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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.01.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-01-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990110021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899011002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899011002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-01
- Tag1899-01-10
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Einen — vielleicht willkommenen — Gorwand, sich von der nordschleSwigschen Campagne allmählich zurückzuziehen, bietet die vom Polizeipräsidenten von Berlin in einer Berichtigung an ein dortiges Blatt gestellte, in Charlottenburg verfügte Ausweisung zweier Cigarettenmacherinnen. Die Betroffenen sind die Anfang August vorigen IahreS zugezogenen Schwestern Feige und Keile (dies sind Vornamen) Koß aus Buten in Rußland. Der „Vorwärts" will noch von dem Bevorstehen weiterer 15 Ausweisungen aus Berlin oder dessen nächster Umgebung wissen. Sollten auch diese erfolgen, so würde die Maßregel gewiß ebensowenig mit Politik zu thnn haben, wie die gegen die Schwestern Koß gerichtete. Von den beiden Mädchen theilt der Polizeipräsident v. Windheim mit, eS sei ihnen „nach Prüfung ihrer Verhältnisse wegen Mangels einer gesicherten Existenz" der Befehl zum Verlassen des preußi schen Staates binnen 14 Tagen zugegangen und zwar schon Mitte October 1898. Solchen rein aus allgemeinen Wohlfahrts erwägungen hervorgeganzenen Ausweisungen verdanken augen scheinlich die politischen Maßregeln deS Herrn v. Köller die „demokratische" Anfeindung. Aber, wie schon erwähnt, der Lärm wegen Nordschleswigs legt sich, und dies, obschon die Ausweisungen Demschland daS Nationalunglück zugezogen haben, daß Herr Georg Brandes einen in Berlin an gekündigten Vortrag wieder absagte. Gemildert, aber nicht aufgehoben, wird dieser Schicksalsschlag durch die Thatsache, daß daS dänische Folkething in Kopenhagen nach den Ausweisungen 2*/r Mill. Kronen für eine Dampffähre zwischen Laaland und Warnemünde bewilligt l at. DieDänen scheinen also doch nicht aus den Handelsverkehr mit Deutschland verzichten zu wollen. Herr Eugen Richter ist denn auch schon in die Defensive gegangen und entschuldigt jetzt in seiner Zeitung daS ursprünglich belobigte und zwischen den Zeilen zur Nachahmung empfohlene Circular des — nach Herrn Prof. Kaftan — Nichtrealpolitikers Blell. Am auffälligsten und bezeichnendsten ist die Abwiegelung in dem Organ, das den Rufer zum Streit abgegeben hat. Das „Berliner Tage blatt" bestätigt jetzt, daß von Dänemark aus eine wohlorgani- sirte, kostspielige Agitation «ach Nordschleswig getragen wird, daß Herr HanS Peter Hansen Geschäfte mit deutschen Firmen schildern erfolgreich boycottirt, daß Optanten an der LoS- reißung deS Landstriches vom Reiche eifrig mitwirken, kurz, Alles, waS Herr von Köller für die Zukunft zu verhüten sucht. Das nämliche Blatt meint auch, die wirthschaftlichcn Repressalien, die man in Dänemark der deutschen Industrie gegenüber einzuschlagen für gut befand und die man mit großem Tamtam ankündigte und ins Werk setzte, müßten als „ein Vorgehen von zweifelhafter Wirksamkeit" betrachtet werden. Endlich theilt dasselbe „Berliner Tageblatt" die Zuschrift eines Schleswigers mit, der nach Anführung von Beispielen der — wieder mit Herrn Kaftan zu reden — „bodenlosen Frechheit" der Dänen die Ausweisungen für nothwendig erklärt und schließt: „Alle rechten Deutschen in Schleswig denken wie ich." DaS „Berliner Tageblatt" gießt dies Wasser in seinen Fusel schwerlich auS Wahrheitsliebe und Patriotismus, sondern weil das von ihm dargereichte Ge tränk von den Bevölkerungselemeuten, für die eS gebraut FsrrrHetoir. 