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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.02.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-02-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990221015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899022101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899022101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-02
- Tag1899-02-21
- Monat1899-02
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Als solcher hat er sich sofort gegen die Er nennung von neuen Senatoren durch daS Ministerium bis zuletzt heftig gesträubt — jene ist nämlich ausschließliches Vor recht des Königs — da sie, wie eS scheint, au» politischen Gründen doch nöthig wurde, hat er sie auf 30 beschränkt. Seine Stellung nahme bezüglich der Amnestie für die innerhalb der Maiunruhen Verurteilten, die von vielen Seiten höchst aufdringlich sofort und ausnahmslos verlangt wurde, ist völlig einwandfrei. Er verhält sich durchaus nicht ablehnend gegen «ine vernünftig gewährte Amnestie; er billigt keineswegs durchweg den vom Ministerium Rudini fast über das ganze Land verhängten Belagerungs zustand, denn er selbst hat ihn in Apulien zu erklären nicht für nöthig befunden; ebenso wenig vermag er die Ungerechtig keit in den Urtheilen der betreffenden Kriegsgerichte zu verkennen, die auf Unruhen in Friedenszeiten, in Ermangelung eines dahin zielenden Gesetzes, Strafen verfügten, wie sie gesetzlich zulässig nur in dem Falle sind, wenn der Feind im Lande steht; aber er verlangt mit gutem Recht, daß ein Unterschied zu machen sei zwischen Verführern und Verführten — und vor Allem, daß auf das Begnadigungsrecht des Königs in keiner Form ein Zwang ausgeübt werde. „Nach meiner ganzen Vergangenheit", bemerkt er dazu, „bin ich ein freigesinnter Mann; darum sage auch ich: so viel Freiheit wie nur möglich, aber Alles innerhalb der Gesetzlichkeit." Der Minister des Innern — eben derselbe Pelloux — hat eine kleine Reform zum Wahlgesetze vorgeschlagen, die den schreiendsten Uebelständen abhelfen soll, die auch schon in der vorigen Session von anderer Seite eingebracht wurde und damals freundlichste Aufnahme fand, jetzt aber auf einmal der feindseligsten Stimmung in der Kammer begegnet. Niemand findet angeblich die vorgeschlagene Reform weitgehend genug, und der Abgeordnete Giolitti hat vor Kurzem in einer viel bewunderten Rede als einziges Mittel, um aus der Käuflichkeit herauszukommen, die Listenwahl nach Provinzen hingestellt, aber er hat sich beeilt, gleichzeitig beizufügen, daß es nicht Aufgabe des Parlamentes sein könne, ein solches Gesetz «inzubringen — warum nicht? beide Kammern haben ja das verfassungs mäßige Recht dazu! —, sondern die Regierung müsse dies thun, um natürlich darüber zu — fallen, da nicht die mindeste Aussicht vorhanden ist, ein derartiges Gesetz gerade mit dieser zweiten Kammer zu vereinbaren. Pelloux hat darauf erwidert: ec bestehe durchaus nicht auf seinem ursprünglichen Entwurf; auch er halte ihn für 'verbesserungsfähig; das Parlament möge ihn verbessern. Aber — fügte er hinzu — wenn in der zweiten Kammer keine Mehrheit zu finden sein sollte für Gesetze, die Sem Lande dringend nothwendig sind, so wüßte die Regierung eben daran denken, sich jene zu schaffen: das Land wolle regiert sein und nicht fortwährend Ministrrstürz« erleben. Man hat oem General vorgeworfen: er habe kein Programm. Er hat darauf trocken erwidert, daß ganz im Gegentheil eins vorhanden sei: man werde es mit der Zeit schon erkennen. Was wäre das nun für ein Programm? Falls man die Worte und bisherigen Thaten