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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 14.03.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-03-14
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990314012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899031401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899031401
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-03
- Tag1899-03-14
- Monat1899-03
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Größere Schrislen laut unserem Prtis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilage» (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung M.—, mit Postbesörderung 70.—. Ännahmeschlvß für Änzeiyen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 132. Dienstag den 14. März 1899. 93. Jahrgang. Die Zocial-emokraten unter sich. Wenn man einen Blick in den Zukunftsstaat der Herren Bebel und Singer thun will, so muß man die Genossen unter sich betrachten, muß beobachten, wie weit sie eS schon in der Gleichheit gebracht, wie sehr sie die Schlacken dcS ausbeuterischen Zeitalters abgestreift und ihren Grundsatz, daß Alles, was Menschenantlitz trägt, gleich ist, durchgefiihrt baden. Nach dem Glaubensbekenntnisse der Socialdemokratie wird in ihrem ZukunflSstaat Neid und Mißgunst unbekannt, Eigennutz unmöglich, Strebertbum ausgeschlossen sein, ein einziges Bruderband wird alle Menschen umschlingen und in herzlicher Eintracht werden sich alle ihre« Leben- freuen. Dieser Glaubenssatz gilt nun schon länger als dreißig Jahre, die Tocialdemokrakie ist auf Grund diese« Satze« gewachsen, die Socialistenkinder werden in diesem Sinne, mit diesem Blick auf die Zukunft erzogen, und trotzdem nimmt Neid, Mißgunst, Eigennutz und Strebertbum in der Socialvemokratie immer mehr zu nnd die Rücksichtslosigkeit des einen Genoßen gegen den andern wird immer stärker. Trotz aller Einigkeit nach außen, trotz Reden und Beschlüssen können zahlreiche Familien väter erzählen, wie oft ihre Arbeit von jungen und alten Burschen unterboten wird, wie Angeberei, Liebedienerei, Katzenbuckeln nach oben und Faßtreten nach unten blüht, kurz, wie socialdemokratische Arbeiter unter lackender Ver leugnung ihrer Parteigrundsätze nach der angefeindeien an geblichen Ausbeuterart verfahren und vorläufig in diesem Staate noch ihr Heil erblicken, der Zukunft aber gar zweifelnd gegenüberstehen. Bor einigen Tagen hat wieder ein früherer Sccialdeinokrat, Redacteur Zimmermann, das Lied von der wirklichen Brüderlichkeit der Genossen gesungen und dabei den niedrigen Charakter so mancher Genossen an den Pranger gestellt. Aber man braucht gar nicht die Leute zu hören, die die Partei verlassen haben und die deshalb als „Ber- räther" oder Renegaten nicht vollwichtig in ihrem Urtheile sind, man braucht nur wieder einmal einen Blick auf die socialdemokratische Lagerhalterbewegung zu werfen, eine Nummer ihres Organs zu studiren, um zu wissen, wie selbst die waschechtesten Genoffen von gleichen Waschechten behandelt werden, wenn es sich um daS so viel angefcindete Geld oder, was rem schließlich ähnlich ist, den allgemeinen Ver dienst, die Lebenshaltung dreht. Die Klagen der socialdemokratiscken Lagerhalter, d. h. der Gehilfen in den Consumvereinen, sind alt und mau sollte meinen, daß es Ehrenpflicht der Genossen gewesen sein müßte, diesen Klagen abzuhelfen und die gerechten Wünsche der Gehilfen zu erfüllen. Weit gefehlt. Bei einigen, wie eS scheint auch beim Leipziger Consumverein, baden sich die Verhältnisse gebessert, im Uebrigen ist es aber beim Alten geblieben, ja noch schli m m e r geworden. „DaS beweisen schon die vielen Proceffc, welche jetzt geführt werden