02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.06.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-06-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960620022
- PURL
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- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-06
- Tag1896-06-20
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Reklamen unter demRedactionsstrich l4ge- spalten) SO^Z, vor den yamiliennachrichten (k gespalten) 40 >4- Größere Schriften laut unserem Pre,-- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), «ur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbrsvrderung 70.—. Äimahmeschlnß für Atyeizrn: Abend-Ansgabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag« «Uhr. Lei den Filialen und Annahmestelle» je eine halbe Stunde früher. Anreisen sind stets au di« Expedition zu richten. Druck und Verlag von T. Polz in Leipzig ^°31v. Sonnabend den 20. Juni 1896. so. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 20. Juni. Herrn Richter ist es in der gestrigen Sitzung des Reichs tages nicht geglückt, die Mehrheit für seinen Antrag, die zweite Berathung des Bürgerlichen Gesetzbuches von der Tagesordnung abzuseben und bis zum Herbste zu verschieben, zu gewinnen. Er tröstet sich damit, daß er seinen Zweck beinahe erreicht hätte. Die „Freis. Ztg." schreibt nämlich: „Bei vollbesetztem Hause würde die Mehrheit für die als baldige Durchberathung eine sehr geringe gewesen sein. Da aber in diesen Tagen die Mitglieder des Centrums und der Nationalliberalen besonders zahlreich eingetroffen waren, ergab sich eine größere Mehrheit gegen den Antrag Richter. Während der DiScussion ließ der Präsident fortgesetzt in der Garderobe die Zahl der im Reichstagsgebäude anwesenden Abgeordneten feststellen. Erst kurz vor Schluß der DiScussion konnte ihm mitgetheilt werden, daß die beschlußfähige Anzahl von 199 erreicht worden war. Seit vorigem Sonnabend war daS thatsächlich nicht der Fall gewesen. So wohlthuend aber für Herrn Richter der Gedanke auch sein mag, daß beinahe die Beschlußfassung über den wichtigen Gegenstand un möglich gewesen wäre oder gar leicht eine starke Minder heit für die Vertagung hätte zusammengebracht werden können, so tröstlich ist es für die Mehrheit, daß sie eben Wahrheit ist und trotz aller Verschleppungs- und Ostructionsversuche auch bleiben kann, wenn sie nur will. ES wäre geradezu eine Erbärmlichkeit, wenn sie nicht wollte und durch ihre Willensschwäche Herrn Eugen Richter an das Ziel schöbe, an daS er mit eigenen und Herrn Iskraut's Kräften nicht gelangen kann. Auf den Verlauf der Reichstagsdebatte über die Inter pellation des Centrums wegen des JcsuitcugcsctzcS sieht die „Germania" begreiflicherweise „im Großen und Ganzen mit Befriedigung zurück". Sie sagt weiter: „Wir haben zwar keinen vollen Sieg, sondern vorläufig einen weiteren Erfolg auf dem Wege zum Siege zu verzeichnen, einen Er folg namentlich im Reichstage selbst, nicht beim Bundesrath, der bei seinen „Erwägungen" und „Prüfungen" schier kein Ende finden kann und dabei in dem Fortschreiten zu einer besseren Erkenntniß sich von den ehemaligen Culturkämpfern weit überflügeln läßt. In demselben Maße aber, wie das Centrum einen Erfolg zu verzeichnen hat, muß der B-uudesrath mit einer Niederlage rechnen, mit einer wohlverdienten Niederlage. Statt daSPenelopegewebe der unendlichen