des Generals nicht völlig mißversteht, so hat er wirklich «in schon jetzt ganz deutlich erkennbares Programm, nämlich: d a s S t a a t s s ch i f f aus den zur Stunde herrschendenanarchischen Zuständen zuvörder st wieder in die Gesetzlich keit zurückzuleite'n. Wer die parlamentarisch« Geschichte Italiens während der letzten 30 Jahre auch nur oberflächlich kennt, weiß, daß zufolge eines schwächlichen Königthums die verfassungsmäßig garan- tirten VorrechtederKrone allmählich zu einem Spielballe der Zweiten Kammer wurden. Pflichtvergessene, räntevolle und herrschsüchtige Minister hatten es verstanden, das Scepter den Händen des Königs zu entwinden und dieses zwischen sich und der zweiten Kammer zu theilen. Und diese letztere wiederum, der zum Unheil die große und solide klerikale Partei völlig fern geblieben ist, begriff di« Gunst ihrer veränderten Lage in dem Sinne, daß sie sofort als politische Partei abdankte und sich in eine größere Anzahl kleinerer Interessengruppen theilte, um sich so, immer gegeneinander intriguirend, abwechselnd — nach einem italienischen Worte — am Ministertische nieder ¬ lassen zu können und zu — essen. Aus der Staatskunst war auf diese Art mit einem Male eine niedrige persönliche Jnteressen- wirthschaft geworden. Daß dieser Zustand nicht blos ungesetzlich, sondern auch gemeinschädlich ist, beweist der offenbare Niedergang des Landes vornehmlich in moralischer Beziehung. Man hat so viel von einer Camorra in Italien zu erzählen und auch zu fabeln verstanden, die dann, bei Licht besehen, kein ganz wirkliches Aussehen zu erhalten vermochte; es giebt aber in der That eine solche im Lande, die gefährlichste zugleich, die sich erdenken läßt, und das ist die Camorra des Parlaments. Dieser Camorra nun ist der Minister Pelloux von vornherein höchst unangenehm gewesen: erstens schon, weil er General, zweitens weil er aus dem Senat, und nicht, wie es bislang Gewohnheit war, aus der Zweite Kammer kam. Man giebt sich den Anschein zu glauben, als sei er nicht viel mehr als ein Parlamentarier Tölpel: die radikalen Blätter nennen ihn nur noch den Corporal. Aber das Alles ist nichts als Flegelei und — Haß. Der General will allerdings nichts von den nichtsnutzigen Kniffen wissen, die bislang das parlamentarische Leben Italiens beherrscht haben — er ist zu anständig dafür — aber er ist nicht blos ehrlich und geradeaus, sondern «r ist auch gewandt und gescheidt, in all seinen Antworten knapp, nüchtern, doch stets sachlich erschöpfend und beneidenswerth logisch: in der Summe solcher Eigenschaften ist er ohne Frage allen Anderen im Parlament« — Crispi vielleicht ausgenommen — überlegen, obschon er, ähnlich diesem, äußerlich genommen, kein Redner ist. Zudem ist er unbeugsam, sofern er sich im Rechte glaubt. Insbesondere der letztere Umstand hat die politischen Gemüther im Umkreise des Parlaments gegen ihn gewaltig erhitzt. Die Zweite Kammer verzehrt sich in stiller Wuth, denn man weiß vorläufig noch nicht, wie man gegen ihn vorgehen soll. In den Zeitungen, die meistens von Abgeordneten selbst unterhalten und geschrieben werden, geht es schon freier her. Schon seit Monaten wird ihm nahegelegt, so schnell wie möglich in der Kammer die Ver trauensfrage zu stellen; von allen Seiten tönte es: der Minister ertrüge die Ungewißheit nicht länger, bei der ersten sich dar bietenden Gelegenheit, spätestens jedoch noch vor Weihnachten, würde er ein Votum verlangen, um zu wissen, ob sein Mi nisterium auch das Vertrauen des Landes genieße — und Weih nachten ist herangekommen und nichts dergleichen ist geschehen. Ein römisches Blatt, die von