müssen und bei denen der Verband seine moralische und finanzielle Hilfe leistet", schreibt wörtlich daS bezeichnete Organ. Im kommenden Jahre wird man der Frage naher treten, was nothwendig ist, „um auch anderen College» die Stellungen erträglicher zu machen", denn „eS könnte sonst der Glaube entstehen, als gäbe eS bloS in den sächsischen Consumvereinen Uebelstände, waS doch ganz und gar nickt der Fall ist. Bringt ja fast jede Nummer unseres Organs Beweise, daß wir überall mit demselben Uebel zu kämpfen haben." So schreibt daS Blatt des socialdemokratischen Lagerhalterverbandes weiter und weist darauf hin, daß nur der Fleiß und die Aufmerk samkeit der Gehilfen Len Mitgliedern so hohe Dividenden schafft. Die Lagerhalterposten bewegen sich in einer GehaltS staffel von etwa 1000 und auch darunter bis nach zehn- jäbriger Anstellung 1500 bis 1800 und 2000 Bei diesen doch gerade nicht glänzenden Gehältern, die in Privat geschäften längst übertroffen werden, und woher sich die hohe Dividende der Vereine schreibt, müssen die Lagerhalter diese von ihren Genossen angefeindete „fette Pfründe" ver- theidigen und sich organisiren. Wie auch sonst die Lagerhalter von den Arbeitgebern, den socialdemokratischen Mitgliedern der Vorstände der Consum- verrine, behandelt werden, das gebt auS einem anderen Berickte de« Blattes hervor. Der Verfasser dieses Berichtes ist jedenfalls ein denkender Genosse, der sich kritisch in der Welt umsteht nnd der Manches aufmutzt, was ibm nicht gefällt, am wenigsten freilich die Verwaltung des Vereins in Potschappel, wo er angestellt ist. Es handelt sich um die Einführung eine« Lagerhaltervertrages. Wir können natürlich nicht allen Vorgängen socialdemokratischer Consumvereins - Vorstands- Politik solgen, die darauf bedacht ist, einen Vertrag möglichst — nicht zu Stande zu bringen und, wenn es denn doch sein müßte, diesen Vertrag nicht zu Gunsten der Angestellten ab zufassen. Endlich sollte nun in einer gemeinschaftlichen Sitzung der Vertrag beralben werden und, so fährt ter Berichterstatter fort, „seltsamer Weise, waren bisher (und auch nachher wieder) die öffentlichen Sitzungen von gar keinen Mitgliedern besucht, so waren hier eine ganze Masse am Platze, aber noch selt samer war eS, daß die übergroße Zahl der Erschienenen aus solchen bestand, welche, wenn eS auginge, dem Lagerhalter lieber noch die Luft abschneiden möchten und sich des Guten garnicht genug thun können in kindischer Schimpferei auf die Lagerhalter, wie: „Ihr lebt dock bloS von unserem Gel de", „Ihr werdet dock bloS von unseren Groschen fett" oder „wenn eö Euch hier nicht Paßt, dann wäret Ihr doch geblieben, wo Ihr früher wäret" u. s. w. (Arbeiter sind dies zum Tbeil ja auch und Socialdemokrat will Mancher sein.) Böse Zungen wollten zwar behaupten, die Betreffenden seien aus sehr nabe liegenden Gründen von einzelnen Verwal tungsmitgliedern aufgefordert worden, in dieser Sitzung zu erscheinen. Wir, die wir aber die arbeiterfreuntlichen Herzen der Verwaltungsmitglieder kennen, können nicht an derartige Einbildungen glauben. DaS sagen eben nur böse Zungen." Wir bemerken hierzu, daß die Klammern auch im Original des Berichtes sieben. Der Verfasser schildert nun die Ver sammlung und sagt: „Und die Generalversammlung, waö tbat sie mit dem Vertrag? Wenn gewöhnlich die meisten Mitglieder nur in die Generalversammlung kommen, um zu erfahren, wie viel Dividende es giebt, so kam diesmal noch hinzu: Lagerhalter vertrag, nnd was dabei besonders interessirte: Lazcrhalterlohn. Durch die in den erwähnten öffentlichen Sitzungen anwesend gewesenen Mitglieder waren Gerüchte über kolossale Lohn erhöhungen der Lagerhalter unter die Mitglieder