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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.06.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-06-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960610021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896061002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896061002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-06
- Tag1896-06-10
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Reklamen unter dem RrdactioaSslrich (4ge» spalten) 50 vor den Kamiltemiachrichten (6 gespalten) 40-^. Gröbere Schriften laut unserem Preis- vrrzeichnib- Tabellarischer und Zifferaia- nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefördrruug ^s SO—, mit Postbeförderuug 70.—. ^nnshmeschlnli für Anzeigen: Ab end-Ausgabe: Vormittag« 10 Uhr. Margeu-Au«gabe: Nachmittag« «Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je «ine halbe Stunde frnher. Auzeige» sind stet« an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 9V. Jahrgang Politische Tagesschau. * Leipzig, 10. Juni Die Generaldi-cussion der Novelle zur Eewcrbeordnung, richtiger die Erörterung des Verbots desDetailreisenS, bat fast noch die ganze gestrige Sitzung des Reichstag» in Anspruch genommen. Die Freunde sämmtlicher Beschlüsse zweiter Lesung oder gar der dazu beantragten Verschärfungen, die Abgg. Iacobskötter (cons.), Graefe (Antis.) u. A., hatten, namentlich angesichts der gegen das Verbot vor liegenden Petitionen von kleinen Gewerbetreibenden, einen schweren Stand und würden ein noch ungünstigeres Terrain vor sich gesehen haben, wenn dies ihnen nicht etwas geebnet worden wäre durch die Blößen, die sich gestern, wie vorgestern Gegner jeder Ordnung deS Gewerbes, die freisinnigen Abgg. Fischbeck — dieser hatte verächtlich von „Krämern", die um Liebesgaben bettelten, gesprochen —, Pachnicke und Richter, gaben. Dem Ersteren kam der württembergische Regierungsdirector v. Schicker zur Hilfe, indem er gellend machte, es handele sich nur um die Aufhebung eines Privilegiums, das zahlreiche so genannte Detailrrisende sich dadurch anmaßten, daß sie that- sächlich hausirten, sich aber den dem Gewerbebetrieb im Umherziehen auferlegten Lasten und Beschränkungen entzögen. DaS ist zweifellos richtig, aber noch kein Grund, Detail reisenden, welche wirklich solche sind, ihr Gewerbe zu unter sagen. In der Specialdebatte wurden die Art. 1 (Unter bringung von Privatheilanstalten) und Art. 2 (Cvncessionirung von Schauspielunternehmungen) nach der Regierungsvorlage angenommen. Zur Entscheidung über das Verbot de« Detailreisens wirb e« erst heule kommen. Daß es inMoSka» bei einem vonDeutschen veranstalteten Feste, dem unter anderen fürstlichen Gasten auch Prinz Heinrich von Preußen und Prinz Ludwig von Bayern beiwohnten, infolge einer taktlosen Redewendung des Festredners und einer Erwiderung des bayerischen Thron folgers zu einem Mißklange gekommen ist, läßt sich leider kaum mehr bezweifeln. Die heute aus verschiedenen Quellen vorliegenden Nachrichten stimmen in mehreren Einzelheiten zu sehr überein, als daß man glauben könnte, diese Nachrichten seien Phantasieproducte. Sie gehen aber andererseits auch zu weil auseinander, als daß man ein sicheres Urtheil über den wahren Thatbestand sich bilden könnte. Die eine Version liegt in der „Köln. Ztg." in Form eines Telegramms auS Moskau vom 6. Juni vor und lautet: „Beim heutigen Gartenfest, welche« der hiesige deutsche Reichsverein Nachmittags dem Prinzen Heinrich und allen hier zur Krönung weilenden deutschen Fürstlichkeiten und deutschen Gästen gab, wandte sich Prinz Heinrich an Len Bicepräsidenten des Vereins und ersuchte ihn, einen Toast auSzubringen, indem er die Frage hinzufügte, ob er darauf vorbereitet sei. Der Vice präsident verneinte, doch, da derselbe als redegewandt bekannt ist, ermunterte ihn der Prinz, und der Bicepräsidrnt ergriff nun in der That da« Wort zu einer kurzen Rede. Indem er darin dem Prinzen Heinrich für sein Erscheinen dankte, brauchte er die Redewendung: „Der Prinz Heinrich von Preußen und die in dessen Gefolgschaft hier erschienenen deutschen Fürstlich keiten!" Nach Beendigung dieses sonst ganz correcten Toastes ergrtff Prinz Ludwig von Bayern, der am selben Tische dem Prinzen Heinrich schräg gegenüber saß, daS Wort, um einen Trtnkspruch auf da« Gedeihen des Vereins auszu- bringen. Er kam darin auf jenen allerdings nicht ganz glück lichen Ausdruck deS Bicepräsidenten, der aber sonst vielleicht nicht weiter beachtet worden wäre, zurück, um ihn richtig zu stellen. Ziemlich weit ausholend, erinnerte er an da« Ver halten Bayern« im Jahre 1870 und betont«, daß di« deutschen Fürsten weder Vasallen noch Gefolge des Kaisers, sondern seine Gleichberechtigten und Bundesgenossen seien. Er schloß mit der Versicherung, sonst aber und vor Allem im Moment der Gefahr, werde Bayern stets Schulter an Schulter mit dem übrigen Deutschland stehen. Tie markirte Redeweise und das breite Verweilen des bayrischen Prinzen auf einen« AuSdrnck, der dem unvorbereiteten Redner offenbar nur in der Eile entschlüpft war, trug einen kleinen Mißton in das sonst sehr hübsche und fröhliche Gartenfest. Bald daraus verließen Prinz Heinrich, der Prinz von Bayern und andere Fürstlichkeiten mit ihrem Gefolge den Garten. Sie mußten allerdings alle noch zu einem Prunkmahle." Die zweite Version ist in einem Moskauer Telegramm der Wiener „N. Fr. Pr." vom 8. d. M. enthalten, das folgendermaßen lautet: „Ein Theilnehiner an dem Banket der deutschen Eolonie theilt über den Zwischenfall Folgendes mit: Ursprünglich war durch den deutschen Consul Baron Humbold bestimmt worden, daß Camesasca nicht spreche, sondern daß nur Prinz Heinrich rede, und zwar die zwei Toaste auf den Zar und auf Kaiser Wilhelm ausbringe. Der zahlreiche Besuch des Festes und die Anwesenheit so vieler deutscher Fürsten führte aber eine Aenderung des Programm« herbei. Anwesend waren die Thronfolger von Weimar und Coburg, Prinz Ludwig von Bayern und Prinz Heinrich von Prrußen, der mit dem Fürsten Radolin und dem Grafen Werder erschienen war. Als das Banket beginnen sollte, erschien rin Osficier in russischer Uniform und bahnte sich den Weg durch die Anwesenden. Man erfuhr erst später, daß die- der Bruder der Kaiserin, der Groß- Herzog von Hessen fei. Man räumte ihin sosort den Ehren platz ein, rechts von ihm faß Prinz Heinrich, links Prinz Ludwig. Nachdem das deutsche Lied gesungen worden war, sprach Prinz Heinrich einen kurzen Toast auf Zar Nicolau« II.; die russische Hymne wurde gespielt, während olle Officiere salutirten. Hierauf forderte Prinz Heinrich selbst den Präsidenten Came- sasca auf, daß er den Toast auf den deutschen Kaiser und die deutschen Fürsten spreche. Camesasca kain diesem Wunsche nach. Nach beiden Reden wurde „Heil