dem Französling Arbib geleitete „Italic", geberdrte sich bereits wie besessen. „Wenn der Minister Pelloux noch ernsthaft genommen werden will", schrieb sie fast täglich, „so muß er sofort nach den Weihnachtsferien die Ver trauensfrage stellen, oder er weiß nicht, was sich einer parla mentarischen Regierung geziemt." Parlamentarische Regierung! Ja, da liegt eben der Hase im Pfeffer! Das Königreich Italien kennt eben der Verfassung nach nur eine königliche und keine parlamentarische Regierung, und da der General Pelloux, nach eigenem Eingeständniß, lediglich ein Minister nach dem Gesetz« sein will, so kann er auch selbstverständlich von den anmaßenden Ansprüchen der parlamentarischen Camorra gar keine Notiz nehmen. Er wird darum wahrscheinlich weder jetzt noch später im Parlamente die Vertrauensfrage stellen — und thut er es dennoch einmal, so wird es nur geschehen, um den schädlichen Umtrieben der parlamentarischen Interessengruppen gegenüber nöthigenfalls den gemeinnützigen Willen der Krone in aller Schärfe geltend zu machen. Der erste Minister der Krone hat es noch nicht für gut befunden, sich derart ungeschminkt aus zusprechen, aber er hat bislang genau nach dieser Maxime ge handelt. Wenn er also dabei, d. h. einfach bei den Vorschriften der Verfassung bleibt, und auch des Weiteren noch immer nicht die so stürmisch verlangte Vertrauensfrage im Parlamente stellt, wird die Zweite Kammer mit ihrer unsterblichen Gier noch d«n saftigen Happen, mit dem sie gelegentlich, und zwar so bald wie möglich, Familie und Freundschaft zu versorgen lechzt, über diese schmerzlichste Enttäuschung zweifeNos in Tobsucht verfallen. Das ganze Volk aber, so weit es ernsthaft und tüchtig ist, wird dem Manne, der dem gemeinschädlichrn Treiben dieser Camorra ein Ende für immer bereitet, unsäglichen Dank schulden und sich ihm auch wirklich dankbar erweisen. Denn die furcht bare Last dieser Art parlamentarischer Wirtschaft wird durch weg überaus drückend empfunden. Es ist nach dem bishrigen Vorgehen des ersten Ministers wohl zweifellos, daß er zunächst darnach trachtet, den Sinn für Gesetzlichkeit im italienischen Volke neu zu beleben. Dabei wird sich natürlich auch das Königthum mehr seiner Pflichten bewußt werden müssen, und nicht Rechte von außerordentlicher Bedeutung gerade für das Allgemeinwohl gleichsam tändelnd preisgeben. Daß jenes beispielsweise die eigenen Diener ohne jeden erheblien Widerstand zu bloßen Kreaturen der Zweiten Kammer werden ließ und diesem völlig verderbten Milieu immer von Neuem wieder seine Vertrauensmänner entnahm, hat nicht am wenigsten dazu beigetragen, das politische, wirthschaftlich« und moralische Leben Italiens in so ungeheurem Maße zu schädigen und zu verwirren. Also zurück zur Ver fassung, und daß sich der König seine Minister als Regel so fern als möglich der parlamentarischen Hexenküche wähle! Das wäre schonEtwas, für den Augenblick sogar Viel, aber nicht Alles. Denn das Land braucht große Reformen, und diese sind mit dem gegenwärtigen Parlamente aller Wahrschein lichkeit nach nicht durchzuführen. Wenn man die Reihen der heutigen italienischen Parla mentarier abwandelt, so mag man wohl gut und gern mit dem Mailänder „Secolo" annehmen, daß es wirklich unter ihnen noch 100 anständige und tüchtige gebildete Leut« giebt — aber wo sind die, welche ein großes Land in schweren Zeiten zu regieren verstünden? Kaum 2 oder 3 unter ihnen, von denen man weiß, daß sie wirklich ein ernsthaftes politisches Programm haben — im Uebrigen Streber, Schönredner, Tharlatane. Allerdings ruft auch Sonnino vom linken Centrum: zurück zu der