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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.04.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-04-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990429017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899042901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899042901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-04
- Tag1899-04-29
- Monat1899-04
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« o»vu. O»«IZ. SEIM.W d- k. t. t l »or«L7 ri«,u)v. U.rk w»oo» l»o »0. »IX »o. s? SL 0«-^-0 v»»ir 0 ükM» o »ö Bezugs-PreiS i» der Hauptexpedittoa odrr den im Stadt, bezirk und den Vororten errichteten Au-« «avestellrn ab geholt: vierteljährlich ^14.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Hous>l ü.SO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliLkrlich S.—. Directe tägliche Kreuzbandsenvoug tut Ausland: monatlich ^l 7.S0. —-o—c».— Di» Mvrgeu-AuSgabt erscheiut um '/,? Uhr. di« Abend-AuSgabe Wochentag« am b Uhr. Lt-action und Lrpe-itto«: Iohanni-safie 8. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen «atffnet von früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. Filiale«: ktl* Klemms Tortim. (Alfred Hahn). Univrrsitätsstraße 3 (Paulinnm), Louis Lösche, Aathariuenstr. 14, Part, »ad KSaigSplatz 7. Morgen - Ausgabe. MWr Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. 215. Sonnabend den 29. April 1899. Anzeigen-PreiS dir 6gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter demRrdaction-strich (4ge- spaltrn) vor den Familienaachrichten (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis« verzeickniß. Tabellarischer und Ziffernjap nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit de, Morgen-Ausgabe, ohne Poftbeförderung ./t 60.—, mit Postbesörderung ^l 70.—. 2lnnahmeschluß für Anzeigen: Abend-Autgab«: Vormittag« 10 Uhr. Morge«.Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Bei den Filiale» und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet« an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 93. Jahrgang. Die Verjüngung des Richterstandes. LS Auf «ine Anfrage de« preußischen Justizmmrsters an die öfteren Richter, ob sie bereit feien, gegen «ine von der Regierung vorgesehen« Entschädigung der dem Eintritt des Bürgerlichen Gesetzbuches aus dem Dienste zu scheiden, hat sich mehr als die Hälft« d«r befragten Richter dazu bereit erklärt. Man kann annchmen, daß di« Zahl der älteren preußischen Richter, di« zum Austritte auS dem Justizdienst« bereit sind, eine noch erheblich größere gewesen wäre, wenn das von der preußischen Regierung gemachte Angrbdt «in noch liberaleres gewesen wäre. Immerhin muß man berücksichtigen, daß durch das Angebot der Regierung Mehrkosten von cirra vier 'Millionen Mark entstanden, die sich aber noch beträchtlich erhöht hätten, wenn das Angebot ein günstigeres gewesen wäre und wenn sich zweitens demgemäß die Zahl ausfcheidrnder Richter erhöht hätte. Und man wird ferner zug«ben müssen, daß auch schon das j«tzt erreichte Resultat em sehr erfreuliches ist. Erfreulich ist dies Resultat aus mehreren Gründen. Einmal «ntspricht «s der Humanität gegen Richter, die Jahrzehnte hin durch ihres verantwortungsvollen und mühseligen Berufes ge- hghen,. ihnen di« Möglichkeit zu gewähren, sich in ihren alten Tagen nicht noch mit einem neuen umfassenden Gesetze be schäftigen zu müssen. Zweitens kann eS für die Handhabung des neuen Gesetzes nur von Vottheil sein, wenn Richter, die infolge ikres hohen Alters naturgemäß nicht mehr di« volle geistige Spannkraft besitzen und denen es schwer ist, sich in ein neues Rechtssystem hineinzufinden, mit der praktischen Ausübung des «Gesetzes nicht mehr befaßt zu werden brauchen. Drittens ist «3 im Interesse '»er 1600 auf Anstellung wartritden preußischen Assessoren mit Freude zu begrüßen, daß sich einmal auch im Richterstande des größten deutschen Staates die Gelegenheit eines „Avancements)'chubs" bietet, wie «r im Officiercorps infolge der regelmäßigen Heeresvermthrungen durchschnittlich alle fünf Jahre stattfindet. Es wäre nur zu wünschen, daß man nicht auf halbem Wege