Erwägungen und Prüfungen sortzusetzen, sollte der Bundesrath nach der Belehrung über die Stimmung im Reichstage auch bei den Gegnern der Jesuiten zu einem kurzen Entschlüsse sich aufraffen und das ganze Iesuitengesetz beseitigen, statt demselben oder einem Reste desselben noch eine Galgenfrist zu gewähren. Fallen wird und fallen muß ja daS Iesuitengesetz, darüber kann kein Zweifel mehr obwalten." — Also den Bundesrath allein siebt die „Germania" noch als Hinderniß für den Fall des Jesuiten gesetzes an. Daß im BundeSrathe einzelne Stimmen gan^ entschieden der Aufhebung des Gesetzes widersprechen werden, geht aus der kürzlich mitgetheilten Auslassung des hessischen Ministers Finger hervor. Daß diese Stimmen aber die Ansicht der Mehrheit auSdrücken würden, glauben wir nach der am Mittwoch im Reichstag abgegebenen Erklärung des Reichskanzlers nicht mehr. Eine Zuschrift „von russischer Seite", die dem „Bor- wärt»" zugrht und die er ohne jeden Vorbehalt wiedergiebt, Geklagt zunächst, daß der Kaiser Nicolaus „noch" viele Sym pathien unter der russischen Arbeiterschaft besitze, und erklärt Liese Thatsache folgendermaßen: „Es bat sich eine Legende herauSgebildet, wonach der Zar von einer glühenden Liebe zum Volke durchdrungen ist und nur von den Vertretern höherer Stände, welche ihn falsch insormiren, verhindert wird, diese Liebe zu bethätigen." Dann heißt es weiter: „Wir wollen hoffen, daß die verflossene Krönungsfeier zum Schwinden der Zaren legende viel beitragen wird und, da die Ereignisse während der Feier uns gezeigt haben, daß das russische Volk sein freudeloses Dasein nicht theuer einschätzt, so haben wir das Recht, anzunehmen, daß, wenn es einmal zur Er kenntniß kommt, wer der Hauptschützer und Bundesgenosse aller seiner Ausbeuter ist, es auch nicht zögern wird, sein Leben einzusetzen, wenn es gilt, den letzten Kampf gegen den russischen CapitaliSmus auszufechten." Danach scheint der „Vorwärts" weder zu glauben, noch zu wünschen, daß Rußland „in den Zukunftsstaat hineinwachse", und da dieses Gebilde als ein internationales entstehen soll, so ist anzunehmen, daß das socialdemokratische Organ auch für Deutschland den „Uebergang" sich anders denkt, als ihn Herr Liebknecht mit der Phrase vom „Hineinwachsen" angekündigt hat. Die von der französischen Republik beabsichtigte Einführung von Differentialtarifen für Tnncficn erregt das ungetbeilte Mißfallen der englischen Handels welt. England hat in Tunesien für zahlreiche Artikel einen lohnenden Absatzmarkt, es ist daher sehr begreiflich, daß eS von den Bestrebungen der französischen Politik, daselbst Vorzugs tarife für französische Handelsgüter einzuführen, nicht sehr erbaut sein kann. Englische Blätter warnen deshalb Frankreich, die Saiten seiner WirtbschaftSpolitik nicht zu Überspannen. Was jetzt mit Tunis beabsichtigt werde, dürfte später auch in Marokko durchzuführen wenigstens versucht werden. Eng land werde nun keinesfalls zugeben, daß Frankreich seinen marokkanischen Einfluß einseitig weiter ausdehne. Auch in Tunis dürfte der englische Handel nicht verkürzt werden. Eventuell werde England seine Revanche für solche Vexationen seines tunesischen Geschäftes in Egypten nehmen, wo es be strebt sein werde, seine Herrschaft weiter zu befestigen und auszudehnen. Es dürfe niemals dahin kommen, daß das Mittelländische Meer ein französischer Binnensee werde. Als