getragen worden. (Als AnfangSgebalt war eingestellt 1320 w.lche dann nach lO Jahren, in staffclförmiger Steigerung, das Höckstgehalt von 1800-Zl erreichen sollte. Alle anderen Ver günstigungen, wie freie Wohnung u. s. w. sind aber weggesallen.) Mit Spannung erwartete man denn auch diesen Punct, nm — die hohen Löhne herunterbauen zu können. Uno so kam eS auch. Kaum daß die Geb altsstaffel verlesen war, ging der Skandal loS. Die hübschen, humanen und menschlichen Bezeichnungen, die auf die Lagerhalter nur so niecerbagelten, lassen sich hier nicht wiedergeben. Die Hauptmacher waren wieder solche, die den öffentlichen Sitzungen beigewohnt hatte». Und die Verwaltung? Sie schwieg so lange, bis der Karren richtig festsaß, dann erst trat sie für ihr Werk ein. So kam es denn auch, daß die Gehaltsskala durch etwa Zweidrittel der Anwesenden abgelehnt wurde, ja, es fehlte gar nicht viel, so wäre noch ein Antrag angenommen worden, der für die Dauer jede Gehaltserhöhung unmöglich gemacht hätte. Der nun durch diesen Beschluß doppelt verschlechterte Vertrag wurde dann durck die Generalversammlung angenommen." Nach einiger Zeit erhielten die Lagerhalter von der Ver waltung ein Schriftstück, welches folgendermaßen begann: „Die Verwaltung macht Ihnen hierdurch ihr letztes An gebot u. s. w. (letztes Angebot war auch in den Briefen der Verwaltung unterstrichen) und es wurde darin den Lager haltern „noch ein paar Mark zu ihrem jetzigen Gehalt hinzu- geschiniffen". Damit war für die Verwaltung die Sache ab- gethan; wer nicht mitmachen wollte, der könne ja geben, eS war das — letzte Angebot! Würde ein privatkapitalistischer Ausbeuter die-Sache besser betreiben? Wir glauben kaum!" fragt und beantwortet der socialdemokratische Berichterstatter die Frage. Dann fährt er fort: „Die College« gaben dann auch die Antwort danach, sie erklärten der Verwaltung schriftlich, daß sie sich in Bezug auf das letzte Angebot, unter dem Drucke der ökonomischen Verhältnisse der capitalistischen Macht beugen und den Vertrag vom l. Januar 1899 unterschreiben wollten. Und so ist es denn auch gekommen. Seit dem l. Januar haben wir einen Vertrag, der fast noch schlechter, mindestens aber nicht besser ist, als der frühere, und da haben Arbeiter mit gearbeitet, die doch auch immerwährend nach Verbesserung ihrer Lage rufen. Hatten die Betreffenden vielleicht bei der Ausarbeitung LcS Vertrags und auch bei den späteren Ver handlungen vergessen, daß sie im gewöhnlichen Leben eben auch Arbeiter sind, die nach Fortschritt und Besserstellung streben?" Der Berichterstatter wird auf seine Frage keine Antwort erhallen — weil eö keine bejahende giebt und eine verneinende zu geben, man sich genirt. Er und seine Genossen werden eS weiter erleben, daß die schlechtesten Arbeitgeber die eigenen Genossen sind, daß sie auch trotz aller Reden, allen Elfer-, aller Versammlungen und Versickerungen auS sich nichts An deres machen können und wollen, als sie sind. DaS wird schließlich jedem Socialdemokraten einleuchten, er wird endlich den Dunst sehen, den man ihm vormacht, mit dem man seine Blicke verdunkelt und wird gescheivt werden. Freilich lange wird das noch dauern. Deutsches Reich. * Leipzig, 13. März. Wir werden um Abdruck folgender Zuschrift ersucht: Eine Kritik der „Hamburger Nachrichten" über meinen „Grenzboten"-Artrkel „Erinnerungen an Fridrichs- ruh" hat «auch in Ihrem Blatte Abdruck gefunden, ich bitte daher ganz ergöbenst um Aufnahme folgender Erwiderung: „Alle, die das Glück hatten, sich einige Leit in der Gesellschaft des Fürsten Bismarck befinden zu dürfen, werden sicherlich da für Sorge getragen haben, daß auch die geringsten Worte des großen Mannes dauernd ihrer