stehen bliebe, sondern daß ganze Arbeit gemacht würde und gleichzeitig mit der Pensionirung einer größeren Zahl ältere Richter eine erhebliche Vermehrung der Richtrrst«ll«n in Preußen stattfände. Jahraus jahrein wird dort darüber geklagt, baß die Vermehrung der Richter nicht annähernd Schritt halte mit der Vermehrung der Bevölkerung, noch weniger aber mit der Ver wehrung der Rechtsstroitigkeiten. Run ist anzunrhmen, daß in demerstenJahrzehnt des neuen Rechts die Zahl der Rechtsstrettig- keiten erheblich anwachsen werde, weil natürlich im Publicum zunächst eiüe große Rechtsunsichevhett bestehen wird. Dazu kommt noch, daß die Richter durch die einzelnen Rechtssachen in höherem Maße in Anspruch genommen werden, als jetzt, weil sie selbst mit dem neuen Rechte noch nicht vollkommen vertraut sein können. Schließlich wird es in dem ersten Jähre natürlich an einer dem Richter der niederen Instanzen einen Anhalt ge währenden Judikatur des Reichsgerichts fehlen, so daß die sorg fältige Bearbeitung und Durchdenkung des einzelnen Falles durch den Richter für das Publicum doppelt erwünscht sein wird. Aus allen diesen Gründen wäre es hixchst erwünscht — und es würde sich auch bezahlt machen —, wenn der sparsame Herr Finanzminister vr. v. Miquel seinem Herzen einen kleinen Stoß gäbe und seinem Kollegen von der Justiz eine reichlich« Vermehrung der Richterstellen im nächstjährigen Etat zubilligte. An Material zu dieser Vermehrung fehlt es ja — man weiß nicht, ob man „leider" sagen soll, oder „Gott sei Dank" — bei dem Vorhandensein von 1600 Assessoren in Preußen nicht. Auch durch eine reichliche Stellenvermehrung würde eine erhebliche Ver jüngung des Richterstandes eintreten. Zu wünschen wäre freilich, daß die Gewährung einer Ent schädigung an ältere Richter, die in dem Bewußtsein, nicht mehr im Vollbesitze ihrer Leistungsfähigkeit zu sein, den Dienst ver lassen würden, wenn nicht die Rücksicht auf ihre Familien sie davon äbhielte, zu einer stabilen Einrichtung gemacht würde. Riemand wird behaupten wollen, es könne der Justiz zum Segen gereichen, daß im Richterstande weit mehr Männer, die das prophetische Alter erreicht öder sogar schon überschritten haben, thätig sind, als in jedem anderen BeamtenstaUde. Auf der anderen Seit« bringt es die Nothwendigkeit der Unabhängig keit des Richterstandes mit sich, daß an der Unabsehbarkeit der Richter nicht gerüttelt werden darf. Wohl aber könnte der Staat in der Weise cingreifen, daß er ständig Richtern, die daS 65. ober 70. Lebensjahr überschritten haben, bei freiwilligem Aus scheiden aus dem Justizdienste auf mindestens 3 Jahre das volle Gehalt gewährte. Dann würd« der freiwillige Austritt aus dem Dienste viel häufiger «rfolgen als gegenwärtig, wo die Pen sionirung die Kürzung um ein Viertel des Gehaltes bedeutet. Ob eine derartige, den Justizetat immerhin belastende Reform bald Aussicht auf Durchführung hat, steht dahin. Daß aber die von dem preußischen Justizministerium geplante Erleichterung des Dicnstaustrittes älterer Richter die Zustimmung des Land tages finden wird, darf wohl mit Sicherheit erwartet werden. Und es ist nur zu wünschen, daß alle deutschen Bundesstaaten bei Einführung des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches ihren älteren Richtern in liberaler Weise den Eintritt in den Ruhestand er leichtern. Deutsches Reich. * Leipzig, 28. April. Hu der von der WaklpriifungS- commission deS Reichstages beschlossenen Be anstandung der Wahl des Abgeordneten Herrn Professor vr. Hasse (12. sächsischer Reichstagswahlkreis) erfahren wir von gut unterrichteter Seite, daß zwar von Wahlprotesten bisher an hiesiger amtlicher Stelle noch nichts bekannt ge worden ist, etwaigen Erhebungen der betreffenden behörd lichen Organe über die in den Protesten ausgestellten Be hauptungen jedoch in aller Ruhe entgezengesehen wird, da allen Wahlvorschriften mit größter Genauigkeit nachgegangen worden ist. Bemerken wollen wir übrigens, daß Herr Prof, vr. Hasse in der Stichwahl am 23. Juni v. I. mit 17 057 Stimmen gegen 14 407 Stimmen, die sein social demokratischer Gegenkandidat erhielt, gewählt wurde. /?. Berlin, 28. April. (DieVerelendungstheorie, der