Symptom der zwischen Frankreich und England immer größer werdenden Spannung verdient der englische Mißmuth über die tnckesische Angelegen heit gewiß Beachtung. Salisbury batte, auf der Suche nach Alliirten, Frankreich vor einiger Zeit verschiedene Zugeständ nisse auf dem asiatischen Colvnialgebiet gemacht, in der Hoff nung, Frankreich dadurch zu ködern. Jetzt zeigt es sich, Laß der Liebe Müh umsonst war. Nicht nur daß Frankreich jede Allianz mit England von sich weist, tritt eö im Mittelmeer den englischen Plänen' birect entgegen. Unbegreiflich bleibt dabei nur, daß man in London nicht gewußt zu haben scheint, daß Frankreich gar keine andere Politik treiben kann, als mit allen Mitteln die Vernichtung des englischen Einflusses im Mittelmeer anzustreben. Die Nachricht, daß die Wiederherstellung des krctcnsischcn Verwaltungsregulativs auf Grund der Haleppa-Convention derPforte dringend von Oester - reich-Ungarn und Rußland angerathen worden sei, ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Vor Allem deshalb, weil sie ein diplomatisches Zusammengehen Oesterreich-Ungarns und Rußlands in einer Orient-Frage signalisirt, dann aber auch, weil sie die Basis bezeichnet, auf welcher nach der Meinung deö Wiener und deö Petersburger CabinetS eine Pacisicirung Kretas unter Schonung der Souveränetäts- rechte des Sultans erzielt werden soll. Die sogenannte Con vention von Haleppa. welche ihren Namen von einem Orte in der Nähe von Canea führt, datirt vom 15. October 1878 und ist von Mukhtar Pascha und den Mitgliedern der kretensischen Junta abgeschlossen. Mukhtar Pascha war nach Kreta entsendet worden, um die dortige» Unruhen zu dämpfen. In der Conferenz von Haleppa formulirten die Kretenser ihre Forderungen in folgenden neun Puncten: 1) Annahme der im Jahre 1876 beantragten Modifikationen des organischen Statuts von Kreta. 2) Ernennung eines christlichen Vali der Insel seitens der Pforte und Bestätigung desselben durch die europäischen Großmächte auf 5 Jahre, sowie Wiedererwählung desselben auf weitere fünf Jahre, falls er die Stimmenmehrheit der Einwohner für sich hat. 3) Angehörigkeit der Unter-Statthalter zu demjenigen Cultus, zu welchem sich die Mehrzahl der von ihnen zu verwaltenden Districtsbewohner bekennt. 4) Vervollständigung der bestehenden Gesetze durch die fran zösischen Gesetzbücher und Schutz der Gerichte gegen die Befehle der Pforte. 5) Beschränkung des Mrlitairs auf die befestigten Plätze. 6) Ueberweisung der Hälfte der Netto-Einnahmen der Insel an die Staatskasse und Verwendung der anderen Hälfte für öffentliche Arbeiten auf der Insel. 7) Ernennung von Friedensrichtern. 8) Obligatorische Kenntniß der griechisch en Sprache bei allen Beamten. 9) Anstellung von Christen in der Mauth. Ueber diese Puncte wurde vom 16. September bis zum 15. Oktober zwischen Mukhtar Pascha und den christlichen Deputieren verhandelt, bis die Vereinbarung zu Stande kam, die indessen iu den Hauptpuncten auf dem Papier stehen blieb. Die krrtensische Nationalversammlung sollte nach der Convention von Haleppa aus 80 Deputirten (49 Christen und 31 Mohamedanern) bestehen. Diese Zahl wurde jedoch später auf 57 (35 Christen und 22 Mohamedanern) reducirl In Folge von Reklamationen der Kretenser wurde sie nach dem vor letzten Ausstande um 8 erhöht und beträgt somit gegenwärtig 65 (40 Christen und 25 Mohamedancr). Der District Canea