7, Onkel Mlhelm's Gäste. Roman von A. vonderElbe. Nachdruck »erboten. Diese Nachricht erschütterte die lebensfrohe, wenig haus hälterische Frau derart, daß sie vor Aufregung und Rathlosigkeit erkrankte. Schlaff und immer wieder in Thränen ausbrechenv, lag sie im Eßzimmer auf dem Sopha. Hanna und Klärchen Fillberger Warrn vor acht Tagen von ihren Eltern hermgeholt worden. Ach, das war die letzte gute Zeit gewesen, denn der vermögende Fabrikant, ihr Jugendfreund, hatte nicht gekargt und ihnen noch mancherlei Vergnügen bereitet. Es war ihr nicht gelungen, neue Pensionairinnen zu be kommen, und nun stand sie allein mit der verwöhnten und rath losen Tochter, dem öden Einerlei und der Sorge gegenüber. Wenn ein stolzes Schiff scheiternd in die Tiefe sinkt, so reißt es Alles, was in seiner Nähe schwimmt, in seine Strudel mit hinab. Ebenso geschieht es beim Züsammenbruch einer glänzenden Lebenslage. Auch diese zieht weite Kreise. Alle Nahestehenden leiden mit und sie müssen ringen, nicht auch zu versinken. So ging «S diesen beiden hilflosen Frauen. „Wie diel liebes Geld ist eigentlich noch da, mein Valeskachen?" fragte die Mutter mit matter Stimme das junge Mädchen, das mit aüfgestütztem Kopf und verweinten Augen am > Fenster saß. „Ich weiß nicht — was kann's auch nützen, daß ich's zähle — es langt ja doch nicht." „Ob Bärmann uns hilft?" „Ach der!" „Liebes Engelchen, will Dir etwas sagen — versuch's doch und bitte ihn. Er hält 'was von Dir, jawohl." „Ich — zu ihm gehen? WaS fällt Dir ein? Niemals!" „Na, Du begegnest ihm Wohl mal oder er kommt mal zu uns." Sie versanken wieder in Schweigen. Die Mutter schien zu schlummern und die Tochter trommelte leise am Fenster die schwermüthige Melodie ..Lang, lang ist's her". Valeska dachte an Wendelin von Wendelstein, der nun der wirkliche Majoratserbe geworden war. Wer das eher gewußt hätte! Die Mutter hatte sie immer auf Kurt hingewiesen, während ihr Herz sie zu dem Referendar hinge-ogrn. Ach, er war wurde, zurückgewiesen worden ist. Für Herrn Professor Delbrück muß dieser Verlauf unerfreulich sein. Er hat, außer bei einigen Doctrinären, nur bei einer auch von ihm selbst nicht geachteten Pseudodemokratie Anklang gefunden und diese zieht sich jetzt aus UtilitätSrücksichten zurück. DaS Schicksal ist tragischer, als die Disciplinaruntersuchung, und es fehlt dieser Tragik auch die Schuld nicht. Von den Ausweisungen aus Nordschleswig, insbesondere von den hochverrätberische Arbeitgeber treffenden Ausweisungen von Dienstboten läßt sich gewiß nicht sagen, daß sie während der AmtSthätigkeit des Fürsten Bismarck ausgeschlossen ge wesen wären. Um so kühnlicher kann man behaupten, daß Herr Delbrück seinen Sonderlingsneigungeu nicht das Opfer gebracht hätte, einer solchen Maßregel, wenn von oder unter Bismarck angeordnet, den Makel der „Brutalität" anzuhängen. Als vor einigen Tagen auf einer Versammlung in Breslau der Vorsitzende des vunvcs Per Lanpwirthe um die Gunst des Centrums