dir im Siegerkranz" gespielt. In der zweiten Rede gebrauchte Camesasca das Wort von den Fürsten, die iin Gefolge deS Vertreters des Kaisers erschienen". Unmittelbar darauf erhob sich Prinz Ludwig von Boyern und ergriff das Wort. Seine Rede hatte folgenden Wortlaut: „Hier wurde ein Wort gebraucht, gegen das ich Ver wahrung einlege. Wir sind nicht Vasallen, sondern Verbündete des deutschen Kaisers. Als solche sind wir schon vor 25 Jahren dem damaligen Könige von Preußen treu zur Seite gestanden in jenem gewaltigen Kriege, aus dem dann das deutsche Kaiserthum hervorging, wie dies auch Kaiser Wilhelm I. jederzeit anerkannt hat. Und sollte — was wohl Keiner von uns wünscht — eine ähnliche Zeit wieder- kehren, dann würde auch ganz Deutschland wieder zusammen stehen, ebenso fest wie damals. Die Vereinsmitglieder mögen neben dem großen deutschen Vaterlande auch der engeren Heimoth nicht vergessen und stets die Anhänglichkeit an die angestammte heimisch» Dynastie pflegen." Der Prinz sprach sehr laut und schneidig. Er nahm so un erwartet daS Wort, daß die Version, er hätte im Einvernehmen mit dein Prinzen Heinrich gesprochen, falsch ist." Als feststehend wird man also wohl betrachten dürfen, daß der bayerische Thronfolger sich unangenehm von dem unpassenden Ausdrucke „Gefolgschaft" berührt ^gefühlt und gegen denselben pro test irt hat. Nur über die Form dieses Protestes und demgemäß über seine Wirkung geben beide Meldungen auseinander. Welche von ihnen die richtige ist, wagen wir nicht zu entscheiden. Für böckst unwahrscheinlich ballen wir cs, daß Prinz Ludwig ohne jede Einleitung seinen Protest ausgesprochen hab«. Auch über die Folgen de« Zwischenfalls enthalten wir uns bis zur völligen Klarstellung aller Vermuthungen. Jedenfalls aber glauben wir uns be rechtigt, unser tiefstes Bedauern darüber auszusprccken, daß es fünfundzwanzig Jahre nack der Wiederaufrichtung de« Reiches zu eineni solchen Zwischenfalle kommen konnte, der so lebhaft an die von den „Münch. N. N." gerügte ein seitige Feier des Friedensschlusses iu München erinnert und als ein neuer Beweis für die Empfindlichkeit gelten muß, mit der in den herrschenden Kreisen Bayerns die partikulare Sonderstellung im Reichsverbande gewahrt wird. Das gestrige t-ypose s«S Grafen Goluchowski über die auswärtige Politik im Budget-Ausschuß der öster reichischen Delegation ist in Verbindung mit den weiteren Aeußerungen des Mnisters deS Aeußeren in der sich an schließenden Debatte ohne Frage eine der bedeutsamsten politischen Enunciationen der letzten Jahre, die keinen Zweifel mehr darüber läßt, daß Graf Kalnoky in dem seit Jahres frist die auswärtige Politik deS verbündeten Kaiserreich« leitenden Grasen Goluchowski einen durchaus ebenbürtigen Nachfolger erhalten hat. Mit großer Klarheit, rückhaltloser Offenheit, mit sicherem Selbstbewußtsein, zielbewußt und in jedem Wort tactvoll-correct entwickelt der Minister in scharfen Zügen und in vielfach epigrammatisch pointirter Rede den Gang der auswärtigen Politik Oesterreich während des verflossenen JahreS und der ersten Monate deS laufenden in einer Weise, welche erkennen läßt, daß ein Mann von auserlesener staatsmännischer Be gabung, von Weitsicht, Klugheit, Energie und besonnener Initiative das Ruder führt. Wir haben seine die Lage nach den verschiedensten Seiten hin klärenden Ausführungen an anderer Serie wiedergegeben und beschränken unS