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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.03.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-03-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990302015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899030201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899030201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-03
- Tag1899-03-02
- Monat1899-03
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Buch Mose der Erz vater Jakob zu Pharao, „wenig und böse ist die Zeit meines Lebens und langet nicht an die Zeit meiner Väter in ihrer Wall, fahrt". Und in der Ilias spricht der greise Nestor mit unver hohlener Geringschätzung von den Sterblichen, wie sie nun eben jetzt sind, im Gegensätze zu seiner herrlichen Jugendzeit. — Wenn man die Klagen durch die Jahrhunderte verfolgt, möchte man an nehmen, die Welt sei in einem unaufhaltsamen Abwärtsqleiten, in einer stetigen Verschlechterung begriffen. Die An nahme läge um so näher, als es oft gerade die besten Männer find, aus deren Munde wir solche Klagen hören: die alten Pro pheten, die Kirchenväter; dann im Mittelalter u. A. der sächsische Bischof Thietmar, von dem die bemerkenswertste Aeußerung her- r^ihrt, spuä mockernog herrsche allenthalben dir Freiheit der Sünde mehr als je**); die Dichter Walther von der Vogel weide, Hug von Trimberg und Andere; Luther, Spener, Justus Möser, Fichte, auch der Reichsfreiherr Karl von Stein. Dabei lesen sich viele der alten Klagen, als stammten sie aus jüngster Zeit. Luther's Aeußevungen über den Ungehorsam, Frevel und Stolz des jungen Volkes will ich nicht dahin rechnen, denn Aehnliches kehrt, wie schon angedeutet, in allen Jahrhunder ten wieder, ebenso wie die Klagen über die Abnahme der alten Treue und über den alle Grenzen der Ehrbarkeit und Zucht über schreitenden Luxus. Mehr wird es überraschen, zu hören, daß schon Spener, der 1705 starb, die Verbreitung des Atheismus auch unter den Theologen betrauert; daß eine vom Großen Kur fürsten erlassene Gesindeordnung als Gründe für ein strengeres Gesetz den Stolz und Uebernruth, Trotz und Eigensinn der Dienst boten anführt; daß 1557 Karl Doltz predigt, die Kunst sei eine „Dienerin der Sünde", eine „Schule der Unzucht" geworden; daß schon damals die Hauptschuld an den Gebrechen der Zeit den „unzählbaren Scrik^nten und Federführern", also der schlechten Presse, beigemessen «urde. Unter den Ursachen der sich verbrei tenden Armuth hebt um dieselbe Zeit der Nürnberger Patricier Berthold Holzschuher hervor, daß „das gemeine Volk ganz leicht fertig und in Armuth heirathe", was um so bedenklicher sei, als „Gott bei solcher Armuth viel Kinder bescheere". Viel merkwür diger sind aber die noch etwas weiter zurückliegenden Klagen über das Ausbeutungssystem des Großkapitals, über die zum Zwecke des Aufkaufs und der Preissteigerung der Grundstücke ge bildeten Gesellschaften, bei denen auch Mitglieder der Stadt magistrate betheiligt sein sollten. Aus dem 13. Jahrhundert stammt der Vers: Di« Kaufleut' führen schlimmen Wandel, Voll Trug und Falsch ist aller Handel. Und schon im 3. Jahrhundert geißelt der Kirchenvater Cy prian die Greisenhaftigkeit der Jugend: „Grauköpfe sehen wir unter den Knaben; die Haare fallen aus, bevor sie wachsen, und das Leben hört nicht mit dem Greisenalter auf, sondern es be ginnt mit ihm". Zeigen schon diese durch alle Jahrhunderte sich wiederholenden Klagen, daß es mit der guten alten Zeit doch eine eigene Be- wandtniß