Verfassung! Aber das thut ja schon Pelloux. Giolitti von der Linken will eine einschneidende Wahlreform und ein radikales Steuergesetz — zwei Dinge, die — wie man zugeben mag — für die Gesundung des politischen wie wirthschaftlichen Lebens in Italien unaufschiebbar nothwendig sind; aber jener Parlamentarier glaubt so wenig an dir Möglichkeit, daß erstere die Zweite Kammer und letzteres Abgeordnetenhaus und Senat passiren könnte, daß er es oorziehi, einen Anderen darüber fallen zu sehen, um sich alsdann auf den leeren Stuhl zu setzen uns — nichts zu thun. Hört man die beiden genannten Herren an ihren sogenannten großen Tagen, so ist man erstaunt über die Menge unsachlicher, ja abgeschmackter Redensarten, in denen sie sich gefallen. Da ist doch der General Pelloux ein ganz anderer Mann! Aus seinem Munde hat noch kein Mensch eine bloße Phrase und noch weniger eine dumme Phrase zu hören bekommen. Das Land braucht zudem dringend nothwendig ein gutes Schulgesetz. Der gegenwärtige Unter richtsminister Baccellr ist zweifellos der weitaus geeignetste Mann, den Italien zur Zeit gerade für ein solches Werk aufzubringen vermöchte: er hat wirtlich eigene Ideen und besitzt große Energie. Ec bekennt zudem ohne Einschränkung, daß eine gute Erziehung des Volkes ohne Religion eine Sache der Unmöglichkeit sei. Diese Erklärung hat die Zweite Kammer mit einem ironischen Lächeln ausgenommen, und der Senat hat ihm schon zu erkennen gegeben, daß er ihm ein unwillkommener Mann sei. Was ist da zu thun? Der italienische Senat, der das Recht hat, jede Neuernennung nach eigenem Ermessen zurückzuweisen, ist, wofern er sich auf seine Machtbefugnisse steift, völlig unabänderlich. Die Zweite Kammer kann freilich aufgelöst werden; aber ohne eine vorher gegangene radikale Wahlreform kehrt sie genau in derselben moralischen Verfassung zurück; auch würde es der Regierung gar nichts helfen, wollte sie bei den Neuwahlen die Abgeordneten auf ein ganz bestimmtes politisches Programm verpflichten; wie die Erfahrung gelehrt hat, besteht die feinste Politik italienischer Parlamentarier darin, eingegangene Verpflichtungen ohne Zaudern zu brechen, sobald persönliche Interessen dabei in Frage kommen. Was bleibt da noch übrig? Es kann hier nicht verschwiegen werden, daß es einen Mann in der Zweiten Kammer giebt, der selbst kaum mehr spricht, von dem selbst kaum mehr gesprochen wird, an den aber alle Welt in diesen Wirren unablässig denkt: und dieser Mann ist C r i s p i. Dieser erscheint trotz seines vorgerückten Alters noch durchaus jugendlich und ist ziveifellos im ungeschmälerten Besitz aller seiner geistigen Fähigkeiten. Man kennt seinen Muth und seine Energie. 1/ unieo uomo! sagen sich die Italiener. Er ist zudem gegenwärtig pc-rsoun xcrati^-inur im Quirinal, was er bekanntlich eine Zeit lang nicht war. Man hat Pelloux noch nicht ge nügend kennen gelernt; und >vas man von ihm nicht weiß, traut man dagegen Crispi zu: nämlich, daß dieser nöthigenfalls die Verfassung aufheben und bis nach Erledigung der unerläßlichen Reformen ohne die beiden Kammern regieren würde. Und das Volk ist reif für eine solch« That. Abgesehen von ein paar Tausend Politikastern, die im Dunstkreise des Parlament leben und ein großen Land zum Tummelplatz ihrer streberhaften Gelüste machen, verlangen alle Uebrigen weit und breit eigentlich gar nichts anderes, als landesväterlich wohlwollend regiert zu werden, wie der General Pelloux durchaus richtig bemerkte. Man ist d«r parlamentarischen Wirthschaft ganz allgemein übermüde Die Dynastie, darf man wohl sagen, ist noch immer durchweg beliebt, obschon sich das