warb, indem er es eine idealen Zielen zu gewandte nationale Partei nannte und die Toleranz veS Bundes hervorhob, dem der katholische Bauer ebenso lieb und Werth wäre, wie der evangelische, konnte man voraus sehen, daß er vom Centrum nur eine Absage erhalten würde. Diese Abweisung ist denn auch prompt erfolgt. Die „Köln. Bolksztg." spricht spöttisch von den „lockenden" Worten des Freiherrn v. Wangenheim und erklärt: „Der katholische Bauer wird gut tbun, beim Centrum zu bleiben, das von dem Bundes- feldherru so hohes Lob erntet, und sich nicht für allerlei con- servative Machenschaften einfangen zu lassen, für die man ihn unter dem Vorwande deSZusammcnwirkens aufwirthschaftlichem Gebiete verschiedentlich einfangcn möchte." Nicht obgleich eine starke agrarische Strömung in der Centrumspartei be steht, sondern weil diese Richtung vorhanden ist, wird das Centrum sich immer den Bund der Landwirthe nach Möglich keit vom Leibe zu halten suchen. Es muß befürchten, daß bei einer Annäherung an den Bund dieser auf einen Theil der Partei einen so starken Einfluß auSüben könnte, daß der Zusammenhalt der Partei vernichtet würde. Das Cent im denkt nicht daran, seine agrarischen Mitglieder auS seinen Reihen zu stoßen, aber es setzt sich gegen rein agrarische Strömungen verzweifelt zur Wehr. Das hat man ge sehen, als katholische agrarische Sondercandidaturen gegen ofsicielle CentrumScandivaten in einzelnen Kreisen auf gestellt wurden. Derartige Angriffe hat das Centrum noch immer mit Erfolg zurückgewiesen, aber es hütet sich natürlich wohl, solche Angriffe durch eine Anfreundung mit dem Bunde der Landwirthe zu etwas Selbstverständlichem zu machen. In der Fraction selbst hat die agrarische Frage schon zu den heftigsten Zusammenstößen, die sogar ungenirt in den Plenarsitzungen ves Reichstags staltfanden, geführt, und derartige Zusammenstöße sind wiederum zu erwarten, wenn am Ende der gegenwärtigen Legislaturperiode die neuen Handelsverträge zur Berathung stehen werden — voraus gesetzt , daß dann die industriellen und die agrarischen Interessen ebensowenig ausgeglichen sind, wie bei den Ver trägen von 1892 und 1898. Ebensowenig wie damals werden aber auch in Zukunft derartige Meinungsverschiedenheiten den Bestand des CentrumS gefährden. Eine viel größere Gefahr als in der agrarischen Frage scheint uns in der particularistischen Strömung zu liegen. Während sich Herr Vr. Lieber aus einem röthlich gefärbten Mußpreußen zu einem Minister u Inters entwickelt hat, ist im süddeutschen Centrum die particularistische Strömung immer heftiger ge- ja viel feiner als der Cousin. In seinem Wesen lag etwas Distinguirtes. Ihr ahnendes Gefühl hatte sie nicht betrogen, nun stand er weit über dem armen Vetter. Es war der Mutter Schuld, daß sie die vielen Gelegenheiten diesen Winter nicht besser benutzt hatte. Jetzt — wo sollte sie ihn sehen, mit ihm Zusammentreffen? Ach, sie lag ja an der Kette der Armuth! Und sie fühlte tief, daß sie ihn liebe, diesen reichen Wendelin, der allein sie glücklich machen konnte. Plumpe Schritte im Flur weckten Valeska aus ihrer Träumerei, auch die Mutter fuhr mit fieberheißen Wangen aus ihrem Halbschlummer auf. „Kind, Bärmann — er kommt, jawohl, er ist es, nun sei recht lieb mit ihm!" Ein harter Finger pochte an, die Thür that sich weit auf und der Millionair erschien mit seiner ganzen