinsamen deutschen kirchlichen Autorität hindränge. Alsdann erst hat Professor Beyschlag betont, daß die deutschen evangelischen Kirchen nicht nur einen gemeinsamen Besitz, sondern auch einen gemeinsamen Feind haben. Aber nicht zum Angriffskrieg« gegen diesen gemeinsamen Feind, nämlich den Ultramontanismus, sondern zur Vertheidigung gegen ihn will der Antrag Beyschlag die deutschen evangelischen Landes kirchen vereinigen. Die „Köln. Volksztg." nimmt an, der An trag Beyschlag ziele darauf ab, eine anerkannte Reichs behörde zu schaffen. Da aber die Ausübung der Kirchen hoheit in Deutschland auch nach der Begründung des deutschen Reiches Sache der Einzelstaaten geblieben ist, vermögen wir nicht zu erkennen, wie «ine solche evangelisch kirchliche Reichsbehörde geschaffen werde" könnte, ohne daß die Reichsverfassung ent sprechend geändert würde. Selbst wenn die Reichs verfassung entsprechend geändert wäre, ließe sich eine derartig kirchlich« Reichsbehörde schwerlich in den Behördenorga nismus des Reiches eingliedern. Der ganze Behördrnorga- nismus des Reiches gipfelt im Reichskanzler; in Be zug auf die Unterordnung unter seine Weisungen unter- schidet man drei Classen von Behörden: 1) oberste Verwaltungsstellen, welche ganz von seinen Weisungen abhängig sind und deren Amtsthätigkeit durch seine Verantwortlichkeit gedeckt wird; 2) Finanzbehörden, die in ge wissen Functionen von ihm abhängig und in diesen auch auf ihre eigene Verantwortlichkeit gestellt sind; 3) richterliche Be Hörden, die in allen ihren Entscheidungen ganz unabhängig und nur an die gesetzlichen Bestimmungen gebunden sind. Es ist nicht abzusehen, wie eine evangelisch-kirchliche Reichsbehörde einer der aufgeführten drei Classen eingereiht werden könnte. Boll kommen abhängig vom Reichskanzler wird eine solche Behörde weder sein wollen noch sein dürfen; vollkommen unabhängig vom Reichskanzler, wie richterliche Behörden, wird sie in einem Bundesstaate, dessen Bewohner zu einem Drittel katholisch sind, nicht sein können; und sie in dasselbe Verhältniß zum Reichs kanzler zu bringen, wie die Finanzbehörden, erscheint bei der Verschiedenartigkeit der beiderseitigen Aufgaben als ausge schlossen. Es wirs sich also nur um eine freie Organi sation der deutschen evangelischen Landeskirchen zu handeln haben. Daß eine solche ebenso möglich wie Wünschenswerth und nothwendig ist, bedarf angesichts der Machtstellung, die der Ultramontanismus in Deutschland zur Zeit einnimmt, keiner be- sonderen Erörterung. Eine derartige freie Organisation würde auch vollkommen genügen, die Abwehr der klerikalen Herrschafts bestrebungen unter eine e'.nheitliche und energische Leitung zu bringen. Grenzenlos übertrieben ist es, wenn die „Köln. Volks zeitung" in dem Merseburger Beschlüsse «inen neuen Beweis dafür erblickt, „daß der deutsche Protestantismus im Gefühl-' seiner Zerrissenheit und Zerklüftung an den Staat appellirt, um die katholische Kirche rechtlos zu machen." Die „Köln. Volksztg." sollte dckh nicht vergessen, daß die katholische Kirch« in dem unfehlbaren, mit dictatorischer Gewalt bekleideten Papst eine einheitliche Leitung besitzt, der auf protestantischer Seite nichts entgegengestellt werden kann. Wird jetzt der Versuch gemacht, die längst empfundene Lücke in der Rüstung des Protestantismus wenigstens theilweise zu schließen, so darf von Seiten des Klerikalismus die Besorgniß darüber doch nicht in ganz unhalt baren Verdächtigungen sich Luft machen. * Berlin, 1. November. Ueber die SediSvacanz in Metz wird der „Schles. Ztg." auS Lothringen geschrieben: Durch daS Ableben deS Bischofs Fleck ist der Metzer Bischofsstab!, sei! Lothringen deutsch geworden ist, zum zweiten Male erledigt. Der erste Bischof unter deutscher Verwaltung war Dupont deS LogeS, ein National franzose, der auS seinen französischen Anschauungen kein Hehl machte und bis zu seinem Ableben im Jabre 1886 jede An- näbrung an daS Drutschthum vermied. Als ihm auf Antrag deS damaligen Statthalters von Manteuffel ein höherer Orden verliehen wurde, erließ er eine Bekanntmachung, in der er unter dem Beifall der gesammten französischen Presse hervorbob, er würde gegen die Verleihung dieser Auszeich nung Widerspruch