Gefühl für sie merklich gegen früher obgekühlt hat; das Volk wirft ihr, und dies mit Rechst Schwäche vor. Wenn sie beispielsweise im letzten Mai, unter der Führung eines weiseren Ministers, als des Marchese di Rudini, die volle Regierungsgewalt wieder für einige Zeit an sich genommen hätte, so würde ihr das ganze Land zugcjubelt haben. Denn es muß noch einmal gesagt werden: die parlamentarische Wirthschaft. wie sie hier bestehst bedeutet für ein unfertiges Land die Anarchie, uns Italien selbst ist reif für den Uospoti^mo S<-IainV Die nächsten Monate werden erkennen lassen, ob Pelloux oder Crispi der geeignetere Mann für diese neue Aufgabe ist. 1 FrirrHetsir. Wie kann der Meile Theil des Faust auf der Löhne lebensfähig werden? Als vor etwa zwanzig Jahren in Weimar der so viel wir wissen erst« Bersuch gemacht wurde, den Faust, die beveutenoste deutsche Dichtung, als ein Ganze» auf die Bühne zu bringen, tonnte dies als ein Ereigniß gelten, welches da» deutsche Publicum in seinen weitesten Kreisen fesseln mußte. Tatsächlich kamen damals die Zuschauer aus allen Gauen Deutschland» nach dem Museniempel am Goethe-Schillermonument in der thüringischen Residenz geeilt, um sich ein«m ungewöhnlichen Kunstgenuß hin- zugeben. Seitdem ist das Goethe'sche Riesenwerk in dieser Be- arkeitung über mehr als ein« brutsche Bühne, auch die unsrige, gegangen und es hat sich daran die Frage geknüpft, die auch aus Anlaß der Aufführung an unserem Stadttheater häufig und mit Lebhaftigkeit erörtert wird, ob mit dieser an sich ganz dankenSwerthen Einrichtung die Frage, wie der Faust, wir meinen der Tragödie zweiter Theil, für die Bühne gewonnen werden könne, al» abgeschlossen zu betrachten sei. Dies« Frage ist im Allgemeinen mit Nein zu beantworten. Man will dem Problem noch weiter zu Leibe gehen und hofft noch etwas Brssere» zu finden. Und diesen Erörterungen, die auch in Leipzig vielfach gepflogen werden und bei dem theaterliebenden Publicum sicher auf Interesse rechnen können, in die Hände zu arbeiten, sollen diese Zeilen dienen. von dem Werth oder Unwerth der Devrient'schen Faust- Bearbeitung, von der man ja zum Theil schon abgewichen ist, soll hier nicht gertdet werden, nicht darüber, wo sie das Richtige, wo sie das Falsch« trifft. Es soll nur die Frage aufgeworfen werden, wie wird si« dem zweiten Theil gereckt, wie ist dieser zweite Theil de» Faust auf der Bühn« lebensfähig zu machen, wenn da» nicht in genügendem Maße der Fall ist. Da muß denn gesagt werden, daß, eben weil die Frage aufgeworfen werden muß, die Thalfach«, daß dieser zweite Theil de» Faust auf der Bühn« in d«r vorhanden«» Bearbeitung noch nicht lebensfähig ist, al» solche anzuerkennen ist. In dieser Fassung befriedigt der Traaödi« zweiter Theil da» Publicum noch nicht, kommt da» groß« Dichterwerk noch nicht zu seinem vollen Recht, zu jener ganzen Wirkung, die in ihm steckt, verschiedene Theil« der Dichtung, wir rechnen dazu vor Allem die ersten anderthalb Acte und den letzten Aufzug, zweifelsohne die bedeutendsten Partien des Werkes, gleichen Pulverfässern, die noch nicht ent zündet sind, Geschossen, die noch nicht am rechten Orte ein geschlagen haben. Es läßt sich mehr aus diesen stiefmütterlich behandelten Acten herausholen, die deshalb stiefmütterlich be handelt wurden, weil die schwächeren Kinder, wozu wir die nicht genannten Mittelacte rechnen, zu viel Pflege erfordern, den "gesünderen Sprösslingen Raum, Zeit und Nahrung weg nehmen. Insbesondere merkt man dem vierten Acte, das wo zwischen der Helena-Episode und dem Schluß, der mit der Idylle bei Philemon und Baucis einseht, liegt, es