breitspurigen Protzigkeit im Zimmer. „Na, Frau Nachbar'n", fuhr er derb heraus und stützte sich auf den Tisch vor dem Sopha, der zu wanken begann, „was ist denn das für 'ne Geschichte mit Ihrem reichen Bruder? Alles Schwindel, das ganze Majorat gehörten gar nich'?" „Ja, mein bester Herr Bärmann, was sagen Sie zu dem Unglück? Rolle dem lieben Herrn Nachbar mal den Lehnstuhl heran, Kindchen. Die Juristen, jawohl", sie seufzte tief, „gefähr liche Leute, stöbern da in alten Papieren herum und beweisen, daß nichts von einem lieben schönen Besitz Ihnen gehört. Es ist furchtbar traurig." Ihre Stimme erlosch in Thränen, und sie stammelte: „Jawohl — ein lieber — treuer Halt — war mir mein guter Bruder." „Oounkormckeck rascal», sone Rechtsverdreher", fluchte Bär mann und schlug mit der Faust auf den Tisch, „aber, was ich man sagen wollte, Frau Majorin, Sie haben doch noch mehr gute Freunde, als den pleite gegangenen Herrn Bruder!" Die Frau fuhr vor Freude in die Höhe: „Ach, ich wußte eS ja, mein liebes, gutes Afrikanerchen, daß Sie, — jawohl, Sie Trefflicher — zwei einsame Frauen in ihrer großen Betrüb- niß —" und sie begann wieder zu schluchzen. „Heulen S« nich'. Sie wissen, das is mir gräßlich. Es kommt ganz auf Sie an und auf das kleine Mädchen da, wie Sie mit mir auskommen wollen. Sie wissen schon — ich lasse mit mir reden — bin kein Lump und kein Geizkragen. Aber — na, ich will doch wissen, wofür ich mein mühsam verdientes Geld hinwerfe." „Gern, Alle-, waS Sie wollen; jawohl, eine Liebe ist der andern werth." „Wenn Sie da» man einsehen." worden. Dieser Gegensatz muß zu häufigen gegensätzlichen Entscheidungen in positiven Fragen führen unv dadurch muß eine wachsende Entfremdung zwischen den verschiedenen Flügeln der CentrumSpartei herbeigeführt werden. Zudem erregen Fragen politischer Art die Leidenschaften doch noch immer mehr als wirthschaftliche Fragen, mag man auch noch so oft die Behauptung aufstellen, daß in unserer Zeit die politischen Gegensätze hinter dem wirthschastlichen Interessenstreite zurückträtcn. Von gut unterrichteter Seite wird unS aus Berlin ge schrieben: Ein klerikales französisches Blatt versichert „aufs Allerzuverlässigste" daß Frankreich und Rußland Zu sammenarbeiten, um über die ProtcctoratS-„Arage" im Orient zwischen den betheiligten Factoren eine Conferenz herbeizuführen. An hiesiger unterrichteter Stelle ist von einer derartigen Cooperation nichts bekannt. Sie für wahrscheinlich zu halten, liegt um so weniger ein Grund vor, als das Interesse der beiden Hanptbetbeiligten die Veranstaltung einer Conferenz nicht nur nicht verlangt, sondern sogar verbietet. Was zunächst den päpstlichen Stuhl betrifft, so ist eS klar, daß die Nothwendigkeit, zu der fraglichen Angelegenheit Stellung zu nehmen, ihm blos Verlegenheiten bereiten müßte. Rußlands Interessen im Orient aber laufen den französischen Prätensioncn im Puncte deS Protec- torats schnurstracks zuwider; wie sollte Rußland eine Action unterstützen wollen, die nur in der Absicht unternommen werden könnte, den französischen Einfluß auf Anderer Kosten zu fördern? Traut man in Frankreich den Russen wirklich zu, sie würden zum Schaben der Orthodoxie in die Minde rung der eigenen Hobeitsrechte willigen, damit Frankreich und der KatholicismuS den Vortheil einheimsten? Die richtige Antwort auf diese Frage sollten