erhoben baben, wenn er vorher davon Kenntniß erkalten batte. Daß er bei den ersten Wahlen in den Reichstag als Vertreter deS schärfsten Protestes auf trat, ist bekannt. Die Berufung seines Nachfolgers, deS am 28. d. MtS. verstorbenen Bischofs Fleck bedeutete insofern einen gewissen Fortschritt, als derselbe auS einer elsässischen Familie stammte und in politischer Beziehung als ge mäßigt galt. Thatsächlich hat Bischof Fleck während seiner dreizehnjährigen AmtSdauer dem Drutschthum nicht direct entgegengearbeitet. Allerdings haben durch ihn die deutschen Interessen auch kaum eine Förderung erfahren. Der ihm unterstellt gewesene Klerus, besonders auch FsrriHetoit. Leo Graf Tolstoj's schriftstellerisches Wirken.*) Die seit Langem und auf das Sorgfältigste vorbereitete Ge- sammtausgabe der Tolstoj'schen Werke ist bis jetzt zur Ver öffentlichung des achten Bandes gediehen. Mit Geschmack und Gediegenheit ausgestattet, (d«r grüne Einband ist mit reicher Goldpressung und dem Bildniß txs Verfassers verziert), di« einzelnen Beiträge vorzüglich übersetzt und von dem Heraus geber mit trefflich charakterisirenden und instructiven Ein leitungen versehen, so erscheint diese Ausgabe in einem durchaus würdigen Gewandt, entsprechend der Werthschätzung, die unser Publicum seit geraumer Zeit schon dem schriftstellerischen Wirken des großen russischen EthikerS und Philosophen entgegenbringt. Daß diese Werthschätzung eine durchaus berechtigte, innerliche, und nicht nur ein hergebrachter, dem Fremdländischen gezollter Tribut ist, darüber kann kein Zweifel mehr herrschen. Die künst lerische Begabung Tolstoj'- ist «ine so außergewöhnlich be deutende, und sein« Weltanschauung eine so weitumfassende und besondere, daß bei ihrer Wirkung von irgend welcher nationaler Beschränkung keine Rede mehr sein kann: auS Tolstoj spricht der Mensch zur Menschheit, nicht der Russe zum Russen allein. Schon daS Erstlingswerk deS Verfassers .^LebcnSstufen" (den ersten Band der Gesammtausgabe füllend) zeigt dieses Hinübergreifen der Gedanken in daS allgemein Menschliche, *) Leo N. Tolstoj's Gesammelte Werke, vom Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld, Verlag von Arwed Strauch in Leipzig. psychologische Erörterungen, philosophisch« Abhandlungen, die werthvolle Beiträge zu den äocuments liumnins liefern, wenden sich an daS Gesammtinteresse. Tolstoj hatte die Absicht, in der Geschichte der LebenSstufen di« Selbstschilderung eines Menschen lebens in Romanform zu geben. Doch gelangte der großartig erdachte Plan nicht völlig zur Ausführung, als vollendetes Ganzes besitzen wir nur die Kindheit und das Knabenalter. Das Jünglingsalter ist nur bis zur Hälft« fertig geworden. Immer hin ist die Arbeit auch in dieser fragmentarischen Erscheinung von großem Werth«, denn alles darin enthaltene Psychologische, alle die Wandlungen des Geistes und des Gemüthes, di« der Icherzähler von sich berichtet, sind eine Wiedergabe dessen, wa- Tolstoj selbst innerlich erlebt hat. Biele der hier eingestreuten Betrachtungen liefern erst den Schlüssel zu der seltsamen Runen schrift auf der späteren Wesenheit des Greises Tolstoj. Die Stücke d«r LebenSstufen sind entstanden: Kindheit 1852, „Knabenalter" 1854 und „Jünglingsjahre" 1855—57. Damals schon bekundete der Verfasser sein« Hinneigung zu ur sprünglichen, naiven Empfindungen, sein Streben nach Vol lendung. In „Kindheit" sagt er: „Ob sie Wohl je wirderkehren, die Frisch«, di« Sorglosigkeit, das Bedürfniß zu lieben, und die Glaubenskraft, die wir in der Kindbeit besitzen? Welche Zeit kann besser als die sein, da zwei d«r höchsten Tugenden — harm lose Fröhlichkeit und dar unendlich« Bedürfniß zu lieben — die einzigen Triebfedern deS Leben- sind?" Wie früh schon er sich über abstracte Fragen seine Meinungen gebildet hat, da» geht aus folgender Bemerkung in „Knaben alter" hervor. „Man wird mir kaum glauben, welcher Art die beliebtesten und stetigsten Gegenstände meiner Betrachtungen während meines Knabenalter» waren, so wenig waren sie meinem Alter angemessen. All« die abgezogenen Fragen über die Be stimmung de» Menschen, über da» Leben im Jenseits, über die Unsterblichkeit der Seele traten damals schon an mich heran, und