hat, so lehrt uns andererseits dir durch Thatsachen verbürgte Culturgrschichte rin allmähliches Fortschreiten der Ge sittung, eine wachsende Verbreitung der Wohlfahrt kennen. Wer ohne die Befangenheit der Romantiker die zeitgenössischen Ur kunden früherer Jahrhunderte prüft, wird schwerlich eine Zeit finden, in der er lieber gelebt haben möchte als in der Gegen wart. Selbst ein Mann wie Wilhelm Heinrich Riehl, der mit *) Vortrag, gehalten in der Gemeinnützigen Gesellschaft am SO. Februar. **) Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Hans Delbrück hat im 7l. Band der Preußischen Jahrbücher (1893), S. 1 ff-, unter der Uebrrschrtst „Die gute alte Zett", eine sehr ver. dienstliche Blumeulese gegeben, der ich diesen und mehrere andere Aussprüche entnommen habe. Feuilleton. Jsidor's Kniff. Novelle von Michel Triveley. Deutsch von Fritz Bassermaun. - Nachdruck v»r»»l«n. I. „Also mein Lieber, dieses junge Mädchen gefällt Dir?" „Ob sie mir gefällt, bester Onkel! . . . Gage vielmehr, daß ich schon sterblich in sie verliebt bin!" Und Oskar, der eine Photographie in den Fingern hielt, ver. schlang die, die man ihm als Braut vorschlug, mit den Augen. „Welch' prächtiges Haar!" „Wunderbar, lieber Onkel!" „Und dieser Blick? . . . Welch' ein« Tiefe!" ... Hast Du bemerkt!" „Aber fa, lieber Onkel, aber ja! Ich bin mir klar darüber, ich versichere Dich! Und Deine Bewunderung kann unmöglich größer sein als meine! Ich habe daher auch gar keine Bedenken, keine Zweifel! Ja! Ja auf der Stelle und lieber zehn Mal als «in Mal! Ich bin bereit zu heirathen, und zwar, wann Du willst!" „So ist's recht, mein Junge, so ist's recht! Ach, ich bin so froh, so froh! ... Ja und wenn sie weiter nichts wäre, als schön, strahlend schön! . . . Aber Du machst Dir keinen Be griff von ihren sonstigen Vorzügen! Gut, gebildet, nachgiebig, geistreich! . . . Als ich sie gestern sah, in dem Hotel, wo sie mit ihren Eltern während der paar Tage, die sie sich in Paris aufhielten, abgestiegen war, erlag ich förmlich untrr dem Zauber, und ich dachte die ganze Zeit an Dich; ich sagte mir: wenn es sich nur arrangiren laßt! ... Ah, eine solche Nichte be- sitzen! . . ." .Nun also, Du siehst, lieber Onkel, Du wirst sie besitzen, da mich ja die Eltern von vornherein, auf Deine einfache Em. pfehlung hin, acceptirt haben; da ja das junge Mädchen im Princip nicht abgeneigt scheint, mir ihre Hand zu bewilligen, so feinem Verständniß den rühmlicheren Zeugnissen unseres Volkscharakters in den vergangenen Geschlechtern nachspürte und gern die Sitten der Väter in verklärendem Lichte schilderte, konnte nicht umhin, seinem Lobe der guten alten Zeit Las Bckenntniß hinzuzufügen, daß, Alles in Allem genommen, unsere Zeit doch die bessere sei. Und neben den Tadlern des Neuen hat es wohl zu allen Zeiten auch solche gegeben, die jene wegen ihres Mangels an Verständniß für die Gegenwart verspotteten. War doch schon dem alten Horaz der Inuckaror temporiK aati eine lächerliche Ge stalt, der er die Beiwörter älkkioilis, guorulus anhängt: ein un bequemer Nörgler. Es scheint mir psychologisch und kulturgeschichtlich von Werth, sich zu vergegenwärtigen, wie sich die Vorstellung einer besseren Vergangenheit, mit der unsere Zeit den Vergleich nicht aushalten könne, hat bilden und, trotz so vielfacher entgegenstehender Er fahrung, durch die Jahrhunderte hat fortsetzen können. Da möchte ich denn zunächst fragen: wer sind denn die Lobcr des Vergangenen? Nicht die frisch vorwärts strebende Jugend, der die überkommenen