Begriff „Proletarier" und „Genosse" Liebknecht.) Je sicherer anzunrhmen ist, daß die gestern bekannt geworden« VerMeiflungsthat des Handelsmanns Histermann von der sociakdomokrattschen Presse zu übertriebenen Anklagen gegen die kapitalistische Gesellschaft verwerthet werden wird, um so mehr muß von «iner Rede Notiz genommen weroen, die „Genosse" Liebknecht in einer Parteioersammlung des sechsten Berliner Wahlkreises soeben gehalten hat. Wie sich aus dieser Rede ergiebt, ist „Genosse" Liebknecht denjenigen socialdemokra tischen Honoratioren beigetreten, «welche die Verelsndungstheorie zum alten Ersen werfen. Nach 'dem „Vorwärts" polemisirte Liebknecht gegen Bernstein wörtlich folgendermaßen: „Bernstein wendet sich auch gegen die sogrnannte Verelendung«- theorie. Dieselbe ist niemals so verstanden worden, daß erst das ganze Proletariat ins Elend versinken müsse. So hat e« auch Marx nicht gemeint. Gewiß ist es richtig, daß sich die Leben«, läge der Arbeiter gegen früher gehoben hat. Aber de«- halb bleibt der Arbeiter doch Proletarier. Unter dieser Bezeich- nung ist nicht ein Mann zu verstehen, der im Elend lebt, sondern ein solcher, dem die Möglichkeit verschlossen ist, wirthschastlich selbstständig zu werden." „Genosse" Liebknecht beschränkt sich also nicht darauf, die VerelendungScheorie fallen zu lassen, sondern er giebt auch eine neue, höchst lehrreiche Desmitton der Begriffs „Proletarier". Dies« neu« Definition ist ein ebenso großer Hohn auf das socialdemokratische Partei programm, als die Verwerfung der Ber el e n d u n g s t h e o r i e. Denn nach dem Erfurter Programm ist der Proletarier gleichbedeutend mit dem im Elend lebende,. Besitzlosen. Die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Ge- sellfchäft, so heißt es im Erfurter Programm, „trennt den Arbeiter von seinen Produrtionsmrttöln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier." Di« Monopdlrsirung der Pro duktionsmittel bedeutet für das Proletariat, so heißt es im Programm weiter, „wachsende Zunähme der Unsicherheit der Existenz, des Elends, deS Drucks, der Knechtung, der Er niedrigung, der Ausbeutung . . ." Mrd die neue Definition des Begriffs „Proletarier" von der socialdemokratischen Partei angenommen, so muß 'die Bezeichnung „Proletarier" bald zu einem Scherzwort werden. 'Denn eS giebt sehr viele Leute, die ein sehr behagliches 'Dasein führen, obwohl sie nicht in der Lage sind, wirthschastlich selbstständig zu werden. — Nachdem auch dec Chefredakteur des „Vorwärts" in so wichtigen Punkten das Erfurter Programm Aber den Hausen geworfen hat, wird die Frag« der Revision «des Programms immer mehr eine brennende. In -welchem Lichte erscheint jetzt derjenige Theil der socialoemo- kratischen Presse, der zu agitatorischen Zwecken noch immer an der Verelendungstheorie sesihält? Erst am 23. d. M. schrieb die „Sächs. Arbeiterztg." im Anschluß an eine Notiz über den Diebstahl von der Behöro« vergrabenen Pferdefleisches: „An gesichts solcher Vorkommnisse dürfte die bürgerlich« Presse wenig Glück haben, wenn sie sich Mühe giebt, in Abrede zu stellen, daß die fortschreitende Verelendung der unteren Volksclassen ein Phantasiegebilde der Socialdemokratie sei." — Hiernach ist also „Genosse" Liebknecht unter die bürgerliche Presse gerathrn, ganz zu schweigen von seinen zahlreichen sociakvemokrattschen Ge sinnungsgenossen, die ihm hierin vorangegangen sind. 6. H. Berlin, 28. April. (Die Maifeier in Berlin.) Nicht weniger al« 43 Versammlungen bat die Socialdemo- kratie für den 1. Mai in Berlin angemeldet, 26 Versamm lungen bat die Gewerkschaftscommission einberufen, 17 die Parteileitung. Die 26 gewerkschaftlichen Versammlungen finden Vormittags 10 Uhr statt und eS klingt wie ein Hohn auf die socialdemokratische Devise: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch", daß die centralorganisirten Maurer unv Zimmerer nichts mit der Localorganisation zu thun haben wollen; jede Genossenschaft tagt für sich. Die Referenten in den Gewerkschaftsversammlungen sind sämmtlicb kleine Agita toren; die Stuckateure und die Rabitzputzer lassen sich von Damen die Bedeutung des 1. Mai klar machen. Die