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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.01.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-01-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189901084
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18990108
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18990108
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-01
- Tag1899-01-08
- Monat1899-01
- Jahr1899
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.01.1899
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13. Mts Mvrg«r^l»»gab« erfchekt «m '/,? Uhr, Ht» Abeud-Ausgab« Wochen tag« »m b Uhr. Rtd«tto« ««- LrpeLMou: -»h«nre»»«fie 8. DteEkPeMo« Ist Wochentag» ««unterbräche» >r-ffnrt vo» früh 8 bi» Abend- 7 Uhr. / FlNale«: Dtt« Me««'» Sarit«. (Alfred Haha). UatverfitLUstratze S (Paulinum), 8a«t« Löfche, Kattzardlenstr. 14, pari, und König-platz 7. vezugS-Prett k Hoptexpebitio« oder de« km Stadt» ! «ch den Bororten errichtete« Aos- *ll««ab,ehvlt: vierteljährlich^».«), weimaliaer täglicher Zustellung in» ^l SckiL Durch die Post bezöge« für chlimd mch Oester«ich: vierteljährlich —. Directe täglich« Sreu-baudirnduag tu» Ausland: monatttch ^l 7.S0. MMrIaMalt Anzeiger. Amtsblatt des Königliche» Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes und Polizei-Amtes der Stadt Leipzig. Anzeigen-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Psg. Reclamen unter dem RedactionSstrich (4go» spalten) «1/ij, vor de« Familiennachrichtea (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis» verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), «nr mit der Morgen»Ausgabe, ohne Postbeförderunß 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Anuahmeschluß für Anzeige«: Ab end »Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morge «»Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Sonntag den 8. Januar 1899. 93. Jahrgang. Aus der Woche. Preußen bat einen verhLngnißvollen Sieg erfochten. Der Bundr«rath hat zwar sowohl den sch au mbur gisch en als auch de« lippe»detmoldschen Pelz gewaschen, obne den einen oder den andern naß zu machen, aber sein Beschluß birgt die Möglichkeit einer weiteren Verschleppung der lippischen Sache in sich und bietet somit für Berlin die Gelegenheit, sich auf dem Umwege über Lippe noch fernerhin in ganz Deutschland zu compromittiren. Der Streit, der nach der der BundesrathSmehrheit nach langen Bemühungen beigebrachten Auffassung ein solcher zwischen zwei Bundesstaaten und nicht eine An gelegenheit de» Fürsten von Schaumburg ist, kann in der bisherigen Weise weiteraehen. Zwar steht der muthige Be schluß Lippe nicht im Wege, wenn es jetzt die Thronfolge durch Landesgesetz regeln will. Ebensowenig aber vermag es den Schaumburger zu bindern, einen solchen Act der Gesetzgebung in seiner Rechtsbeständigkeit anzufeckten. Denn der BundeSrath will ausdrücklich „der Entscheidung über die Wirksamkeit der Acte der lippischen Gesetz gebung" nicht vorgreifen; die Abweisung des schaum- buraffchen Anspruchs, Lippe solle die Regelung der Erbfolge durch LandeSgesetzgebuug untersagt werde, erfolgt aber auch nur, weil die Angelegenheit nicht pressirt. Und über den zweiten schaumburgischen Antrag auf Ungiltiz- keitSerklärung deS bereit- erlassenen LanvesgesetzeS, welches für den Fall, daß der jetzige Graf-Regent vor dem regierungs unfähigen Fürsten stirbt, dem ältesten Sohn deS Regenten die Regentschaft überträgt, darüber bat der zuständigkeit-frohe, aber entfcheidungSunlustige BundeSrath in seinem wie auf Srelzen gehenden Beschlüsse gar nicht- gesagt. Es bleibt vorläufig bei der Nichtachtung der in dem schiedsgerichtlichen Urtheile des König- von Sachsen ausgesprochenen RechtSgrundsätze über die Ebenbürtigkeit. Da aber der BundeSrath