Zustände als abgelebt gelten und das wahre Leben mit dem Heute beginnt. Es sind vielmehr die alten, bedachtsamen Leute, denen die neuen Strömungen, weil unge wohnt, leicht widrig erscheinen, die den Kampf gegen das ehr würdig« Alte als frevelhaft erkennen. Ihnen webt di« Erinne rung einen hold«n Schein um das, was sie in ihrer Jugend mit offenem Sinn erlebt und mit frischer Kraft errungen —, ja nicht minder auch um das, was sie erduldet und seiner Zeit vielleicht schmerzlich genug empfunden haben. Und so ist gemeinhin für jeden Einzelnen die gute alte Zeit eben Lie, in der er selber jung war. Fast jede Selbstbiographie giebt uns davon Zeugniß. Daß die Urtheil« über unsere Z«it so verschieden und oft so ungünstig lauten, darf uns nicht Wunder nehmen. Ist nicht Jeder von uns Stimmungen unterworfen, die ihm Alles trüb und grau erscheinen lassen, was er gestern in rosigem Lichte sah? Warum sollte die Gesammtauffasiung der Zeit nicht auch von solcher Schwarzseherei beeinflußt werden? Und was wissen wir denn eigentlich von unserer Zeit? Was wir selber sehen, erfah ren, erleben, ist doch nur ein winziger Ausschnitt aus dem unge heueren Getriebe. Darüber hinaus sind wir auf fremdes Urtheil angewiesen; in erster Reihe auf die Zeitungen und Zeitschriften, die, vom Tag« für den Tag geschrieben, gerade von den tiefsten Regungen der Volksseele, von den Unterströmungen, die vielleicht für den späteren Geschichtsschreiber das eigentliche Gepräge der Zeit bestimmen, meist nur obenhin Kuns« geben können. So erscheint uns nur zu leicht als das hauptsächliche Kennzeichen der Zeit der Kampf der Parteien, der entgegengesetzten Tagesmeinun- gen. Hier ist die ältere Zeit für unsere Betrachtung in einem natürlichen Vortheil. Von ihr wissen und schauen wir, was sie dauernd Werthvolles geschaffen >hat, während das Vergängliche verschwunden ist. Aus der Menge, von der uns nur In großen Zügen berichtet wird, treten die Lichtgestalten der geistigen Führer hervor, nach denen wir uns unser Urtheil über ihre Zeit bilden, während diese selber sie nur zu oft nicht verstanden hat. Und noch eins dürfen wir nicht außer Acht lassen, wenn wir abzumessen veüsrrchen, ob dieCultur, die rechteErkenntniß, die Ge sittung im Vor- oder im RUckschreiten begriffen sei: der Fort schritt hält fast nie die gerade Linie inne, er besteht durchaus nicht in einem stetigen Vorwärts. Vielmehr ist die Gesamtbe- wegung", wir der feinsinnige Rudolf Hildebrand*) treffend be merkt, „eine vielfach gebrochene, im Ganzen einer »orwärtsdrin- gensen Wellenbewegung gleichend; die Wellen können freilich ihrem Höhenunterschiede nach von solcher Größe sein, daß man dafür, nach der Zeit gemessen, Jahrzehnte, ja Jahrhunderte als Maßstab nehmen muß." DaS Gleichniß läßt sich noch weiter verfolgen. Wie an die Stelle des Wellenberges im Wasser das Wellenthal tritt, so be wegt sich auch die Culturgeschickte nicht selten in Gegensätzen. Riehl behauptet z. B.. auf ein verhätscheltes Geschlecht folge regel mäßig und naturgemäß ein aeprüg-Ites. Ich selbst kann dies aus eigener Erfahrung nicht bestätigen, wohl aber andere Gegensätze. In meiner Jugendzeit, die von Vielen nun auch schon zur guten *) Tagebuchblättcr eine- SonntagSvhilosophen. Gesammelte Grenzbotenaufjätze. Leipzig 1896. S. 318. und da endlich ich selbst, trotz meiner bisherigen Widerspenstigkeit gegen jede Heirathsidee — da ich selbst schon vor Freude hüpfe bei d«m bloßen Gedanken an diese mögliche Vereinigung! . . ." Und in einer lebhaften Anwandelung von Dankbarkeit