an, daß er im hohen Alter geschrieben ist und das Letzte war, was gearbeitet wurde — der letzte Act entstand früher — und daß nicht nur Faust schließlich, sondern auch sein Dichter dem Loose aller Sterb lichen, dem Kräfteverfall, nicht entgehen konnte. Es ist ja rührend, zu hören, wie der Dichter, der sich einst in seiner Jugend vermaß, für den Tag zwei Druckbogen fertig herzustellen, jetzt, im Greisenalter, froh ist, so viel in der Frühe des Morgens, wo ihn, seinem Philemon gleich, — Langer Schlaf verleiht dem Greise Kurzen Wachen- rasches Thun — der Schlummer gekräftigt hat, gu Papier zu bringen, als eine Hand zu bedecken im Stande ist. Dieses Absterben eines großen Menschen, der sich, wie der Größte auch, endlich einmal auSlebt, ist natürlich, wie der Tod es gleichfalls ist, und daher mit Ruhe zu betrachten, nicht zu beklagen, wie es ja auch nur der Wahr heit und Gerechtigkeit entspricht, wenn man solche Partien im zweiten Theile des Faust ohne GefühlSseligkeit und falsche Pietät mit Gleichmuth ledern nennt. Bischer, in seinem dritten Theile d«S Faust, der eine beißende Kritik de» zweiten TheilS enthält, ist als Pritschennarr bekanntlich noch weiter gegangen, wozu er ein Recht hatte. Doch zurück zum Thema. Am meisten der Kritik ausgesetzt ist die sog. klassische Walpurgisnacht, das Gegen stück zur nordisch-germanischen Walpurgisnacht im ersten Theil, über die man bei den Aufführungen ja jetzt auch zur Tages ordnung übergegangen ist. Man braucht gar nicht zu jenen überkritischen, modern blasirten Gesellen zu gehören, die unsere mehr zur Kritik als zum Schaffen neigende Zeit in Fülle ge zeitigt hat, die Alles unter ihre Lupe nehmen, vor denen nicht» besteht und sich verbirgt und die die Losung: Los von der Classi- Lität autaegeben haben, man kann auch za jenen harmlosen Theaterbesuchern zählen, dir mit dem Panzer frommer Pietät bedeckt ins Theater gehen, aber sich dabei die Ehrlichkeit und Un befangenheit des Urtheils bewahrt haben, um diese klassische Wal purgisnacht herzlich langweilig zu finden. Goethe hat hier seinen Alterstrieb, den Geheimnißvollen zu spielen und in sein Werk alles Mögliche hineinzugeheimniffen, nach Herzenslust ein mal die Zügel schießen lassen. Aber wer versteht das Alles? Keiner oder nur Wenige! Diese Bezüge auf das klassische Alter- thum und die eigene Zeit Goethe's, ihre vielfachen Bestrebungen auf allen Gebieten, an denen der große Dichter, der auf vielen Feldern zu Hause war, hier Kritik übt, die er vertheidigt, sind uns fremd geworden. Es erfüllt sich hier wieder einmal der alte Fluch, daß ein Dichtwerk, das gar zu sehr Bezug auf die eigene Zeit und den Tag und seine Interessen nimmt, einmal veraltet, weil es nicht mehr verständlich ist. „Nur was nie und nimmer ist gewesen, Das allein veraltet nie." Auch den Homunculus im zweiten Act wird der Zuschauer nicht so ohne Weiteres verständlich finden. Ist der Hörer nicht humanistisch gebildet, so wird er schon an dem Namen einen Anstoß nehmen. Was heißt Homunculus? Was ist diese kleine, zierliche, ge brechliche Persönlichkeit, die schließlich in der klassischen Wal purgisnacht in ihrer Phiole am Muschelwagen der Galathea zerschellt? Daß in ihr der Drang, da», wa» die Natur auf ihrem Wege schöpferisch hervorbringt, auf künstliche Weise zu schaffen verkörpert wird, der aber nicht» erreicht, nichts erreichen kann, da künstliche Schöpfungen keinen langen Bestand haben, das werden Viele erst auf dem Wege längeren Nachdenkens er fahren. Jndcß kann man zu dieser Kenntniß gelangen, und die erste Hälfte des zweiten ActeS, der in Faust's altem Studier zimmer spielt, das