Erinnerung erhalten blieben; so habe auch ich wenige Tage nach meinen Besuchen alle Gespräche und Erzählungen des Fürsten möglichst wortge.reu aufnoürt nnd jetzt nur, allerdings erst nach einer Reihe von Jahren, das Ganze ausgearbeitet. Von großen Jrrthümern meinerseits kann daher nicht die Rede sein, und ich darf die Beanstandungen der „Hamburger Nachrichten" als unberechtigt zurückweiscn. Was die dem Fürsten zugeschriebenen Ausdrücke anbelangt, die an erster Stelle unangenehm auffallen sollen, so ist darin wirklich nichts Verletzelides zu finden, und wer nur einigermaßen mit den Gepflogenheiten des großen Mannes vertraut war, weiß, daß er solch drastische Ausdrücke nicht so gar selten in den Mund ncthm. Fürst Bismarck beherrschte die deutsche Sprache in voll kommenster Weise, er fand für jeden Begriff die passendsten, of: geradezu überraschendsten Worte, und war ein Meister der Sti listik, wie wenige Menschen; aber bei passender Gelegenheit liebte er auch eine kernig-drastische Ausdruck-Weise, die ganz charakteri stisch dem Gegenstand der Unterhaltung anyepaßt war, und wem diese Eigenschaft des großen Kanzlers unbekannt geblieben sein sollte, der hat ihn überhaupt nicht persönlich gekannt. Große Männer lieben oft solche Kraftausdrücke, die freilich in der klang losen Salonsprache nicht vorkommen, und ich erinnere nur an Friedrich den Großen, der seinen Officieren gegenüber die Worte „saufen" und „Säufer" recht oft in den Mund genommen haben soll, woran die schöne Geschichte erinnert: „Wat seggt hei denn nu tau sine Süpers?" Ich habe also nur die eigensten Worte Seiner Durchlaucht wiedergegeben und sehe gar nicht ein, wes halb ich mich durch Aenderung derselben einer Entstellung hätte schuldig machen sollen. Auch das Wort „Ottchen" habe ich mehr wie einmal aus dem Munde der Fürstin gehört, und rs wäre doch mehr wie merkwürdig, wenn gerade nur in jenen Tagen dasselbe von ihrer Seite gebraucht sein sollte. Auf mich machte die Bezeichnung gegenüber dem eisernen Kanzler einen rührenden Eindruck, und ich habe die Thalsache nur erzähl!, um das trauliche Familienleben zu schildern und die kindliche Art und Weise, wie die alte Fürstin noch zuletzt mit ihrem großen Gatten verkehrte. Auch die Geschichte vom Erfurter Parlament konnte ich nur so wiedergeben, wie sie erzählt wurde, und es findet auch wohl Niemand etwas Schlimmes dabei. Ob der Hausherr sich beim Verlesen der im Keller befindlichen edlen Weine seinen Klemmer aufsetzte, hatte ich mir nicht notirt, dock habe ich die Scene so im Gedächtniß; möglicher Weise kann ick mich aber auch versehen haben, weil der auf derselben Tischseite sitzende Fürst mir beim Lesen halb den Rücken zudrehte. Die Geschichte von den beiden Tiras ist buchstäblich wahr; sie wurde auch schon wiederholt von anderen Erzählern berichtet, und wenn ich mich in einem Püncte geirrt habe, so kann es nur darin sein, daß der zweite Tiras kein Geschenk des alten Kaisers, sondern Mlhelm's II. war. Nach meinen Notizen gebrauchte Fürst Bis marci den Ausdruck „mein kaiserlicher Herr", und da er mit dieser Bezeichnung fast immer nur den alten Kaiser meinte, so ist dieser — übrigens recht unwesentliche — Jrrthum von meiner Seile entschuldbar. Ich behauptete auch nicht, daß der erste Tiras jung eingegangen sei, und hörte nur von Bucher, daß sein Ende noch durch einen Unfall beschleunigt worden sei. Die Thatsache, daß Fürst Bismarck im März 1890 seinen alten Mitarbeiter zu sich berufen habe, erfuhr ich durch Bucher selbst; dasselbe wurde auch schon früher einmal in den Zeitungen von anderer Seite berichte!, ohne daß damals irgend eine Wider legung erfolgt wäre. Ich halte sie auch jetzt noch für wahrschein