wählt 9 christliche und 6 mohamedanische, Sfakia 8 christliche und 1 mohamedanischen, Rethymo 7 christliche und 5 mobame- danische, Candia 9 christliche und 10 mohamedanische, Lassithi 7 christliche und 3 mohamedanische Deputirte. Aus dieser Vertheilung auf die einzelnen Distrikte ist auch das Verhältniß der christlichen zur mohamedanischen Bevölkerungszahl zu entnehmen. Die Wahlen sind indirekt, während früher das directe Wahlsystem bestand. Die Wiedereinführung der direkten Wahlen zählt zu den Forderungen, welche die Kretenser erheben. Angesichts der von der republikanischen National-Van- vcntion in Tt. Louis beliebten Formulirung ihres Partei programms kann man sich der Ueberzcuguna kaum ver schließen, daß wenn die Republikaner aus der PrasidentsckaftS- wahlcampagne als Sieger hervorgehen sollten, in dem Ver hält n iß CnropaS zu Amerika ein tiefgehender grund sätzlicher Umschwung nur noch eine Frage kurz bemessener Frist sein dürste. Der leitende Gesichtspunkt des republi kanischen Programms läßt sich kurz und bündig in die Worte zusammenfassen: Amerika den Amerikanern. Deshalb nimmt in ihren politischenTheorien dieMonroedoctrin denn auch den ersten Platz ein. Ihr muß sich alles andere unterordnen. Daß Amerika von Europa aus entdeckt, besiedelt, cultivirt und zu einer jetzigen Höhe wirthschafllicher und geistiger Entwickelung emporgehoben worden ist, wird von den Verfassern des St. Louiser republikanischen Parteiprogramms schlankweg ignorirt. Wenn Alles nach ihren Wünschen ginge, so wäre der vollständige Rückzug Europas vom amerikanischen Boden schon letzt vollzogene Thatsache. Als wünschenswertheS End ziel der künftigen politischen Entwickelung wird aber das Verschwinden jeglicher Spur europäischer Herrschaft vom transatlantischen Continent mit unzweideutigen Worten aus gesprochen. Cuba soll den Spaniern durch das Mittel der Anerkennung der dortigen Insurgenten als kriegführende Macht aus den Händen gewunden, den Dänen sollen ihre westindischen Besitzungen gegen klingende Münze abgekauft und zur Errichtung einer amerikanischen Flottenstation ver wendet werden. Das soll vorläufig genügen. Allzutragisch braucht man diese Drahtziehereien ja nicht zu nehmen, denn es handelt sich in erster Linie um wahltactischen Stimmen fang, aber dies darf vorausschaueude Politiker nicht blind machen gegen die Thatsache, daß jenseits der Atlantic der Drang, sich von Europa thunlichst zu emancipiren, riesige Fort schritte macht. Selbst von der eigentlichen Politik zunächst abgesehen, wäre cs schon eine ungewöhnlich ernste Wen dung, wenn die Vereinigten Staaten unter der Präsident schaft eines Mac Kinley das schutzzöllnerische Regime bis zum Extrem des ProhibitioniSmus ausbildeten. Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen würde die Folge einer hermetischen Absperrung des amerika nischen Marktes für die Erzeugnisse der diesseitigen Industrien sehr bald und sehr empfindlich am eigenen Leibe spüren. Deutsches Reich. tt Berlin, 19. Juni. In den deutschen Bergwerks bezirken sind die Klagen darüber nicht eben selten, daß die aus Uebernahme von Vormundschaften erwachsende Noth- weudigkeit der Wahrnehmung gerichtlicher Termine wirtbschaftliche Nachtbeile für die zahlreichen, dem Berg- arbeilerstande angehörigen Vormünder insofern mit sich bringt, als diesen die Wahrnehmung gerichtlicher Termine in