hier auf die Hervorhebung seiner auf Deutschland und den Dreibund sich beziehenden Bemerkungen. „Unser Ver- hältniß zu Deutschland, sagte der Minister, ist fester denn je, die Gruppe des Dreibundes hat sich trefflich bewährt und ebenso intim und vertrauensvoll wie zu Deutschland ist unser Verhciltniß zu Italien." Dann in der Debatte nochmal« darauf zurückkommeud, bemerkte Graf Goluchowski auf eine Anfrage, der Dreibund laufe von selbst weiter, weshalb eine Erneuerung desselben nicht nothig gewesen sei und fuhr dann, bezugnehmend auf den bekannten Artikel der „Neuen Freien Presse", fort: .. . daß die Hervorhebung des festen, zielbewußten Auftreten« des Dreibundes in der Thronrede nicht so gedeutet werden könne, als ob mit den Verbündeten Oesterreich-Ungarns ein specifische« Programm betreffs der österreich-ungarischen Orient politik bestände. Der Dreibund sei zur Erhaltung de« Frieden« bestimmt, und e« fei selbstverständlich, daß Oesterreich-Ungorn sich mit seinen allernächsten Freunden über Schritte zur Erhaltung des Frieden« zunächst verständige. Eine Feststellung über eine positive Orientpolitik, welche sich auf die Wahrung d«r Jnterrffcn einzelner Theilnehmer bezöge, würde dem defensiven Charakter des Bündnisses zuwiderlaufen, wenn auch jeder Thcil- nehmer nicht nurbetrefss LerErhaltung des Frieden«, sondern überhaupt in Bezug auf reine Politik aus die Freundschaft und Unter- stützu n g seinerBnndesgenosfen zu zählen berechtigt sei.Außerdem wieder holte der Minister nochmals, daß keineswegs eine Abänderung der Bündnisverträge der Grund war, wethalb in der dies jährigen Thronrede das Bündnißverhältniß auf« Neue betont wurde, Laß die« vielmehr deshalb geschehen sei, weil er die Basis der österreichisch-ungarischen Politik frstzustellen für nöthig erachtete, unter Anderem auch mit Rücksicht auf verschiedene Zeitungs- stimmen, welche von einer Lockerung de« Bündnißverhältnisscs zu «rzühlen wußten. Durch diese klaren Feststellungen ist jedem Versuch, die Ziele deS Dreibundes zu verrücken, ein Riegel vorgeschoben und Diejenigen, welche von Zeit zu Zeit das Bündniß für erschüttert zu bezeichnen ein Interesse haben, sehen sich um ihrer Mühe Lohn betrogen. Di« Aeußerung, daß die Verbündeten nicht nur in Bezug aus die Erhaltung des Friedens, sondern überhaupt in Bezug auf ihre Politik auf gegenseitige Freundschaft und Unter stützung zu rechnen berechtigt seien, ist im Zusammenhang mil dem unmittelbar Vorhergesagten durchaus unbedenklich, denn von wohlwollender Befürwortung und Förderung der Interessen eines Dreibunvstaates durch den andern auf diplomatischem Wege — man denke an den Freundschafts dienst, den Deutschland und Oesterreich-Ungarn letzthin in Sachen der englischen Dvngola-Expedition dem verbündeten Italien geleistet — bi« zu einem agressiven oder die Interessen einer dritten Macht verletzenden Jbentificirung mit der Politik de« betreffenden Bundesstaates, die den hilfreich eintretenden Staat mit jener Macht selbst in Collission bringen könnte, ist noch ein himmelweiter Schritt. Sicher enthält der Wortlaut deS Dreibundvertrags keine über den Schutz de« Frieden» hinauSgehcnde Stipulation, aber es liegt in der Natur der Sache, daß die drei befreundeten Staaten sich in allen internationalen Fragen als die „Nächsten" gelten und ihr Handeln — in den Grenzen größter Vorsicht natür lich — danach einrichlen. Für „ehrliche Makler" giebt