schlang Oskar seine beiden Arme um den Hals dieses braven Mannes von einem Onkel und drückte ihm zwei schallende Küsse auf die Wangen. II. Als die Umarmung vorüber war, sagte Herr Darbel: „Also — Deine Verlobte — ich kann wohl sagen Deine Ver lobte, denn die Sache ist so gut wie beschlossen — wohnt in Nancy, wie Du weißt, und ich muß Dir mittheilen, was zwischen mir und Deinen zukünftigen Schwiegereltern verabredet wurde . . . Morgen wirst Du Dich auf die Dahn setzen . . ." „Gut." „Du kannst einen beliebigen Zug nehmen, nur mußt Du es so einrichten, daß Du Dich gegen Abend zum Diner dort unten befindest; Du bist eingeladen." ./Ach! . . ." „Jawohl . . . Der Borwand ist ganz natürlich... Du hast geschäftlich für einige Tage in Nancy zu thun, und ich habe Dich beauftragt, die Gelegenheit zu benutzen, um Frau Duval dieses Opernglas zu überbringen, das sie vorgestern Abend im Theater vergessen und um dessen Wiederbeschaffung sie mich ge beten hatte." Und Herr Darbel zog eine Lorgnette auS der Tasche, die er dem jungen Manne überreichte. „Wirklich", fragte Oskar, „sie hatte eS vergessen?" „Aber ganz und gar nicht, da sie es mir ja mit eigener Hand zugesteckt hat! . . . Du mußt begreifen, daß das hier ein be quemeres Mittel ist, um eine Anknüpfung Herbrizuführen, und das wird die erste Zusammrnkunft etwas freier, un gezwungener gestalten!" „Sehr wohl, lieber Onkel, sehr wohl!" „Und da Du in Paris ohnehin nichts versäumst, wirst Du so lange in Nancy bleiben, als Tu es für den Erfolg Deiner Sache für nothwendig erachtest, und ich rechne ganz bestimmt alten Zeit gerechnet wird, wurden uns Deutschen besonders zwei Eigenschaften nachzefagt — je nach dem Standpunkte des Be- urtheilers rühmend oder tadelnd: wir seien Ideologen, unprak tische Schwärmer, in höheren Regionen «wandelnd, ohne Sinn für die materiellen Interessen; und damit nah- zusammenhängend, wir seien Weltbürger, Kosmopoliten — was vielen als ein hoher Ehrentitel galt —, im Ausland« besser zu Haus- als im eigenen Vaterland, nur auf das Fremde erpicht, ohne nationales Selbst- büwußtsoin. Darin lag viel Wahres, wiewohl ich nicht verschwei gen kann, daß schon in sen 30er Jahren ein hervorragender Ge lehrter, der Germanist Lachmann, von „diesem Zeitalter der mate riellen Interessen" gesprochen hat und daß andererseits Männer wie Vater Arndt, Ludwig Uhland, Hoffmann von Fallersleben, Emanuel Geibel, Gustav Freytag und Andere uns Jüngeren als Vorbilder echt deutscher Gesinnung voranlouchteten. Jetzt schwingt das Pendel nach der anderen Seite. Ueber Mangel an Geltend machen der materiellen Interessen wird sich heute kaum Jemand beschweren, im Gegentcheil hören wir oft genug, und nicht ohne Grund, klagen, daß die Pflege der idealin Güter dadurch bedenk lich überwuchert werde. Die nationalen Gegensätze sind so scharf ausgeprägt wie nur je. Und an nationalem Selbstbewußtsein fehlt es uns — bis auf einzelne Gruppen, die als erratische Blöcke aus der alten Zeit liegen geblieben sind — in >der Gegenwart doch auch nicht mehr. Wenn früher bei uirs nur englische und französische Maaren geschätzt wurden, so klagen jetzt umgekehrt Engländer und Franzosen, was man in die Hand nehme, sei rnacks in üerman.v. Die Zeiten haben sich gewandelt, Vieles ist besser geworden, Manches vielleicht auch schlechter, jedenfalls anders — in der That. eine Wellenbewegung. Es ist ein unaufhörliches Auf und Ab, ein stetes Werden und Vergehen. Aber was einmal vergangen ist, kehrt nicht wieder; Altes wieder aufleben zu lassen, ist