sich einmal für zuständig erklärt hat, so sollten Regent und Volksvertretung '« Lippe nicht zögern, dem Schaumburger alsbaldige Gelegen heit zu einem abermaligen Anträge dadurch zu geben, daß sie da» Erbfolgerecht der Söhne de- Graf:« Ernst nun mehr gesetzlich regeln. Die „Nationalzeitung" bemerkt mit Recht, es ser ein Vortheil, wenn beim Eintritt der Erbfolge und der Regentschaft ein wenigsten- innerhalb Lippe- nicht bestrittener Rechtszustand Vorhänden wäre. Aber da- ist eS nicht allein. Man kann aus dem Buade-rath-beschlusse die starke Bermutkung schöpfen, daß die Mehrheit der hohen Körperschaft den Mutb ihrer eigenen Meinung wieder finden würde, wen» sie gezwungen wäre, em auf der Grundlage deS Schiedsgerichts beruhendes Erbfvlgegrsetz anzuerkennen oder iu suspenso zu halten oder umzustoßen. Bi- auf Weiteres werden aber zum Gaudium aller Reichsfeiade die Berliner Liebenswürdigkeiten gegen den Biesterfelder fortgesetzt werden. DaS wäre freilich auch noch einer Entscheidung möglich. Aber ist die Sache einmal erledigt, so fällt für Preußen wenigsten- der Anreiz weg, die lippische Bevölkerung im Guten und im Bösen zu einer Sinnesänderung zu bekehren. Inzwischen hat man weiteren Anlaß, Betrachtungen über die Natur des neuen Kurse- anzustellen. Der zum Ober bürgermeister Berlin- vor langer Zeit gewählte Bürger meister Kürschner ist noch immer nicht bestätigt. Acht wiebergewählte Stadträthe, die gleichfalls für eine anständige Umzäunung des Friedhofes der Märzgefallenen zu gestimmt haben, sind bestätigt. Aber für diese Bestätigung war nur der Oberpräsident zuständig, während die Zulassung des Oberbürgermeisters der Entscheidung des Kaisers und Königs unterliegt. Dieser Unterschied berührt jedoch die Ver antwortung der Minister, insbesondere die des Fürsten Hohen lohe und deS Frhrn. v. d. Recke, in keiner Weise. Man fragt sich — und nicht nur in den freisinnigen Kreisen, denen der Gewählte angehört —, was dieRegierung bewegen könnte, einen abnormen Zustand aufrecht zu erhalten. Tbut sie eS, weil sie Herrn Kirschner, sei eS wegen deS FriedhofsgitterS, sei es weil er ein Freisinniger ist, gehörig „zappeln" lassen und dann bestätigen will, so würden sich die Räthe der Krone den Vorwurf zuziehen, einen Vorschlag gemacht zu haben, den ««nehmen zu müssen, deS Trägers der Krone un würdig ist. Sind die Minister aber gewillt, die Ablehnung deS Gewählten herbeizufübren, so ist für ihr Zögern nur ein einziger Grund denkbar: sie haben den Muth, ihren Entschluß auszuführen, noch nicht gefunden. Das Eine ist so bedenklich wie das Andere. Die Stelle des Oberbürgermeisters von Berlin ist nicht etwa eine zu Repräsentationszwecken angebrachte Decoration, ihr Inhaber ist vielmehr der wichtigste Arbeiter der Stadt und die Nichtbestätigung ist bereits zur Calamität geworden. Die zwei Männern zugewiesene Arbeitslast muß von einem getragen werden, überdies kann, so lange der Bürgermeister Kirschner als Oberbürgermeister weder besteht noch abgelehnt ist, nichts zur anderweitigen Besetzung der jetzt von ihm bekleideten Stelle geschehen. ES ist ohne Weiteres al- die Pflicht der Minister zu be zeichnen, eine übermäßig lange Vacanz öffentlicher Aemter zu verhüten. Sie sind d!eS allen Vertretern staat licher Autorität — und dazu gebören auch die Inhaber der auf Grund staatlicher Gesetzgebung oder t.iniglicher Art, ordnung bestehenden Bürgermeisterämter — u. A. desha r schuldig, weil es zu de« unliebsamsten Gedankengängen führt, wenn der großen Menge auf praktischem Wege Zweifel an der Unentbehrlichkeit aus öffentlichen Mitteln bezahlter Posten, und dazu oberster Posten, erregt werden. Zn dem Berliner Falle kommt noch dazu, daß die zu dem nie erhörten Vorgänge gesprochenen, neuerdings auch geschriebenen Eom- mentare dem auch auf