sich, und das Gegenrheil wird sich schwer beweisen lassen, weil kaum anzunehmen ist, daß der Kanzler über diese vertraute Aus sprache viel geredet haben wird. Daß Fürst Bismarck auf Bucher'L Rath seine Entlassung eingereicht haben soll, lag mir fern, zu behaupten; ich sagte nur, daß Bucher zur Einreichung des Gesuches rieth, womit er wohl der eigenen Ansicht des Fürsten entgegenkam. Wenig schön ist die Nolle, die man dem Geheimrgth bei der Abfassung der Bismarck'schen Erinnerungen zuweisen möchte. Also der Mann, der 22 Jahre lang hohe Politik lreiben durfte, soll in seinen letzten, freiwillig zur Verfügung gestellten Lebens jahren ein einfacher Dictatschreiber gewesen sein! Wer den alten Herrn kannte, weiß, daß er bei aller Bescheidenheit und Ber ohrung für seinen alten Kanzler sich doch schwerlich zu einer sol- Frirvlletsn» Die baltischen Finnen. Nachdruck vkrsotrn. Durch die jüngsten finnischen Dekrete des Herrschers aller Neußen, die dem freiheitliebenden Volke im hohen Norden Europas im Grenzland zwischen der skandinavischen Halbinsel und dem russischen Reiche wieder ein gut Theil seiner altvcrbrief- len Sonderrechte nehmen, ist die allgemeine Theilnahme nickr nur in Schweden, mit welchem Finland durch Jahrhunderte verbunden war, sondern auch in Deutschland, Las die kulturelle Entwickelung der Nachbarn der germanischen Ostseeprovinzen Rußlands immer mit lebhaftem Interesse verfolgt hat, „diesem guten und redlichen Volke," wie Alexander II. es einst genannt, und das nun, schwer getroffen und tief gebeugt, in Trauerklei- dern einhergeht, von Neuem und in höherem Maße, als je zuvor, zugewand:. Finlands Volk ist in seinem nationalen Charakter und seinen individuellen, seit uralten Zeiten zäh bewahrten Eügenthümlich- keiten bei uns noch wenig bekannt. Doch es verdient ein näheres Kennenlernen schon um des heroischen Widerstandes willen, den es nun seit vielen Jahrhunderten mächtigen germanischen und slawischen Cultureinflüffen entgegengesetzt hat, erst unter der fleundlich-milden Herrschaft Schwedens und dann unter dem här teren Scepter der russischen Zaren. Ein Zweig der mongolischen Rasse, und zwar zum uraltaischen Volksstamme derselben gehörig, kamen die Finnen, vom Sturme der großen Völkerwanderung getrieben, in den ersten Jahrhunderten nach Christus aus dem Südosten Rußlands nach dem Sumpsland am Baltischen Meere. Unter ungeheuren An strengungen mußten sie den Boden der Cultur gewinnen, ver wuchsen aber auf diese Weise auch fest und unzertrennlich mit der Scholle, die ihnen zur Heimath geworden war. Frühzeitig kamen die Finnen mit anderen Rassen in enge Berührung, aber bis heute haben sie ihren eigenartigen Dolks- tvpus ziemlich treu bewahrt. Man kann in Finland 2 Spielarten dieser Typus unterscheiden, den westlichen tavostländischen und den östlichen karelischen Typus. Di« tavastländischen Finnen sind von starkem, untersetztem Körperbau mittlerer Größe mit groben Gliedmaßen und stark entwickelter Muskulatur. Die Hautfarbe ist hell bi» olivengrau, selten so klar und rein mit durchscheinender Rosenfarbe wie bei den blonden Germanen. Die Kopfform ist gewöhnlich groß, dabei breit und eckig mit vorstehen den Backenknochen wie bei den übrigen Mongolen. Die Stirn ist wenig entwickelt, Nase und Mund sind breit, die kleinen Augen gewöhnlich blaugrau, Las weiche Haupthaar blond, oft flachs farben, bei den Frauen an den Spitzen vielfach gelb oder röthlich, der Bartwuchs spärlich. Der Nacken ist stark, so daß der Hinter kopf flach erscheint und fast eine gerade Linie mit dem Genick bildet. Der Gesichtsvusdruck muß als unfreundlich, fast finster und lvenig sympathisch bezeichnet werden. Dabei ist der