auch jene französischen Heiß sporne finden, die immer noch die Welt glauben machen wollen, es bestehe eine ProtectoralS-„Frage" für den Orient. Daß Deutschland im Einklänge mit der geschichtlichen Ent wickelung die Existenz einer solchen „Frage" in Abrede stellt, ist bekannt. Durch den im höchsten Maße sensationellen Zwischenfall LueSnay de Bcaurcpatre ist die DreyfuSangelegenheit in ein äußerst bedenkliches Stadium getreten. Es sind nicht mehr einfache Meinungsverschiedenheiten zwischen der bürgerlichen und der Militairjustiz, sondern wir haben es mit einem Zwiespalt zu thun, der zwischen den Mitgliedern der obersten richterlichen Gewalt selbst ausgebrochen ist. ES handelt sich nicht mehr um eine einfache juridische Frage, sondern um die Unparteilichkeit der Richter, die das endgiltige Urtheil sprechen sollen. Es handelt sich um die Integrität der obersten Richter, die öffentlich verdächtigt werden durch einen ihrer Collegcn. Wir haben di: Beschwerden und ungeheuerlichen Anklagen, welche der Vorsitzende der Civilkammer des CassationsbofeS gegen den ersten Vorsitzenden in der DreyfuS-RevisivnSsache, Loew, und den Berichterstatter in derselben Angelegenheit, Bard, öffent lich erhoben hat, schon kurz skizzirt. Zur Charakteristik Quesnay de Beaurepaire's geben wir sie nach dem „Echo de Paris", seinem erklärten Leibblatt, im Wortlaut. Er führt in dem Organ des Generalstabs Folgendes auS: „Vorsitzender Loew hat anfangs zugegeben, daß er aus mir un bekannten Gründen in der Dreyfusuntersuchung den Vorsitz nicht führen könne. Was hat seine ursprünglichen Bedenken plötzlich zerstreut? Ter Brauch forderte, daß der älteste Richter des Strafsenats Berichterstatter in einer so wichtigen Angelegenheit „Aber jetzt eine hübsche muntere Gesellschaft — Leute rin- laden? Ach, ich bin ja so unwohl, so zerschlagen; könnte man nicht noch einige Tage damit warten?" Er lachte rau-h auf. „Ihren Theekefsel lassen Se man in Ruhe." „Soll meine Kleine Ihnen etwas Vorsingen? Jawohl, Kind, geh' ans Pianino." Aber Valeska wandte sich verstimmt ab. Ihr war im Augen blick nicht wohl zu Muth, und sic hatte sich gewöhnt, ihren Stim mungen zu folgen. Bärmann sah die Geberde und sagte spöttisch: „So 'en kleiner, scheuer Piepmatz muß wohl erst noch zahm werden." Mit den Worten stand er auf, schob den Stuhl hart von sich, nickte der ängstlich aufblickenden Frau „Mahlzeit, Frau Nachbarn!" zu und stampfte zum Zimmer hinaus. „Die frißt mir noch aus der Hand", knurrte er im Abgehen. Er hatte von jeher ein besonderes Wohlgefallen an dem hübschen Kinde gefunden, sich aber nie mit der Hoffnung ge schmeichelt, ihre Neigung gewinnen zu können, dazu sah er die Dinge zu klar. Jetzt aber, nun die Beiden in der Patsche steckten, bekam er Oberwasser. Er wußte genau, was sein Geld bedeutete und konnte sich, wenn es ihm gefiel, auch eine feine und vornehme Frau dafür kaufen. Mochte sie sich auch anfänglich etwas sperren und das Böckchen spielen, er wollte sie schon ziehen, wie er sie brauchte. Mit Hissen und Locken, mit Grobheit und guten Dingen war Mancherlei auszurichten. Mochte es auch noch eine Zeit lang dauern, er konnte warten und hielt fest. Er wollte sie haben und er würde seinen Willen durchsetzen. Als die harten Schritte auf dem Flur verhallt waren, jammerte Frau von Selbach: „Aber, mein Herzenskind, wie konntest Du das