meine kindlich schwach« Vernunft mühte sich mit der ganzen Gluth der Unerfahrenheit, diese Fragen aufzuhellen, deren Stellung die höchste Stufe bezeichnet, die die menschliche Vernunft erreichen kann, deren Lösung aber ihm nicht vergönnt ist." Ungemein charakteristisch ist der Wendepunkt in seiner An schauung, den er als den Anfang seiner Jünglingsjahre be zeichnet. „Die tugendhaften Gedanken, di« ich gehegt, gefielen bis dahin nur meinem Verstände, nicht meinem Gefühl. Aber eS kam eine Zeit, wo diese Gedanken mit einer so frischen Kraft einer moralischen Entdeckung meinen Geist erfaßten, daß ich erschrak, tvenn ich überlegte, wie viel Zett ich vergeudet hatte, und sofort, in demselben Augenblick wollte ich diese Gedanken ins Leben übertragen mit der festen Absicht, ihnen in Ewigkeit nicht untreu zu werden. Bon dieser Zeit, ich stand im sechzehnten Lebensjahre, zähl« ich den Anfang meines Jünglingsalters." Der Merkwürdigkeit wegen sei noch erwähnt, daß Tolstoj in diesen „LebenSstufen" dem Knaben Nrkolaj eine Aeußerung in den Mund legt, di« im gleichen Sinne auch Goethe, freilich als Mann, gethan hat. Bei Ersterem heißt es: „Mtt Entzücken wechselte ich das alte, abgetragene Gefühl der gewohnten Er gebenheit gegen ein frische» Liebesgefühl voll Geheimniß und Ungewißheit. Außerdem bedeutet: gleichzeitig eine Liebe vergessen und eine neue beginnen — zwiefach lieben." Goethe sagt: „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich «ine neue Leiden schaft in un» zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz ver- gessen ist." Im klebrigen weisen di« „LebenSstufen" schon alle Vorzüge der Tolstoj'schen Schaffensweise auf, neben der psychologischen Vertiefung eine meisterliche Darstellung eigenartig erfundener Charaktere und Geschehnisse. Letzter« decken sich mit den that- sächlichen Ereignissen, im Leben des Verfassers nicht, dagegen ist dies der Fall mit den Vorgängen in dem Fragment „Ter Morgen sei Gutsherrn", dem ersten Beitrage im zweiten Band«. Dieses Bruchstück, daS als solcher allerdings kaum wirkt, so viel poetischen Reiz athmet dasselbe au» — ist durchweg Selbstschilderung und eine solch«, die die eminente Bedeutung dieses idealistisch denkenden Menschen für seine Zeitgenossen auf das Markanteste klarlrgt. Man begleite sein Abbild nur auf seinem Morgenspaziergange, werde Zeuge seines Entzückens beim Anblicke d«r wonnigen Natur um ihn h«r und lausch« den Kund gebungen seiner Ueberfüllc von Gefühlen und Phantastin. Wie steht mit dem einen Worte: „ich muß Wohlthun, um glücklich zu sein" der ganze edle Mensch zur Bewunderung zwingend vor uns! Welch' ergreifende Auffassung seiner gutsherrlichen Stel lung: «er sieht «in unendliches Arbeitsfeld für sein ganzes Leben vor sich, das er nur dem Wohlthun widmen will. Er braucht das Gebiet der Thätigkeit nicht erst zu suchen, es ist da, er hat ein« natürliche Verpflichtung, «r hat Bauern, und welche be seligende und dankbare Arbeit bietet sich ihm da: einzuwirken aus diese schlichte, empfänglich«, unverdorbne Volksschicht, sie von der Armuth befreien, den Bauern Bildung zu vermitteln, ihre Fehler zu verbessern, ihre Sittlichkeit zu heben, st« zur Liebe und zum Guten anzuleiten . . ." Das kleine Werk ist außerdem noch bemerkenswert!) durch seine Charakteristik der russischen Bauern, die, wie auch die der vornehmen Gesellschaft, in „Lebensstufen" ganz meisterlich auS- geführt ist. Der zweite Band enthält dann noch Aufzeichnungen eines Margueur», Luzern, Aidert, Zwei Husaren, Tret Taste und Tie Kosacken. In „Aufzeichnungen eines Marqueurs", die im Jahre 1856 entstanden sind, fanden wir schon Anklänge an die weit später veröffentlichte „K r e u tz e r s o n a t e"; man steht, wie lange schon sich Tolstoj mit diesem sexuellen Problem be schäftigt hat. Ein vielfach bei ihm wiederkehrendes Thema ist auch das Problem des TodeS, das besonders tief in „Drei Lobte" I erfaßt ist. „Luzern" ist da» dichterische Ergebniß der ersten I AuslandsreiseTolstoj's und durch eineFülle vonJdeen wie außer- I ordentlich schöner stilistischer Ausführung bemerkenSwerth. — I „Albert" entstammt den Peter»burger Erinnerungen de» Der»
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