ein eitles Bemühen. Jede Kit ist eine neu« Zeit, mit neuen Anschauungen, neuen Bedürf nissen, neuen Idealen, neuen Aufgaben. Wr werden nicht ge fragt, ob sie uns gefällt, wohl aber ist es unsere Pflicht und er heischt eS zugleich di- Klugheit, die Rücksicht auf unser eigenes Wohl, daß wir sie zu verstckhen suchen. Mir ist das an dem greisen Goethe immer besonders anziehend erschienen, daß er sich üb«r alle wichtigen neuen Erscheinungen, sei es in der Politik, in der Literatur, in der Kunst, in der Naturwissenschaft, genaue Kunde zu verschaffen sucht und sie im Zusammenhang 'der ge samten Culturentwickelung betrachtet. DaS erhält seinen Grist frisch und jugendlich. Welch tiefe LeAnSweishelt liegt in seinem Spruche geborgen: Und so lang du das nicht hast, Dieses Stirb und Werd«, Bist du nur ein müder Gast Auf der dunkeln Erde. Nach dieser Einleitung komme ich zum eigcnllichcn Gegenstand meines Vortrags. Ich hatte die Absicht, einen kurzen Blick auf die hauptsächlichsten Erscheinungen unserer Zeit zu werfen und sie mit L«n Zeiten zu vergleichen, die zunächst hinter uns liegen. Nach dom bisher Gesagten werden Sie schon erwarten, daß der Vergleich im Großen und Ganzen nicht zu Ungunsten unserer Zeit ausfallen wird. Nicht, als ob ich geneigt «Ware, vor den vielen und zum Theil schweren Schäden unserer Zeit bie' Augen zu ver schließen oder sie zu beschönigen. Dafür wäre die Gemeinnützige Gesellschaft, die sich zum Ziel« gefetzt hat, auf die Mißstände in unserem öffentlichen Leben hinznweisen und an ihrer Besserung zu arbeiten, wohl der ungeeignetste Ort. Aber gerade das er scheint mir als eines der hoffnungsreichsten Kennzeichen unserer Zeit, daß die Schäden nicht nur so offen besprochen werden, daß vielmehr auch Hand angelegt wird, um ihnen abzuhelfcn. An dererseits erblicke ich eine der trübseligsten Erscheinungen in dem 'Iveitverbreiteten Pessimismus, der überall nur Verschlimmerung sieht und an der Möglichkeit der Besserung verzweifelt. Ihm gegenüber hielt ich es für angezeigt, auch einmal die Lichtseiten, die erfreulichen Anzeichen der Besserung hervorzukehren und dabei zugleich auf di« großen Aufgaben hinzudeuten, die unser im neuen Jahrhundert harren. Ein kühnes Unternehmen! dessen bin ich mir wohl bewußt, und von Herzen bitte ich um Ihre freund liche Nachsicht, wenn d«r Versuch hinter dem Wollen weit zu- rückbkibt. Wem es vergönnt gewesen ist, das Zeitalter Bismarck's v: , seinem ersten öffentlichen Auftreten an mit Bewußtsein zu durch lebqn, die Erhebung Deutschlands aus der alten Ohnmacht . Zerrissenheit mit eigenen Augen zu sehen — lassen Sie mich noch hinzusügen: wer unser Sachsen noch «unter dem Bmst'schen Regi ment gekannt und dann seine Entwickelung als treues und kräf tiges Glied des Reiches während der 25jährigen Negierung unse :s geliebten Königs als ein bescheidener, aber doch nicht ganz müß ger Zuschauer hat verfolgen dürfen, der hat allen Grund, sein Geschick zu preisen, und sollte sich's von vorn herein versagen, be dauernd von einer guten alten Zeit zu reden. Wohl ist im Reiche jetzt Manches weniger gut bestellt als in der ersten großen Zeit. Wohl sind die Parkeiverhältnisse im Reichstage nicht dazu ange- than, sorglos in die Zukunft z-u blicken. Wohl ist es traurig, daß die „negative Mehrheit" jeder Zeit in Frage stellen kann, was uns zum Heile des Vaterlandes unerläßlich erscheint, daß, wie Beyschlag es stark, aber treffend ausdrückt, «der unfehlbare Papß in Rom der Mitregent des deutschen Kaisers ist. *) Aber wer so große Dinge