Tavast- länder ernst, männlich, nachdenklich, verschlossen und schweigsam, weder Physisch noch psychisch lebendig oder leicht beweglich, im Gegentheil schwerfällig und langsam, in jeder Hinsicht höchst konservativ. Er ist nach Gustav RetziuS' auf gründlicher Be obachtung fußender Charakteristik kein Mann der Initiative, nicht zum Schlechten, aber auch nicht zum Guten, auch nicht zum Widerstand gegen die Behörden geneigt. Doch ist er mißtrauisch und soll nicht frei von Neid und Rachgier sein. Er ist in hohem Grade Fatalist, sehr genüg ¬ sam, ja er erträgt schwere Leiden und Entbehrungen — und an diesen fehlt es ihm nicht — mit bewundernswert her Stand haftigkeit und Geduld. Einerseits schwerfällig, ist er andererseits sehr andauernd bei der Arbeit, und, eigensinnig wie er ist, läßt er nicht von seinem Vorhaben ab, so lange er eine Möglichkeit des Gelingens sieht. Er ist hilfreich gegen den Nächsten und gast frei gegen Len Fremden, wenn man ihn richtig, vor Allem freund lich behandelt. Er ist im Ganzen grundehrlich und zuverlässig, wenngleich er sich nicht in Freundschaftsbetheuerungen ergießt, sondern die Freundschaft lieber in Thaten beweist, wie er sich denn auch im Allgemeinen nicht superlativ und positiv, sondern in vorsichtig reservirter Weise ausdrückt. Das Aeußer« des Tavast- länders ist nicht schön, und auch unter den Frauen ist Das, waS man Schönheit nennen könnte, äußerst selten. Der karelische Typus zeichnet sich durch folgende Züge aus: Der Körperwuchs ist weniger stark, mehr schlank und besser pro- portionirt, meist über Mittelgröße. Die Hautfarbe ist ziemlich brünett oder ins Schmutziggraue fallend, der Schädel ziemlich kurz, di« Grsichtsform lang, beides proportionirt. DaS letzter« gilt auch von Ras, und Mund. Die Augen sind mittelgroß, daS Haupthaar dunkel, meist kastanienbraun, reich gelockt, der Bart wuchs spärlich. Der Gesichtsausdruck ist im Allgemeinen lebhaft, offen, einnehmend, ober doch auch mit einem gewissen Ernst. In psychischer Hinsicht ist der Kareler nach Retzius frischer, lebendi- ger, beweglicher und unternehmender, als der Tavastländer, nicht verschlossen, sondern gesprächig und heiter, geneigter zur Ini tiative, aber minder zäh und ausdauernd, weniger gründlich und durchdringend, weniger fatalistisch; er ist freundlich, cni- gegenkommend und hilfsbereit. In seinem Benehmen ist er mehr Gentleman, hat eine gute, oft edle Haltung und bewegt sich mit einer gewissen Freiheit und Feinheit. Er macht im Allgemeinen einen angenehmen Eindruck, und es kommen auch ganz oft hübsche Typen, sowohl bei den Männern als bei den Frauen vor. Beide, der Tavastländer und der Karele, sind rechtschaffen und treu, gegen schmeichlerisches Wesen, wie es der russische Bauer liebt, unzugänglich. Der finnische Bauer ist arbeitsam und begnügt sich mit schlechter, oft höchst dürftiger Kost. Die Achtung vor fremdem Eigenthum ist ein Hauptzug im finnischen Vokkscharakter, der in jüngster Zeit freilich etwas zu Trunksucht neigt. Den Nordfinnen wirft man Schlauheit vor, und sie waren früher von den Südfinnrn als große Hexenmeister (im Mittel- alter war der Name F nne gleichbedeutend mit Zauberer) gefürch tet. Aberglaube und Vorurtheil haben sich fortgeerbt und leben theilweise noch heute beim finnischen Volke; nmch jetzt ist man nicht vom Glauben an böse Geister und Gespenster zurückgekom men, jeder Hof hat noch seinen Beschützer, wichtige Ereignisse werden durch Vorzeichen angekündigt und gewiss« Krankheiten von der Zauberei böswilliger Menschen hergeleitet. Die Wohnungen der Finnen bestehen jetzt in den meisten Gtgentdenausguten.sastdurchweg aus Holz gebauten Häusern mit reinlichen Zimmern; aber es >st noch nicht