Bormundschaftsangelegenheiten häufig LohnauSfälle durch Schichtversäumniß verursacht. Daß dieser Uebel- stand viel zur Verminderung der Bereitwilligkeit zur Ueber nähme von Vormundschaften in den dadurch betroffenen Bevölkerungskreisen beiträgt, wie auch, daß dadurch die Füh rung des Amtes als Vormund wesentlich geschädigt werden muß, ist so einleuchtend, daß überall, wo solche Klagen verlauten, auf deren thunlichste Abhilfe Bedacht genommen werden sollte. Erwähnung verdient unter diesem Gesichts puncte das Verfahren des Amtsgerichts Ruhrort, welches den Vormündern anheim giebt, in nicht besonders eiligen Sachen dem Gerichte Mittheilung zu machen, daß der be treffende Vormund, welcher auf einen Tag einer Woche geladen ist, in der er Tagschicht hat, am gleichen Tage der folgenden Woche erscheinen wolle, wo er Nachtschicht hat. Wenn dann auf diese Anzeige eine Antwort des Gerichts nicht erfolgt, so darf der Antragsteller annehmen, daß seinem Wunsche stattgegeben sei. Die betreffenden Mittheilungen können z. B. durch Postkarte oder mündlich auf der Gerichts- schrejberei durch die Ehefrauen oder Kinder der Vormünder gemacht werden. Fsnillatsn. Judas. 10j Roma« von Clau« Zehre». Nachdruck verboten. „Und getäuschte Liebe kann daS nickt sein'?" fragt Lola. Ihre Lippen beben, während sie sich dickt neben ihn binsetzt. „Dann wissen Sie nickt, was lieben heißt, Doctor RaßmuS!" Er sieht sie an mit einem Ausdruck, der sie verwirrt macht. So sah noch kein Mann sie an. Ein Jubel erfüllte sie, ein Jubel, der ihr fast die Fassung nimmt. „Und ich sage Ihnen, wir Frauen können so lieben und in unserer Liebe so hoffnungslos werden, aber auch so selig, so begeistert selig!" Da hebt er die Hand. Die Worte der Frau haben ihn mächtig erregt nach dem Anblick des Bildes und dann der Gedanke hier in Eva'S Zimmer zu sein. Eine ihm sonst fremde Weichheit nimmt Besitz von seinem Innern, nur einen Wunsch hat er jetzt. „Wollen Sie mir eine Erlaubniß geben, Frau Mohleu! Wollen Sie gut und freundlich sein und nachher schweigen?" Ihr stockt der Athem. „Gewiß ja, wa« wollen Sie? So sprechen Sie doch." „Ich möchte in jene« Zimmer." Er deutet mit der Hand nach dem Eingang zum Wohnraum der Präsidentin. WaS will er nur dort? — Doch schon nimmt er die Lampe, ganz vergessend, daß er Frau Lola im Dunklen sitzen läßt und wie sie ihm nachhuschend durch die nur angelehnte Thür lugt, da steht er vor Eva'S Bilde und schaut hinauf. Sehr, sehr lange, wie rS der stummen Zuschauerin scheinen will, welche mit seltsamem GesiHtSausdruck hinüberblickt. Nun hört man Jemanden >m Vorsaale gehen, Harald schrickt zusammen, al- erwach« er auS einem Traum. Wa« hat er nur gethan? Er wird glühend roth bis unter die blonden, welligen Haare. Mit verändertem Gesicht kommt er zurück, sehr un geschickt, wortlos, aber wie er Lola die Hand reicht, da bitten seine Augen: „Schweige l" „So, da ist mein Mädchen zurück. — Es war sehr freund lich von Ihnen, ich werde — da« nie vergessen." Ihre Hand liegt eiskalt in der seinen, aber ihre Züge steht er nicht mehr, nicht diesen Ausdruck darin, mit welchem sie ihm nachstarrt, mit dem sie noch seinen auf dem Pflaster enteilenden Schritten nachhorckt. * * Der Juni blieb heiß und drückend trotz vieler Gewitter. Harald fühlt sich matt, unlustig zur Arbeit und lebt einsamer denn je. Hansen kommt selten und auch immer nur auf wenige Minuten. Einmal