uns hier wieder in anheimelnde Erinnerung gebracht wird, hat sonst so viel de» Geistvollen und Bedeutenden, daß wir es nicht missen möchten, wie z. B. die prächtige Bacca- laureuSscen«, die un» zeigt, wa» aus dem schüchternen Fuchs de» ersten Theiles, den Mephisto verspottet und gern zu Teufeleien verleiten möchte, Alles werden kann, ein aufgeblasener selbstbewußter Bursch. „Original, fahr' hin in deiner Pracht!" Ein Bild beachtenswerther Entwickelung, wie e» un» nur das Leben bieten kann. Und nun zur Helena-Episode! Sie ist schemenhaft und früher geschrieben, al» ein selbstständiges Ganzes gedacht und veröffentlicht, da» die Vermählung der Romantik und der Antike darstellen soll, als deren Autgeburt Euphorion gilt, unter dem man sich Lord Byron denken muß, dem der herrliche Trauergesang gilt: Nicht allein! wo Du auch weilest; Denn wir glauben Dich zu kennen. Bei der Aufführung bleibt dieser wie gesagt wundervolle Trauergesang auf Lors Byron fort, wie auch all« Bezüge aus den britischen Dichter, der in Griechenland unter d«n Freiheits kämpfern starb und den Gocth« als einen „grenzenlos genialen" Poeten hoch verehrte, wie sonst keinen Zeitgenossen, fortgelasscn sind. Die Euphorionscene ist auf der Bühne von Reiz, schon weil sie einer jungen, hübschen Schauspielerin Gelegenheit bierek sich im Gewände eincs sympathischen Knaben, der schnell tragisch endet, zu zeigen. Aber es ist wohl nur die äußere Situation die den Zuschauer fesselt, der tiefere Sinn bleibt ihm verschlossen was auch begreiflich erscheint. Sonst ist wie gesagt Alles schatten- und schemenhaft, und wir können uns weder für dieses Idol, das bald Helena ist, bald wieder nicht, nichr besonders erwärmen, um so mehr, als uns die homerisch« Helena in ihrem heiteren Lebensglanz«, mit ihrer unbewußten naiven Sinnlichteil dabei vor Augen tritt, noch auch allzu sehr für Faust, ihren vorübergehenden Gatten. Die Gestalt des Faust im ersten Theil und die Gretchens, an die wir gleichfalls hier denken müssen üben «ine niederschlagrnde Wirkung aus. Im Gegensatz zu diesen Ausstellungen soll auf besondere Schönheiten in den anderen, eben nicht berührten Acten hingewiesen werden, die bisher nicht zur Geltung kamen. Der letzte Act, der mit der Philemon- und Baucis - Idylle einseht, in der Goethe das be kannte Paar aus Ovid's Verwandlungen, das auch im Tode noch vereint bleibt, al» Typu» der selbstgrnllgsamen, glücklichen kedürfnißlosen Menschen hinstellt, im Gegensatz zu dem Alles begehrenden, vor einem Freixl, ja dem Mors nicht zurück schreckenden Faust, bis zur Himmelfahrt des Faust ist von höchster Schönheit und verdient in seiner Gesammtheit aufgeführt zu werden, wovon noch gesprochen werden soll. Aber in der Devrient'schen Bearbeitung wird er sehr zusammcngestrichen uns scenisch zu sehr zusammengeschoben, als daß er zur Wirkung kommen könnte. Di« Zusammendrängung auf eine einzige Scenerie, so daß der Thürmer Lynceus unmittelbar auf das brennende Häuschen des «den erwähnten zufriedenen Alterspaares herabschaut, mulhet komisch an. Die Scene mit der Ärge eine der schönsten der Dichtung, erfordert ein geschlossenes Zimmer, um zu packen, keinen Altan, wie hier, wo die Alles durchdringende Sorge ja gar nicht durchs Schlüsselloch hinein zu schlüpfen braucht, um vor Faust zu erscheinen, d«r vor ihrem Hauch erblindet. Der Schluß: Bergschluchten, Wals, Fels, Einöde, geht ganz verloren, da wir das allmähliche Hinauf schweben der Engel mit Faust's Unsterblichem über die einzelnen Stufen der Seligkeit bi» zu der höchsten Spitze v«S Gebirge»,
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