hat erleben dürfen, der soll auch in schwerer Zeit den Muth nicht finken lassen. Und haben wir nicht in den letzten Jahren gesehen, daß in Stunden ernster Entscheidung das vater ländische Gewissen noch fast immer stark genug geschlagen hat, um eine „positive Mehrheit" zu Stande zu bringen? Nickt ver zagen, nur fester sich zusammenschließen! lautet die Losung für die staatserhaltenden Elemente. Ich komme jetzt auf das schwierigste Gebiet, das der Religion. Was Carlyle vom einzelnen Mensckrn sagt: daß das Wichtigst em ihm seine Religion sei — nicht die Glaubenssätze, zu denen er sich äußerlich bekennt, sondern was er praktisch glaubt, was ihm Leitstern und Richtschnur seines Handelns ist, das gilt auch von einem ganzen Zeitalter. Carlyle unterscheidet zwischen glaubens starken und ungläubigen Zeitaltern; jene sind die des muthigen Aufbauens, des freudigen positiven Schaffens, in diesen wird die Thatkraft durch den Zweifel, durch den Mangel an Vertrauen gelähmt und erstickt. Gehört unsere Zeit zu diesen oder zu jenen? Viele sind wohl schnell bei der Hand mit der Antwort: natür sich zu den ungläubigen; der Hinweis auf den Darwinismus, auf Nietzsche mit seinem „unbedingten, redlichen Atheismus" und auf seine Anhänger, auf die Entfremdring sowohl der Gebildeten als >d«r Massen von der Kirche g«nügt ihnen als Beweis. Ich meinerseits würde es für vermessen halten, als Mitlebender dar über abzuurtheilen. Ich will nur versuchen, in Kürze wiederzu geben, wie sich in meiner Erinnerung die Zeit um die Mitte unseres Jahrhunderts darstellt und was ich in den letzten Jahr zehnten wahrgenommen zu haben glaube. In jener Zeit Ivar von religiösen Fragen wenig die Red«, wenn nicht eine besondere Begebenheit dazu Anlaß bot, wie z. B. die Ausstellung des heiligen Rockes in Trier, die zur Begründung des Deutschkatstolicismus führte. DaS Losungswort war „Auf klärung" und gegenüber den anderen Bekenntnissen „Toleranz", deren Gegentsteil scharf verurtheilt wurde. Diese Duldsamkeit «ntsprang aber nicht sowohl einem kräftigen Bewußtsein von dem, was L«n verschiedenen Bekenntnissen und Richtunaen aemeinstim ist, als vielmehr einer weitverbreiteten Gleichgiltigkeit. Unter den evangelischen Geistlichen war noch der alte Rationalismus vorherr'chend. ein hausbackene, nüchterne Frömmigkeit verbunden mit einer untadeligen, mitunter etwas pharisäischen Moral. Die specifisch christliche Lehre galt einem großen Theil der Gebildeten — ich möchte annehmen, einem verhältnißmäßig weit größeren al? jetzt — als überwundener Standpunkt, nur gut für die ae- wohnlichen Leute, wie man damals zu sagen pflegte. Allmählich gewannen die streng- oder rccbtaläubigen Pastoren, die Ortho- doren. im Volke kurzweg die Schwarren genannt, mehr Boden. Was sich um sie sammelte, war zunächst ein kleines Häuflein, das sich als auSerwäblt von der argen Welt scharf abgesondert fühlte — Manche von ihnen freilich nur am Sonntaae, während sie die Woche hindurch es mehr mit der argen Welt hielten. Im Ganzen bildete die-se Richtung eine nothwendig« Reaction gegen die vor herige Verschwommenheit, nnd es waren in ihren Reihen k-rnia? Gestalten, Jünger ohne Falsch, die sehr segensreich gewirkt haben. Aber das Dogmatische, der Buchsiabenglaube, trat doch zu sehr *) Deutsch-evangelische Blätter, 24. Jahrg., Heft 1, S. 1. darauf, daß Du nur mit dem endgiltigen „Ja" in Deiner Tasche zurllcktehrst." „Abgemacht, lieber Onkel!" „Und nun umarme mich, lieber Junge! . . . Und viel Glück! ... Du schreibst mir von da unten, um