communalem Gebiete sinkenden Frei sinn eine willkommene Stütze bieten. Die Erörterungen über die vollzogene Bildung eines conservativen Parteiansatzes in der Provinz Hannover, der „conservativen Vereinigung", dauern fort. Die Nationalliberalen, die durch daS Unternehmen in ihrem politischen Besitzstände bedroht werden sollen, üben eine be rechtigte scharfe Kritik, wenden sich aber unseres Erachtens nicht an die richtige Adresse, oder bezeichnen wenigstens diese nicht deutlich genug. Der konservative Feldzug geht, zum Unterschied von früheren conservativen „Einbruchs"-Versucken, von Beamten, d. h. von Berlin aus. Und waS man dort will, ergiebt sich mit erschreckender Deutlichkeit aus einer Dar legung deS Preßorgans der neuen conservativen Vereinigung. Man liest dort über die Welfenpartei: „Die Seele und den inneren Gehalt hat der (welfischen) Gc» sammtpartei die verhältnißmäßig »ur kleine Zahl der Männer gegeben, die in der Hauptsache allein die Anhänglichkeit zu ihrem ehemaligen Königshause bei der welfischen Partei festhielt. Diese Männer haben in ihrer überwiegenden Mehrzahl längst eingesehen, daß die Verwirklichung deS Programms der welfischen Paitei für immer und alle Zeiten ausgeschlossen ist. Sobald sie das WelfenhauS in glücklichem Besitz des ThroueS eines stammverwandten deutschen Bundesstaats wissen, werden sie ihre Feindseligkeiten gegen Preußen ein stellen, in der llcberzeuguug, dadurch dem Wohle Hannovers am meisten zn dienen. Mlt ihrem Fortgang aber wird der Partei das Mark aus den Knoche» gesogen sein. Die Heißsporne, die auch dann noch an eine Wiederausrichtung des Königreichs Hannover werden glauben können, und jene Demagogen, die durch wildeste Agitation und mittels einer fanatischen Presse bislang das Volk aufwiegelten, werden ihre Gefolgschaft in alle vier Winde zer streuen sehen." Man sieht, nm WaS es sich handelt. Den Glauben, daß die hannoverschen Welfen durch die Besetzung des braun schweigischen Thrones mit einem Cumberlander gewonnen werden könnten, theilt keine nationale Partei, auch die Con- servativen nicht. Er gehört aber zur Eigenart des neuen Kurses, der die Berufung eines Enkels des Königs Georg mit unausgesetztem Eifer betreibt und die Sache in der Tbat schon sehr weit hat gedeihen lassen. Die Mittheilung über die Anbahnung einer Lösung der braunschweigischen Thronfolge in einem den Welfen — und Ultramontanen günstigen Sinne, die kürzlich die „Schief. Ztg." mach'.: waren richtig. Die Besck»w>chtigungSartikeI, die sie bervorrief, entsprachen der Erkenntniß, daß die öffentliche Meinung in Deutschland noch nicht reif genug für diese Art von „Bersöbnungspolitik" ist. Nm hierin zu „bessern", sollen in Hannover neue Stützpunctc für die Behauptung geschaffen werden, daß eS dort eigentliche, wenigstens ernsthaft zu nehmende Anhänger des Gedankens einer Losreißung Hannovers von Preußen gar nicht gebe. DaS ist die Aufgabe der preußischen Beamten in der Provinz, und zu ihrer Erfüllung ist die „conservative Vereinigung" gegründet worden. Es wird sich demnächst Herausstellen, ob bei der soeben ab gehaltenen Beratbung hannoverscher Nationalliberaler dieser Zweck ter neuen Parteibildung genügend gewürdigt worden ist. Eine andere Parteiaction im großen Stile befürwortet die „Nationalzeitung". Sie will die nationalliberale Partei im preußischen Osten wieder erstarken lassen. Das ist eine löbliche Absicht. Nur schade, daß daS Berliner Blatt zwischen der nationalliberalen Partei und der freisinnigen Vereinigung gar keinen Unterschied macht und deshalb durchaus ungeeignet ist, unserer Partei die Wege zu bahnen. Tie Vorliebe für dieRichtungRickert-Barth hat die „Nationalzeitung" sogar so blind gemacht, daß sie die Fehler der freisin nigen Volkspartei, nm derentwillen sie u. A. die