e« ja bei derlei Gelegenheiten genug zu tdun. — Äon nicht minderer Bedeutung sind die Schlaglichter, welche Gras Goluchowski auf die anderen schwebenden Fragen, das Orientproblem im Allgemeinen, die armenischen Wirrcn, die Unruhen auf Kreta, daS Verbältniß der Balkan staaten untereinander, sowie zu Rußland und Oester reich - Ungarn, auf die Stellung Oesterreichs zu England und Frankreich, auf die Tendenzen der russischen und franzö sischen Politik rc., wirft. Zn letzterer Hinsicht verdient es Beachtung, daß Goluchowski von festem, vielleicht etwas zu weit gehendem Vertrauen zu der Friedensliebe der französischen Politik sich erfüllt zeigt und der Ueberzeugung Ausdruck giebt, Rußland habe auf sein ihm durch die Berliner Convention zustehendes Recht, die Präpondrranz in Bulgarien anSzuüben, verzichtet. DaS erscheint uns allzu optimistisch, doch ist zu be denken, daß daS Erposs de« Grafen Goluchowski, so große Bedeutung eS auch zu beansprucht hat, immer nur ein Moment bild der Lage entwirft, die sich über kurz oder lang ändern kann. Judas. 1j Roman von Llau« Zehren. Nachdruck verboten. NeujahrSnacht! — Der eiskalt wehende Ostwind hat die zwölf Glockenschläge hoch oben aus dem Kirchthurme hinweg gerafft und sie über daS gewaltige Häusermeer Berlins nach Westen fortgrtragen. Hinweg — bis die so mächtigen Schall- Wellen in ein klägliches Schwingen der Lust Über den öden, schneebedeckten Feldern und Wäldern erstürben, um, neu aus genommen, vom nächsten Dorfkirchthurm wiederum gen Westen getragen zu werden, unendlich fortschwinaend von Thurm zu Thurm über Elbe und Weser und Rhein, immer weiter über gallischen Boden, bis die letzten zwölf Schläge im ewig brausenden Meer auf schaumgekronten Wellen forttanzrn der neuen Welt zu. Und als der allerletzte der zwölf letzten Athemzüge de alten JahreS noch kaum dem Räderwerk der Uhren entflohen, da — hoch oben über dem Häusermetr und Menschen gewimmel dröhuen, sckallen, wir Orgelton majestätisch zum flimmernden Sternenhimmel empor sich schwingend, dir Glocken von allen THUrmen herab. In dem einfach eingerichteten Zimms» einer Wohnung im Centrum Berlins geht rin Mann mit langen Schritten und mit auf dem Rücken gekreuzte» Händen, di« Länge de» Raume« durchmessend, auf und ab schon seit einer Stunde. Auch an den Fenstern seiner einsamen Wohnung brechen sich die Schallwellen der ersten tiefen Athemzüge de« neuen Jahres. Lauschend beugt er den Kopf, bleibt zögernd eine Weile am Fenster stehen und öffnet dann, wir einem inneren Wunsche folgend, mit energischem Handgriff den einen Flügel. Eiskalt fährt der Luftstrom ihm «ntgeczen und drängt, dir Gardine wie ein Segel spannend, in- Zimmer hinein. Mit langen tiefen Athemzügen zieht der Mann die frische Luft «in. Äon der Straße heraus schallt da« Gejohle Angetrunkener, widerliche Späße, wüster Siug-Sang Vorübergehender. Doch als hörte et da- Alle- nicht, schaut er unverwandt binaus, wo über dem dunstigen Lichtkreis sich der dunkle Himmel spannt. „Die zehnte Nacht! Verjährt, vorbei, auSgelöscht nach menschlichem Recht I" murmelt er leis«. Ein eigenthümlich müde- Lächeln geht über die Züge deS auffallend markig und kräftig geschnittenen Männerantlitzes. Allmählich verstummt das Glockengeläute. Nur noch in Zwischenpausen und undeutlich schallt hin und wieder rin verspätetes „Prosit Neujahr!" zu dem Einsamen hinauf. Mit schrillem Mißton erklingt die