thun? Unseren einzigen Helfer beleidigen! Er hört Dich so gern singen. Ich sagte Dir doch, Du solltest lieb sein, mein Valeskachen." „Ich mochte nicht singen — war wirklich nicht aufgelegt", murmelte das junge Mädchen verdrossen und zog sich in den an stoßenden Salon zurück. Die Mutter blieb allein und in trüben Ueberlegungen. Sie hatte am ersten Juli wieder ihre Miethschuld in das bewußte blaue Büchlein eintragen dürfen und wußte nicht einmal, wie hoch sich nun ihre Verpflichtung gegen Bärmann belaufe. WaS sollte sie beginnen, wenn es ihm rinfiel, zu mahnen und zu fordern? Zum Glück hatte er eben kein Wort von der Miethe gesagt. Ein paar Wochen gingen hin, und Bärmann ließ sich nicht wieder bei seinen Hausgenoss'.nnen sehen. Lieferanten, die von wie die Dreysussache werde. Loew aber wählte Bard, der dem Dienstalter nach der achte ist. Warum? War es etwa, weil die Dreyfus freundlichen Meinungen Bard's bekannt waren? Ich habe mehr als viele meiner Amtsgenossen ge litten, denn ich bin ein Lhauvinist, ein alter Soldat. Als ich sah, daß Richter meines Gerichtshofes sich zu Gunsten eines LerrätherS gegen daS Heer vergingen, zerriß mir dies das Herz, aber ich schwieg aus Mannszucht. Da ereignete sich eia Zwifchenfall in meiner eigenen Amtsstube. Trotz des sehr harmlosen Anscheins fühlte ich sofort seine ungeheure Wichtigkeit. Ich sagte aus, was ich wußre. Loew und Bard handelten nach ihrem gewohnten System. Loew schrie, „eS gebe kein Wort, um mein Benehmen zu bezeichnen". Bard schrieb mir einen Brief voller Beleidigungen. Alle anständigen Menschen, alle vaterländischen, werden billigen, was ich jetzt thue. In einem Falle von äußerster Landesgefahr vertheidige ich meinen theuern Richterstand, indem ich dessen Sache von der Sache einiger verirrter Richter trenne. Ich sehe, wie diese Unsinnigen eia Zerstörungswerk verfolgen. Sie entfesseln durch ihre Leidenschaft andere Leidenschaftea, sie führen Schläge gegen die Fahne unv bereiten unbewußt den Bürgerkrieg vor. Darum wende ich mich empört von ihnen ab. DaS sind keine Amtsbrüder, sondern Feinde, Fahnenflüchtige. ES handelt sich um die Ehre deS Richtertalars uud der Uniform. Darum erhebe ich meine Stimme. Im Baid-Zwischenfall hat eS keine Untersuchung gegeben, cs war uur eine Scheinuatersuchung. Man hat mich verhört, ist aber nicht weitergegangen. Der erste Vorsitzende Maze au hatte eine hohe Sendung. Er mußte durch eine gesunde Brandmarkung den Richterstand rächen, er mußte das Urtheil unmöglich machen, das eigentlich uns alle verurtheilen wird, und er mußte auf diese Weise dem Land« seine» verlorenen Sinn für Sittlichkeit wiedergeben. Es giebt» man vergesse dies nicht, Ausnahmezustände, in denen AuSnahmemittel oüthig werden. Wenn ein Land in Dreck v erfahren ist, muß man eS um jeden Preis shrrauSreißeu. Mau muß es vor ihm selbst durch große Thaten deS MuthrS und der Gerechtigkeit retten. Jetzt scheint Alles verloren, aber das Urtheil, worauf wir gefaßt sind, wird Gott sei Dank von der öffentlichen Meinung nicht be- stätigt werden. In der DreyfuSsache finde ich die nämlichen Rsänke wie in der Panamasache, immer Selbstsucht und Angst. Ich habe genug, ich gehe. Jetzt werde ich die Geschichte meiner Zeit erzählen können. Jetzt wird man durch meine unerbittlichen Enthüllungen diese berühmte Panamasache kennen lernen. Morgen werde ich mich