Ausbreitung deS NationallibcraliSmuS im Osten zu wünschen erklärt, bei der frersinnigen Vereinigung gänzlich übersieht. So schreibt daS Blatt: „Die Haltung, welche Herr Richter und seine Freunde jetzt wieder angesichts der Abwehr-Maßregeln gegen die dänische Agitation in Nordschleswig cinnehmen, beweist von Neuem, daß der Liberalismus jeden praktischen Einfluß im deutschen öffentlichen Leben verlieren würde, wenn er auf die Vertretung durch die Herren Richter und Genossen angewiesen wäre." Sehr richtig. Aber die Haltung der freisinnigen VolkS- partei gegenüber den Ausweisungen ist anch die der freisinnigen Vereinigung und zwar ist es die Presse dieser letzt genannten Richtung, die in dieser Campagne der Selbst entwürdigung die Führung übernommen und zu Thaten wie die des Herrn BleU ermuthigt hat. Auch gehört der Abg. Hänel, der nur durch den Schluß der kürzlichen Etats debatte verhindert wurde, gegen die Ausweisungen von der Tribüne deS Reichstags zu wettern, der Vereinigung und nickt der Volkspartei an. Die Nationalliberalen WcstpreußenS haben denn auch, wie gemeldet, für eine ge meinsame Wirksamkeit gedankt und werden der von Herrn Rickert auf heute nach Tborn einberufenen „liberalen" Ver sammlung, für die übrigens auch zwei der Richter'schen Volkspartei angehörige Abgeordnete ihr Erscheinen zugesagt haben, fern bleiben. Nationalliberale, die sich von dieser Zurückhaltung etwa ausschließen sollten, dürften schlechte politische Geschäfte machen. Die Beleuchtung, die die Polen gefahr aber wieder in dem Proceß von Inowrazlaw er fahren bat, ist durchaus ungeeignet, das Zusammengehen mit Elementen, die sich gegen daS Deutschthum theilS lau, theils jtindselig verhalte», ertaubt erscheinen zu lassen. Der frühere Rrick>S tagSabgeordnetefü»Dinkels bühl, Lutze, wollte in München eine bäuerliche Genossen- schaftsschlächterei errichten, nm zu beweisen, daß man Fleisch erheblich billiger verkaufen könne, als die dortigen Metzger thun. Er hat noch in letzter Stunde, „wegen Bedenken in Bezug auf die Rentabilität", die Flinte ins Korn geworfen, und die mitlelfränkischen Bauern, deren Vieh er in München ausscklachten wollte, können uun mit dem Krähwinkler Land sturm singen: „Unser Hauptmann, der ist von Dinkelsbühl, Courage hat er wohl, aber nicht sehr viel." Feuilleton. Aus -er Spinnftube. Von Heinrich Geller. Nachdruck verboten. In der Dresdener Gallerie befindet sich ein Gemälde, das durch seinen Stoff die Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich zieht. Da sieht man in einer halbdunllen alten Bauernstube die schmucken blondzöpfigen Dirnen im engen Kreise rund um die Spindel sitzen und den Faden ziehen. Doch augenblicklich stockt die Arbeit, denn der Jörg, der schmucke Bursch, der da, den Mädchen zur Gesellschaft, mit seinem stattlichen Gesellen am Tische hinter dem Bierkrug« sitzt, erzählt eben eine gar so schöne und schreckliche Geschichte von einem feurigen Manne, den er einmal selbst gesehen haben will, und er schildert so lebendig und überzeugend, daß das Vreneli, an die er sich hauptsächlich wendet, weil er ihr heimlich sein Herz geschenkt hat, sich vor Angst kaum zu lassen weiß und den Unhold schon in dem dämmerigen Raume erscheinen zu sehen glaubt. Und als der Jörg nun gar berichtet, wie der Feuermann immer näher und näher an ihn herangekommen sei und am Ende gar eine riesige glühende Hand nach ihm ausgestreckt habe, ... da hängt das Vreneli wie gebannt an des Burschen Munde, und mit weit aufgeriffenen Augen, di« kleine Hand auf das pochende Herz gepreßt, starrt sie ihn entsetzt und unverwandt an und bemerkt nicht eimnal den Schall, der aus Jörg's Mienen lacht. Wie lebendig spricht auS diesem schönen und gemüthvollrn Bild« deS zu früh verstorbenen Eduard Kurzbauer das Wesen einer urdeutschen