WohnungSglocke. vr. Harald NaßmuS zuckt zusammen und blickt nach der Uhr, deren Zeiger daS Ende der ersten Stunde angeben. „Wahrscheinlich irgend einer, dem sie zur Neujabrsseier den Kopf blutig geschlagen haben", denkt er, daS Zimmer verlassend, um die WohnungSthür zu öffnen. „Ah, Du bist es Kurt, tritt näher. Seid Ihr der Neu- jahrSbowle so bald auf den Grund gelangt?" „Nein, daS gerade nicht, aber meiner NeujahrS- stimmung", antwortet der Ankömmling, die Schneeballen von den Hacken stampfend und Harald in das Zimmer folgend. „Donnerwetter, hier ist es aber infam kalt; schließ' doch das Fenster, cs weht draußen ein schneidender Ostwind." Und an dem warmen Ofen die Hände wärmend, fügt er hinzu: „Die Anderen wollten mich zwar noch nicht fortlassen, aber sowie daS letzte „Prost Neujahr!" im Gläserklang verhallte — das meinige zersprang, ein schlechte« Omen — war's, kurz und gut, e« war mir, al« zöge es mich hierher zu Dir. Ich wußte, daß Du allein geblieben warst hier in der Stube, allein mit dem alten, wackeligen Geripp dort an der Wand, trotz meiner Bitten, da« neue Jahr mit mir im Kreise meiner Bekannten zu erwarten." „Ich habe mich nicht gelangweilt", antwortete der Arzt, eine Cigarre über der Lampe anzündend und dem Freund eine solche anbietend. „Na, sehr einladend für mich klingt das nicht. Danke sehr! Trotzdem Harald, sieh, man fühlt sich doch hiugezogen zu einem Menschen, den man lieb bat. Ja, ja, schüttele nur nicht den Kopf. Mich verlangte, Dir die Hand zu geben. So, nun „Prosit Neujahr!" Gluck wünsche ich Dir nicht, weil Du behauptest, Dir absolut keine Borstclluug vom Glück machen zu können. — Na, einerlei! Wir beide stehen allein hier in der Millionenstadt, ergo ist es anständig, recht, egoistisch, daß wir jetzt zusammen sind. Sentimental brauchen wir ja darum nickt zu werden." „Gut, wenn Du nicht müde bist, Kurt, brauen wir einen Grog! — Die Christensen Ist irgendwo mit ihrem Jungen tingeladen, also muß ick mir selbst helfen." Während der Doeior NaßmuS die Spiritu-lampe und andere Requisiten herbeiholt, folgt ihm sein Freund mit den Blicken. In seinen klugen, offenen braunen Augen liegt ein warmer, herzlicher Ausdruck, als er sagt: „Sieb, Harald, der Zufall bat uns zusammengeführt. Du erlaubst wobl, daß ich diesen Zufall für meine Person mit „Glück" bezeichne. Wenn ein gewisser Harald NaßmuS, Armen- und Berbrecherdoctor, wie er sich selbst nennt, nicht genau heute vor drei Jahren hier über uns drei Treppen hoch zu einem gewissen Kurt Hansen in die Stube trat, dann säße dieser letztere nickt hier, sondern hätte sich das Glockenläuten einen Klafter tief unter der Erde anhören können." „Laß die alten Geschichten! Du weißt genau, daß ick die Thür Deiner Wohnung mit derjenigen deö todtkranken Studenten im vierten Stockwerk verwechselte, welchen ich be suchen wollte." „Sehr richtig, — also der Zufall. Schließlich ist eS mir gleichgiltig, ob ich dem Zufall oder der Vorsehung mein Leben verdanke. Factum ist, daß ick, gerade im Begriff, eine Wahl zwischen zwei Pistolen zu treffen, durch Dick dicrin gestört wurde. Daß Du zunächst den Pistolenkasten schloffest und mich dann rubig fragtest, ob ick c« nickt lieber zuvor mil dem Holzhacken statt mit dem Sckicßen versuchen wollte." „Du kennst meine Ansicht über den Selbstmord." „Ja, ja, psychologisch ist e» aber doch erklärlich, daß ein Mensch von 2b Jahren — seit zwei Jahren