in diesem Blatte auch über die Bard-Sache aus sprechen. Ich vernichte im Voraus daS Urtheil, daS man vorbereitet, ich räche unser Heer uud seine Führer für die Leiden, die man ihnen bereitet hat. Ich werde so wenig wie 1870 vergessen, daß das Vaterland in Gefahr ist." Wie viel von diesen phrasenhaften, bombastischen Expec- tsrationen übrig bleiben wird, muß die unmittelbar bevor stehende Beleuchtung deS Falle» in der Deputirtenkamnier ergeben. Aber schon jetzt kann man sagen, daß die wenig dankbare Rolle, welche Quesnay de Beaurepaire in dem Fall Bard-Picguart gespielt hat, die Veranlassung zu seinem Aufsehen erregenden Schritt gewesen ist. QueSnay de Beaurepaire hatte behauptet, Bard sei zu ihm auf sein Bureau gekommen, wo er Picquart, den Hauptzeugen für die Unschuld Dreyfuö', angetroffen und mit diesem dem Schlage gehört haben mochten, der Frau von Selbach in den veränderten Verhältnissen ihres reichen Bruders betroffen, schickten ihre Rechnungen und wurden dringend. Das vorräthige Geld ging zur Neige und die kleine Pensionsrate der Dame war erst im October fällig. Wie würde Bärmann, der offenbar den Empfindlichen spielte, sich zur Miethegeldfrage stellen? Frau von Selbach hatte ihn bald nach jenem Besuch, so krank sie sich auch fühlte, einladen lassen, aber eine Absage erhalten. Sie sann viel hin und her, was sie thun solle. Valeska war jetzt erbötig, zu singen, wenn Bärmann es wünschte, aber er meldete sich nicht zum Zuhören. Er war doch damals offenbar in ganz freundlicher Absichl ge kommen. Wenn sie jetzt zu ihm ginge, überlegte die bedrängte Frau, recht artig und versöhnlich wäre, so ließe sich vielleicht eine Hilfe oder auch nur eine tröstliche Zusage von ihm erlangen. Sie raffte sich also vom Sopha empor, auf dem sie fast den ganzen Tag lag und ging, wie sonst nur an den Quartalstagen, beängstigt und schwankenden Schrittes in die Nebenwohnung. Schmunzelnd empfing sie der reiche Mann. „Eh, womit kann ich dienen? Was verschafft mir die Ehre?" Stockend, oftmals von Schluchzen unterbrochen, kam die Rathlose aus ihre mißliche Lage, und daß er, der liebe Groß- müthige, sich ja neulich schon balbwegü angebcten habe, ihr zu helfen. „Warum nich'", iru'nie er, gut gelaunt, „S'e haben mich man blos nich' ausreden lassen." „Ach, wir sind ja gern zu Allem erbötig, was Ihnen Freude machen kann, jawohl, zu Allem!" Er trommelte mit seiner großen rothen Hand auf dem Tische, grunzte ein paar Mal vor sich hin: „Na ja — eh — zu Allem?" und sagte dann, sich aufrichtend und der Dame dreist ins Gesicht sehend: „Ich habe nu 'mal 'en Narren an Ihrem kleinen Blondkopf gefressen. Es is immer noch nich' zu spät für mich, 'ne «übliche lütge Frau zu nehmen. Ich bin noch keine fünfzig und kann's meiner Frau, wenn sie sich schickt, comod genug machen. DaS kann ich! Und wenn Sie meine Schwiegermutter sind, Frau Majorin, sollen Sie auch noch gut« Tage haben." Keines Wortes mächtig vor Schreck und Staunen, mit offenem Munde und starren Augen, nahm die Frau diesen ersten Heiraths- antrag für ihr vergöttertes Kind entgegen. Nach Valeska, der Blumenhaften, Holden, wagte dieser Proletarier seine rauhe Faust auSzustrecken! Abscheulich! Wäre sie sich nicht ihrer bedrängten Lage bewußt geblieben, würde sie mit einem „Unverschämt!" auf den Lippen empor-
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