mir das Er- gebniß Deiner Campagne mitzutheilen, nicht wahr?" HI. Am anderen Tage. . . . Nein, Oskar hat nicht Zeit gehabt, bis dahin zu warten! Also am selben Abend noch reist der junge Mann ab. Uebrigens verspricht er sich aus dieser Beschleunigung einen doppelten Vortheil. Während der Nacht wird er nicht durch das beständige Kommen und Gehen einer Menge von geschäftigen Reisenden belästigt werden, welche die Strecke Tags über be fahren. Und dann, wenn man sich mit noch vier oder fünf in dem nämlichen Coupb befindet, ist es schwer, sich von jeder Unter haltung auszuschließen. Und Oskar legt so großen Werth darauf, nur mit seinen Gedanken zu leben, einzig und allein von Derjenigen zu träumen, die in sein Leben eingetreten ist und deren Bild ihn nicht mehr verlaßt! So ist er denn auf dem Bahnhof. Wenig Leute, aber immerhin ein gewisser Andrang von Reisenden. Sapperlot! Sollte er sich am Ende verrechnet haben und sollten all' diese Menschen, die er da sieht, mit ihrem Gepäck in der Hand, in seinen Wagen eindringen? WaS thun, um sicher zu sein, nicht belästigt zu werden? Und der junge Mann fragte sich schon, ob eS nicht dai Ein fachste wäre, seine Abreise auf den nächsten Morgen zu ver schieben — als plötzlich eine Erinnerung aus seiner Jugendzeit in seinem Gedächtnisse austauchte. Aber natürlich! ... Wie war ihm denn daS nur nicht gleich eingefallen! ... Der Kniff Jistdor'S! . . . Bei diesem Gedanken konnte er kaum an sich halten, um nicht laut aufzulachen. Ein wunderbarer Kniff, Jsidor'S Kniff, um allein auf der Bahn zu reisen! Er versagte niemals sein« Wirkung. Isidor ergriff von vornherein von einem Coupe Besitz, und sobald sich ein fremdes Gesicht an der Thür zeigte, rollte er wild die Augen, streckte die Zunge heraus und vollführte die unsinnigsten, grimmigsten Geberden. „Oho! ein Verrückter!" dachie man. Und Jeder beeilte sich natürlich, in ein anderes Coup'- zu steigen. „Es bleibt also bei Jsidor's Kniff!" murmelte Oskar. Und in der That, er hatte es nicht zu bereuen, dieses Mit:.-l angewendet zu haben, Venn er ersparte sich nacheinander die G. sellschaft zweier dicker Damen, eines Militärs, eines ältere , Herrn und — o Seligkeit! — einer ganzen Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Tochter; wenigstens schien es ihm so, venn alle diese braven Leute hatten vor seinen Verrenkungen entsetzt und mit einer solchen Eile den Rückzug angctreten, das; unser guter Spaßvogel eine Minute später kaum im Stande gewesen wäre, die Physiognomien all' dieser in die Flucht ge schlagenen Eindringlinge zu beschreiben oder sie wieder zu er kennen. Die Lokomotive pfiff; der Zug setzte sich in Bewegung. Oskar war allein! „Es lebe Jsidor's Kniff!" rief er aus und streckte sich be quem auf seiner Bank aus, um von seiner Vielgeliebten zu träumen. IV. Nancy! Es war fast Mitternacht, als unser Verliebter in der ehe maligen Hauptstadt der -Herzöge von Lothringen ankam. Er ließ sich in das erste Hotel führen, und nachdem er sich zuvor e n wenig gestärkt hatte, verbrachte er eine ruhige, erquickende Nackt. Am anderen Morgen, nach einer sehr sorgfältigen Toilette, betrat er die Straßen der Stadt. Zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um die architektonischen Schätze, welch« die alte lothringische Stadt zu bieten vermochte, nach Verdienst bewundern zu können, begnüg:« «r sich bald damit, plan- und ziellos durch die Stadt zu streiken und alle Vorübergehenden schon von Weitem scharf in» Auge
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