alten Einrichtung, die traulich« Stimmung der Spinnftube, zu uns. Ach, auch sie ist nun auf den Aussterbe etat gesetzt. Lange schon war sie von ihren Feinden in di« Acht gethon und verfolgt worden, doch die Lebenskraft haben ihr nicht diese Verfolgungen genommen, sondern erst unsere moderne Zeit, die mit der Aufklärung und mit der Eisenbahn, mit der Petroleumlampe und der städtischen Tracht überall auch die gleichmäßige Verflachung der Sitten hinträgt und dadurch unseren alten Volksbräuchen den Boden abgräbt. Freilich, so ganz ist die Spinnftube noch nicht au» dem Volksleben ver schwunden. In so manchem GebirgSdorfe Schlesiens, in so manchem Weiler Hessens, der Oberpfalz und des Elsasses kommen Burschen und Mägde noch jetzt alljährlich, wenn die Feldarbeit beendet ist und die langen Abende beginnen, nach der Sitte der Vorfahren zusammen, um Kunkelstube, Maistube, Lichtkarg, Vorsitz, oder wie die örtliche Bezeichnung für die Gewohnheit sonst lautet — HanS Sachs nannte sie Spinngade —, zu halten. Aber auch da hat sie von ihrem ursprünglichen Charakter ge wöhnlich schon viel verloren. Da» Spinnrad, da» noch unseren Großmüttern der Wertheste Gefährt« war, ist heute veraltet, die Mädchen würden sich schämen, solch ein unmodisches Werkzeug in die Kunkelstube zu bringen, und so ist au» der Spinnstube eine Strickstu-e geworden, ja manche der Dirnen zieht wohl gar schon eine Häkelarbeit hervor. Und auch diese Arbeit ist zur Nebensache geworden; ein paar Stunden werden damit vertrödelt, bis endlich die Zeit gekommen ist, wo die im Stillen längst er sehnten „Büwe" hereintraten, und die Spiele und Gesänge anheben, die die Hauptsache der Spinnftube geworden sind. Man würde aber irren, wenn man annähme, daß die Be deutung der Spinnstube von jeher nur darin gelegen habe, die vornehmste Winterunterhaltung der Dörfler zu bilden. Vielmehr ist die Spinnftube auf die ganze geistige und sociale Entwickelung unseres Volkes von nicht zu unterschätzendem Einflüsse gewesen. Hier war die hauptsächliche Pflege-, ja oft Geburtsstätte des deutschen Volksliedes, die Weisen der Fahrenden — hier wurden sie wiederholt, erhalten, an die jüngeren Generationen weiter gegeben, und oft verdankte ein Volkslied, wie wohl noch an seinem Gefüge selbst zu bemerken ist, der vereinten Arbeit einer Spinn stubengesellschaft seine Entstehung. Als die Bücherpresse schon ihre Herrschaft angetreten hatte, klang hier noch der alte Natur sang des Volkes im Stillen fröhlich fort. In dem dunkeln, engen, weltentrückten Gemache, darin bis gegen Fastnacht munter die Spindeln schnurrten, hat das geistig« Leben eines großen Theiles unseres Volkes seine Prägung erhalten. Hier wurden die großen Zeitereignisse, von denen ein Echo auch in das ferne Dörflein gedrungen war, besprochen, hier bildeten sich Ansichten, Wünsche Stimmungen, di« später bedeutsam ins geschichtliche Leben ein griffen, hier gaben die Gereisten Berichte von der großen Welt und bestimmten das Weltbild, das der Schwarzwälder oder Pfälzer, der Eifler, der Meißener oder Schlesier in seinem Kopfe trug und seine Kinder lehrte. Hier endlich fanden die uralten Ueberlieferungen und Sagen, die die Gelehrten und Geistlichen unausgesetzt eifrig als Aberglauben bekämpften, ihre letzte geheime Zuflucht, und hier sogen sie die unverwüstliche Lebenskraft ein, deren Zähigkeit ihre gelehrten Widersacher in Erstaunen und Verzweiflung versetzte. Denn die Einrichtung der Spinnftube selbst hängt noch leise mit dem altgermanischen Heidenthume zusammen. Die gute Göttin Perchta, deren Tag noch heut den fleißigen Spinnerinnen heilig ist, war ja die himmlische Spinnerin, die Schutzgöttin der edlen Spinntunst, und diese Perchta, diese Frau Gott«, war auch eine Art Schubgöttin der Spinnstube. Aus den ältesten Zeiten