Referendar —, dem plötzlich nach dem Tode seine- VaterS kaum noch da« Hemd auf dem Leibe gehörte, sehr leicht zu sentimentalen Gedanken neigt!" „DaS Wasser kocht jetzt Wohl?" fragt der Andere. „Laß diese Vergangenheit ruhen, auch da« Nachfolgend». Nenne cs eine Laune, einen Zufall, vielleicht auch eine langjährige Ge wohnheit von mir, dort helfen zu wollen, wo ich Elend find«, sei eS körperliche« oder geistiges. Vielleicht war e« nur Aerger und der Wunsch, eineni 25 jährigen den Beweis zu liefern, daß Vie Rechtfertigung dcö Selbstmorde« andere Motive erfordert, al« die Unmöglichkeit, sein gewohnte« Leben fortzusetzen." „Halt, Harald!" unterbricht Kurt den Freund, „Du «hütest mehr." „Laß nur. Ich gab Dir di« pecuniärc Möglichkeit, Deine Carriöre al« Jurist fortzusetzen, vielleicht nur in dem Gedanken, baß e« Eurem Stande an Leuten fehlte, die da« Elend von Angesicht zu Angesicht aesehen und kennen gelernt haben. Genua — laß das und stoße mit mir au." „Tu Prachtmensch!" sagt Kurt. Und er findet in des alteren Freundes Auge etwas, was weit mehr herzliche Gefühle verrätd, al« besten Worte. Kurt Hansen fährt dann mit etwas bebender Stimme und mit einem Ausdruck wärmster Verehrung in dem hübschen, offenen klugen Gesicht fort: „Dir dank ich AlleS: mein Leben, mein Streben, meine Weltanschauung, und so lange ein warmer Tropfen Blut mir in den Adern fließt, gehöre ich zu Dir, mag uns auch einst das Leben nvck so weit trennen!" „Sprich nicht so, Kurt, Du hast mir nicht- zu danken. Nicht ich allein habe gegeben. Dein sonnenhelle- Tempera ment, Deine ungebrochene Kraft und Deine geistige Be gabung sind mir einsamem Manne mehr geworden, als Du ahnst. Daß ich so scheu zurückgezogen leb«, wundert Dick'? Gut, ich will Dir «ine Geschichte erzählen. So, noch einen Groa." Harald Raßmu« schraubt die Lampe etwas tiefer und läßt sich langsam in einen Lehnstuhl nieder, so daß sein Antlitz im Schatten deS Lichtschimmers verschwindet. Er war junger Arzt, dort oben au- der Lüneburger Haide gebürtig. Kaum mit dem Studium fertig, nahm er am Feldzüge 1870—71 Tbcil und ließ sich dann hier in Berlin nieder, um eine Praxis zu gewinnen; und er batte Glück. Am Sylvesterabend des Jahre« 1872 nun sind 10 Jabre seitdem vergangen — saß er zusammen mit lustigen Freunden um dir dampfende Bowle und auch au- seiner Kehle scholl ein hvsfnung-freudige- „Prosit Neujahr!" in da« Glocken geläute hinein. Da brachte ihm ein Kellner die Nachrichtj, eine Frau sei draußen, die ihn zu einem Kranken holen wolle. Seufzend, mit ungeduldiger Bewegung ging er hinau« und fand wenig Erfreuliche« in den neckischen Zurufen, welche ihm die Freunde nachsandien. „Unser zukünftiger Hofrath!" schrieen sie gerade, als er die Thür hinter sich schloß. Vor ihm stand ein junges Weib in schwarzem, fadenscheinigem Kleide, eingehüllt in ein grobe« Tuck. „Was ist'-?' redete er sie ziemlich ungeduldig an. „Kennen Sie mich nicht, Herr Dvctor? Ich bin's, die Christensen, die Mutter von der Grethe. Sie waren ja heute Morgen bei uu«. O, kommen Sie schnell! Zu Mittag war noch Alle- gut, aber gegen Abend wurde das Kind so un- ruhig und eS brachte den Athen« gar nicht richtig heraus. — Ich konnte eS nicht mehr ertragen und rief die SchubMtickers- srau au« der Kellerwohnung herauf, damit sie Nach dem Kinde sähe, und bann lief ich in Ihre Wohnung und von dort
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