allzulange her, daß die sogenannte „Pörte" überall auf dem Lande angetroffen wurde, ein rußgeschwärzter Bretterbau primitivster Art, ohne Fenster, nur mit Schiebebrettern, die geöffnet wurden, um Len Rauch hinaus'zulassen. Ein aus dem ärmsten Hofe nie fehlendes In gredienz ist das Badeihaus, La das Baden eine Natlonalsitte der Finländer ist. In den Städten hat man jetzt moderne Bade einrichtungen, aber auf dem Land« begnügt man sich noch mit dem althergebrachten BalkenhäuSehen mit großem Ofen aus Feld steinen und einem hochgelegenen breiten Hängeboden oder Bretter regal, der Schwitzbant, auf welche die Badenden hanaufklettern, um ihr Dampfbad zu nehmen. Im Sommer während der Erntezeit wird jeden Abend von der ganzen Familie gebadet, im Winter ein- bis zweimal in der Woch«. Die Temperaturen sind außerordentlich hohe und es macht dem Badenden nichis aus, aus der Glühhitze LeS Badehauses unbekleidet in den schneebedeckten Hof hinauszutrrten. Mit dem Baden ist Massage und Peitschen des Körper» mit weichgekochten Birkenruthen verbunden. Die Bauern behaupten, daß sie ohne die heißen Bäder nicht im Stande sein würden, den ganzen Tag ihre schwere Arbeit aukzuhalten. Die altnationale Tracht ist schon längst nicht mehr allgemein, dcch tritt sie, besonders bei Hochzeiten, noch hervor. Die christ lichen Feste lverden mit ziemlichem Pomp gefeiert, wie überhaupt der Finne noch mit allen Fasern seines Herzens an der über lieferten Religion fesithält. Er ist Lutheraner durch und durch und unter Gustav Adolf kämpften die Finnen mit den Schweden aus Deutschlands Schlachtfeldern ruhmvoll für die evangelische Lehre. Dem Aberglauben parallel geht ein Hinneigen zur Sec« tenbildung. An Geistesanlagen fehlt es dem Finnen keineswegs und be sonders zeigt er eine starke Neigung zur Poesie, sowohl epischer wie lyrischer Gattung; ihre Volkspoesic ist, wie die der Esthen, von überraschendem Reichlhum und großer Schönheit. Heising fors, die Hauptstadt des Großfürstenthums, besitzt eine gut be suchte Universität mit prächtigen Hörsälen und eine Bibliothek von über 130 000 Bänden. Die allgemeine Bildung ist eine ver- hältnißmäßig hohe. Im Jahre 1891 waren von 459 238 Kin dern zwischen 7 und 16 Jähren nur 21623 ohne Unterricht, und zwar zum größten Theil körperlicher und geistiger Gebrechen wegen. Im gleichen Jahre wurden 134 periodische Zeitschriften, davon 79 in finnischer, 55 in schwedischer Sprache, herausgegeben. Unter allen nicht asiatischen Völkern Europas haben die Fin nen die höchste Culturstufe erreicht, keineswegs ohne die Beihilfe der germanischen Nachbarn, aber doch ohne ihre wesentlichen Stammeseigenschafien aufgeopfert zu haben. Die Russen selbst erkennen die hohe Blüthe des kulturellen und wirthschastlichen Lebens der Finländer an und müssen zugeben, daß die Zustände keines anderen Reichstheiles sich auch nur annähernd damit ver gleichen lassen. Das Volk hängt mit beispielloser Zähigkeit und Hingebung an Allem, was ihm geschichtlich und individuell eigrn- thümlich ist: an seinem nationalen Wesen, seiner Sprache, seiner Sitte, seiner Kirch« und an der ganzen Entwickelung seines Da seins, deren Linie so weit abseits von dem Bewußtseins-Inhalt der russischen Orthodoxie führt, wie von dem türkischen Jslamis mus. Zwei Welten stehen sich hier ohne jedes gegenseitige Ber- ständniß gegenüber, und die Vernunft fordert, daß eine jede in ihrer Bahn blecke, zumal die finnische, deren Zerstörung Niemand den geringsten Nutzen bringen würde. Man w d, sagt ein gründ, sicher Kenner der Finnen, eher die Felsen des Landes zerbröckeln, als seinem Volte das nationale Herz entwenden. —z»
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