überkommen ist die tiefe Ehrfurcht vor der Spindel und ihrem Werk«. Eine Kunkel wurde im Elsaß dem neu geborenen Kinde zu glücklicher Vorbedeutung in die Wiege gelegt; Spinnrad und Haspel wurden im Brautzuge dem Brautpaare vorangetragen, und selbst der verstorbenen Frau pflegte man noch ins Grab eine Spindel als das ehrend« Symbol des Fleißes mit zugeben. Die Mrstin wie die Bauernmagd spann vor Zeiten und ihr Gewebe war ihr stolz gehüteter Schatz. Karl's des Großen Töchter mußten fleißig spinnen, und über dem Grabe der Liutgard, der Tochter Otto's I., in der Kirche zu Mainz wurde ihre silberne Spindel aufgehängt. Die Spinnftube der Frau war der Mittelpunkt des geistigen Lebens im Hause, und die gleiche Rolle spielte für das Leben des Dorfes die winterliche Vereinigung der Spinnerinnen die Spinnftube. Sie beginnt im November und endet zu Fastnacht; ihr Höhe punkt aber liegt in den ersten Monaten de» neuen Jahre«. In manchen Dörfern ist daS HanS, in dem die Spinnstube stattfindet, durch altes Herkommen bestimmt; anderwärts fällt ihre Ab haltung der Familie zu, di« über die größten Räume verfügt, oder man vereinigt sich wohl auch bei einer armen Frau, die dann zum Entgelt für ihre Mühe einen Antheil an den Werken der Winterabende erhält. Die alten Familienväter pflegen die Spinnstuben in ihrem Hause nicht gern zu sehen, aber junge Frauen und freundlich« Wittwen beherbergen sie gern bei sich. Freilich verursacht sie so manchen Trubel. Muß doch das für die Spinnstube bestimmte Zimmer ganz ausgeräumt werden! Im Kreise sitzen dann die Dirnen mit Kunkeln und Rädern herum; die Männer und Burschen aber -liegen ober sitzen auf Bänken an der Wand, wenn nicht Jeder hinter seinem Schatze Platz nimmt, was beide Theile vorzuziehen pflegen. Aber nicht all' und jedes Mannsbild darf bei diesen Zusammenkünften erscheinen. In Schwaben z. B. wurden nur die Burschen zugelassen, die ein Handwerk ausgelernt hatten oder einen Heuwagen nach allen Regeln der Kunst laden konnten. Wagte sich aber ein windiges Bürschlein, das noch nicht so weit war, in die „Lichtstube", so fand er sich bald wieder draußen in der kalten Winternacht; und wagte er sich gar sein Pfciflein anzustecken, so ward ihm seine Pfeife zerbrochen, und, eine Kinderwindel auf dem Rücken, mußte der Vorwitzig« am Ofrn Pranger stehen, wobei ihm die spott lustigen Schönen wohl gar einen „Schlozer", das heißt einen Lutschbcutel, in den Mund steckten. Und nun schnurren die Räder und brennen die Pfeifen, und die Burschen denken ihrer Pflicht, di« fleißigen Spinnerinnen zu unterhalten. Erlebnisse, Sagen, Märchen, Scherze werden da erzählt. Aber am beliebtesten bleiben die Geister- und Ge spenstergeschichten, es wird Einem so heimlich dabei, wenn man im traulichen warmen Zimmer sitzt und draußen der Wind heult und der Regen ans Fenster schlägt. Da kriechen die Kobolde aus ihren Höhlen hervor, das wild« Heer zieht wieder durch die Lüfte. Riesen und Wichtelmänner erscheinen und treiben ihren Spuk; und stiller und stiller wird's im Zimmer, und langsamer und langsamer gehen die Rädchen, bis ein Scherz fröhlich die Spannung auslöst, zwei Burschen eine lustige Balgerei ausführen oder gar alle Mannsbilder zusammen in ein Helles Gelächter aus brachen, weil sie mit ihren Schauergeschichten gewöhnlich doch nur die armen leichtgläubigen Mädchen foppen wollen. Aufs Foppen läuft's schließlich meist hinaus. Bald schlägt ein Schneeball zu allgemeinem Schrecken dröhnend gegen den Fensterladen oder eine weiß« Gestalt erscheint gespenstisch auf der Schwelle oder der Bursche versucht sein altes Recht geltend zu machen und sein Mädchen von: Spinnen abzuhalten. Freilich darf er sich dann auch nicht beklagen, wenn die kräftige Dirne sich tüchtig wehrt und dem Uebermüthigrn mit derber Hand