halte er einen Brief von Eva erhalten, welche ihm im Auftrag ihrer Mutter schrieb, darin den Assessor um Besorgung eines Geburtstagsgeschenks für den Präsidenten bittend. Auch Grüße für Harald standen darin zugleich mit einer ängstlichen Klage, daß es Frau von Karchhusen schon seit einiger Zeit nicht mehr besonders gut gehe, und daß sie sich beide nach Hause sehnten. Kurt theilte das dem Freunde mit und ärgerte sich über die äußerlich etwas kalte Art, wie dieser die Grüße und die Nachrichten aufnahm, während Hansen innerlich selig war, von Eva «inen Brief bekommen zu haben. Wußte er doch nich^ wie sich RaßmuS zusammennahm, um gerade dem Freunde nichts zu verrathen. Er blieb wortkarg und ein silbig die Zeit über, als Hansen bei ihm war, und lehnte schroff seine Aufforderung ab, rin GlaS Bier zusammen zu trinken. Und nun war er heute Mittag nach Hause gekommen und fand ein Telegramm vor: „Mutter sehr krank. Bitte kommen Sie. Eva." „Frau Christensen!" Seine Stimme klingt Heller und deutlicher wie seit Wochen. „Ja, ja, Herr Doctor, wa» ist denn passirt?" „Rasch! Koffer packen, muß verreisen." „O Iemineh! auf wie lauge denn?" fragt« die Frau, sich die Hände an der Schürze reibend. „Weiß nicht, nur rasch!" und ohne ausznblicken, blättert er in einem CourSbuch, wirft einen Blick auf dir Uhr und sagt: „Ja, rasch, sehr rasch, in einer Stunde geht der Zug." Nun, al« er in demselben sitzt, da raffeln die Räder un aufhörlich, „Eva, Eva", und er denkt daran, wie unrecht ,S fei, gar keine Traurigkeit zu fühlen wegen der Ver anlassung dieser Reise, gar nicht so traurig, wie e« die Umstände eigentlich erforderten. Aber der Dampfer von Vlissingen nach London sang dasselbe Lied mit seinen Schaufelrädern, ja selbst die englischen Eisenbahnen und dann — dann — Da« wahr sehr traurig. Er stand neben Eva, die Hand auf den gebrochenen Augen der Mutter, aber an seiner Brust lag EvaS blonder Kopf und Eva weinte sich dort still, lautlos aus. Erst zwölf Stunden später langte der Präsident an und Harald besorgte Alles. Die Uebersührung der Leiche von England nach Berlin, — alles sehr energisch und verständig, aber doch halb wie im Traum, aus welchem er erst erwachte, als Frau Christensen ihn in seiner Wohnung begrüßte. Es ist etwas, was man nie vergißt im Leben, der Anblick eines zur Leichenfeier bergerichteten WohnraumeS, mit seinen großen schwarzen Trauerfloren, mit seinem fast drückenden Duft von unzähligen Blumen, untermischt mit dem. Aualm vieler brennender Wachskerzen. In der Mitt« ein Sarg, welcher unser Liebstes umschließt. Sie waren alle da: der Hofratb, Kurt Hansen und Lola Mohlen, gerade Eva gegenüberstehend, nur der Onkel Bostel fehlte. Wer konnte wissen, wo der augenblicklich in der Welt war und wann die Trauernachricht ihn erreichen würde. Frau Moblen sieht sehr gut aus in Schwarz. Sie hatte das selbst schon gefunden, damals, als ihr Mann ge storben war und sie ein halbe« Jahr länger trauerte, wie nöthig war. Der Prediger spricht sehr lange. — Lola stehl zu Harald hinauf, der neben einem Oleander halb rechts von ihr steht und keinen Blick von Eva'S blassem, süßem Gesicht abwendet, welches merkwürdig schmal und zart aus dem Krepp des Kleiderkragens hervorschaut, während ihre Augen unverwandt auf den Sarg gerichtet sind. Nur ein oder zweimal hebt sie die Augen, schaut starr über die düstere Versammlung hinweg, bis ihre Augen an Harald haften, im Anfang groß und starr, dann aber zieht ein trauriges, müdes Lächeln über ihr Antlitz, und Frau Mohlen ist es, als senkten sich die Lider über Eva'S Augen und auch ein wenig ihre schneeweiße Stirn. Al« Hansen mit RaßmuS vom Kirchbof zurückschritt, meinte er, selbst tief erschüttert und bewegt: „Die arme Eva! — Der Präsident sprach davon, in wenigen Tagen verreisen zu wollen, — sie bedürften beide anderer Eindrücke, nur könnte sich Eva noch nicht recht dazu verstehen. Aber gerade um so uötbiger sei eS." O, wie Harald sie verstand. Sie wollte nicht fort auS jenen Räumen, wo ihr die Mutter gelebt, dort wollt« sie in Webnnith dem Andenken derselben leben, aber dir Anderen verstanden das Wohl nicht. Da« Schwere mußte möglichst rasch geheilt und vertriebeu werden, wie eine lästige Krankbeit. Merkwürdig, — auch Aerzte rathen so etwa- an. Nun, sie kennen eben die Menschen. — Früher starb, lebte, starb wieder und lebte weiter in denselben Räumen oft Geschleckt auf Geschlecht. Kein Mensch fürchtete sich vor dem Zimmer, in dem Vater oder Mutter gestorben war. In stiller Weh mut!) erzählte der Vater dem Sobne: „Hier an diesem Fenster pflegte Dein Großvater jeden Nachmittag zu sitzen zwischen zwei und vier Uhr und dann schlug er das rechte Bein über das linke und um drei Uhr das linke über daS rechte." Das ist jetzt ganz anders. Alte Möbel sind abscheulich, alte Plätze auch. Hinterbliebene brauchen Zerstreuung und reisen nach Italien oder Norwegen. Vielleicht sind auch viele darunter, die dieses gern thun, weil sie unter wildfremden Menschen früher ein vergnügtes Gesicht sich gestatten dürfen. — Die alte Wohnung wird verlassen, weil man sich nicht entschließen kann, voll Wehmnth in der bekannten Umgebung zu bleiben, und die Söhne wissen nichts mehr von den Eltern zu erzählen und die Enkel Wundern sich, daß es einmal eine Großmutter gab. — Ja, der Präsident kündigte sofort das Haus und behauptete, eine Reise sei unerläßlich, und Eva glaubte, daß wirklich für den armen Vater AUeS geschehen müsse, um ihn auS seiner Verzweiflung zu reißen, in welche derartige Menschen plötzlich hineinfallen, um sehr hastig und sehr bald wieder hinaus zu springen, sobald die Gelegenbcit dazu günstig und anständig ist. Inmitten ihrer tief innerlichen Trauer fühlte Eva sich doch ruhig und zufrieden. Sie wußte, daß sie eine unendliche Geduld mit dem Vater haben müßte und könnte. Es war traurig um sie her, aber nicht dunkel und hoffnungslos, selbst damals nickt, als der Mutter letzter Athemzug von deren Lippen sich losrang. Ließ doch Lieser Athemzug ein Lächeln auf dem lieben eingesunkenen Mund zurück, ein Lächeln, welches nicht geschwunden war, seit Harald RaßmuS an ihr Bett trat. Daß dieser nie rin Wort seiner tiefen Liebe zur Tochter sprach, daß kaum ei» warmer Blick seiner Augen die ihren traf, daß er fast vermied, ihre Hand zu fassen, La« wußte die Tochter der Verstorbenen ihm Dank. Es war etwa« Keusches und ÜerbeS in seinem Berkebr mit ibr, ein Etwas, daS nur edle Männer der Geliebten gegenüber fühlen und zeigen und daS nur vornehme Frauen naturen zu würdigen wissen. — Aber daß er nun seit acht Tagen nock nicht gekommen war, da« begriff sie nicht und es machte sie nervös. War doch Hansen fast täglich im Hanse und bemüht« sich, die traurige Stimmung etwas auf
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