einen Denkzettel ertheilt. Von Alters her bildet die Spinnftube den privilegirten Schau platz dörflicher Liebesnovellen. Hier lernt das Paar sich genauer kennen, das sich in den lichten Tagen des Sommers zusammen fand; Mädchen und Bursch beobachten einander darauf, ob sie nach Zucht und Sitte sich betragen, der Bursche sieht, ob die Dirne fleißig ist und sauber zu spinnen versteht. Zahlreiche Sitten und Spiele sind so recht dazu geeignet, Herz zu Herzen zu führen und ein zartes Band zu knüpfen. So ist es für das Mädchen gar gefährlich, wenn ihm der Faden reißt, da der Bursche, wenn er das Unglück bemerkt, es reparirt und der Schönen einen Kuß rauben darf. Und wie verführerisch ist der Vorzug, „das Angle schütteln", d. h. dem Mädchen den beim Spinn«« auf drr Schürz« sich festsetzendrn Abwurf entfernen zu dürfen. Was lockte schon den alten Hans Sachs: Komm, ich will Dir zeigen Den allerschönsten Jungfrau'nhof, Da wollen wir den schönen Docken Die Agrn abschütten von dem Rocken. Dann giebt es auch wohl ein lustiges Gefecht mit Schnee bällen, wobei mancher jttrß schnell geraubt — oder auch gegeben wird, und Pfänderspiele, die ja stets auf einen und denselben, Weiblein und Männlein wohlbekannten süßen Refrain ausgehen. Ueberhaupt haben sich auch dir Unterhaltungen und Spiele der Spinnftube modernisirt, und Hans Lienhart hat im Elsaß sogar das ganz „auf der Höhe der Zeit" stehende Spiel „Einen hypnotisiren" gefunden, das natürlich auch auf einen Schabernack hinausläuft. Aber nicht zu allen Zeiten geht es in der Spinnstube so her. Es giebt Abende, an denen die Räder still stehen müssen, soll der Spinnerin nicht Unheil widerfahren. So heißt es, daß bei Mondenschein überhaupt nicht gesponnen werden dürfe: „der Tag gehört dein, die Nacht gehört mein", warnt der Mond in einer Neukirchener Sage di« Spinnerin. Auch der Sonnabend und die Abende vor einem Feste sind verbotene Tage; ein Mädchen, das am Sonnabend die Spindel hatte laufen lassen, wurde im Jenseits durch eine glühende Hand bestraft, so erzählt die Sage, und ihr Geist erschien ihrer Freundin und rief ihr warnend zu: Sieh, was ich in der Hölle gewann, Weil ich am Sonnabend Abend spann. Derlei Sonnabendgarn bringt auch nie Segen; es bricht oder bleicht nicht, oder hegt gar Ungeziefer. Auch die „Zwölften" sind in einigen Gegenden solche Sperrnächte. Es liegt in der Natur dieser Einrichtung und in der des Bauernvolkrs, daß die Spinnftube zu mancherlei Unfug Anlaß gab. Darum wird in manchen Gegenden streng darauf gehalten daß nicht später als zehn Uhr alle Teilnehmer auseinandrrgchen und im Westerwald patrouillirt sogar der Büttel oder der ge strenge Herr Bürgermeister selbst, um auf Ordnung zu seben und das Ende zu künden. Daher schreiben sich auch die zahl reichen Erlasse, di« seit dem 16. Jahrhundert sich gegen die Spinn stuben richten. So warnt schon 1626 der Rath von Nürnberg, es müsse „ziichtigklich, erberklich und beschridentlich" dabei zu gehen und „streffliche leichternigkeit" abgestellt werden, und 1672 ging er noch strenger vor. Andere Städte und Länder handelten im gleichen Sinne. Noch 1836 ist ein Büchlein gegen die Rocken stuben erschienen, das warnend ausrief: „Rockenstuben, böse Buben! Rockenknrchte, böse Mägde!" Es ist aber mit Recht hervorgehoben worden, daß die Verbote der Spinnstuben ihren Zweck nicht erreicht und nur anderen Gepflogenheiten, die schlimmerer Art sind, die Wege gebahnt haben. Mit der Spinn stube ist freilich ein Vorwand zu mancher leichtsinnigen und zuchtlosen Handlung aus der Welt geschafft, aber es ist aus dem dörflichen Leben ein Mittelpunkt genommen worden, von dem Gemringefühl, Anregung und Frohsinn ausging, und in dem der alte Geist des Volkes seine Stätte hatte.
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