von der Partei arrangirten 17 Versammlungen fangen Nach mittags um 4 Uhr an und enden selbstverständlich erst am Dienstag. Geboten werden wie gewöhnlich Festrede, lebende Bilder, Gesang- und Instrumentalvorträge von den auf das socialdemokratische Programm eingeschworenen Musikern. Ganz billig ist daS Vergnügen der „Genossen" nicht; Herren, die am Tanz theilnrhmen wollen, müssen außer dem EntrittSgeld 30 Pfg., im V. Wahlkreis sogar 50 Pfg. bezahlen; nur im VI. Wahlkreis hat man den ganzen Spaß umsonst. Hier werden wohl auch die meisten Genossen feiern; sehr erheblich wird aber auch hier die Zahl der Blaumacher nicht sein, denn der Berliner Arbeitgeberbund wird alle „Genossen" entlassen, die den socialdemo kratischen Parteitag erzwingen wollen. Auch bei den Brauereien bat sich die kleine und immer mehr zusammen schmelzende Schaar der socialdemokratischen Brauer mit der FeriiHetoir. Schlaflosigkeit und Schlafmittel. Von vr. Kurt Rudolf Kreusner. NaidtruS veibolen. Es giebt viele Leidenszuständ« des menschlichen Körpers, welche sich zwar nicht als offenkundige Krankheit mit Ver änderung von Körpergeweb« dem Messer des pathologischen Ana tomen präsentiren, nichtsdestoweniger aber durch ihre lange An dauer höchst nachtheilig auf den Gesammtorganismus, namentlich auch auf das Nervensystem und damit auf die Leistungsfähigkeit des betroffenen Individuums, wirken. So ziemlich der quälendste dieser Zustände ist andauernde Schlaflosigkeit; wer sich Abends kaum aufs Ohr gelegt hat, um sofort in Morpheus' Arme zu sinken, und in einem Zuge oder mit kurzwährenden Unterbrechungen 6 bis 8 und mehr Stunden fortzufchlafen, weiß nicht, wie Demjenigen zu Muihe ist, der sich müde und ruhebedürftig zu Bett begiebt und stundenlang bis zum grauenden Morgen vergeblich den Schlaf erwartet und den bleiernen Schlag der Viertelstunden zählt. Nur wer schlecht schläft, weiß die Annehmlichkeit eines ausgiebigen und tiefen Schlafes zu schätzen. Für den Kranken aber bedeutet derselbe oft die Genesung selber, und die erste Frage des Arztes an den Patienten: „Wie haben Sie geschlafen" ist nur zu sehr ge rechtfertigt. Um Schlaflosigkeit mit Erfolg zu behandeln, muß man sich erst über die Natur des Schlafes im Allgemeinen und den bei dem einzelnen Menschen die Störung bewirkenden Ursachen im Klaren sein; denn mit den zahlreichen Mitteln, wie Antipyrin, Sulfonal, Trional, Morfin, Codein, Lhloralhydrat, denen sich noch immer alljährlich eine große Zahl neuer Medikamente an reiht, ist nichts gethan. Sie helfen insofern auf einige Zeit, als sie das überreizte Gehirn und die sonstigen Nervenc«ntren in «in«n rauschartigen Lähmungszustand versetzen; aber heilend wirken sie nicht, und wenn der dauernde Gebrauch dieser Medi kament«, wie unausbleiblich, schließlich seine schädigenden Wir kungen auf da« Nervensystem ausübt, ist der arme Patient schlimmer daran, denn je zuvor. Die wissenschaftlichen Forschungen der letzten Jahr« haben auf di« bisher in Dunkel gehüllte Physiologie des Schlafes einiges Licht geworfen, so daß wir unS zur Erklärung der Noth- wendigkeit desselben nicht mehr mit den früher üblichen all gemeinen Redensarten zu behelfen brauchen. Bekanntlich ist der menschliche Organismus ebenso wie der des Thirxes in seiner Thätigkeit mit einer äußerst ökonomischen Kraftmaschine zu vergleichen, deren Heizmaterial, die Nahrungsstoffc und G«tränke, unter der Einwirkung des in den Lungen eingeathmeten Sauer stoffes langsam verbrannt und in lebendige Kraft umgesetzt wird, wrlche namentlich in der Thätigkeit der Muskulatur und des Herzenr zum Aufdruck kommt. Wo aber eine Verbrennung statt findet, doch giebt es auch Asche und Schlacken, und als solche entstehen sowohl beim ruhenden als beim körperlich arbeitenden Menschen außer den bekannten Excretionsstoffen im Blut« die sogenannten Ermüdungsstoffe, welche auf die Nerven eine lähmende, ja bei starker Concentration sogar eine giftige Wirkung auSüben. AuS dem OrganiKmus deS wachen Menschen werden dies« eigenthümlicher Weis« nur in sehr geringem Maße auS geschieden. Nach mehr oder minder langer Tagesarbeit bewirken sie aber, daß bei dem Individuum das Gefühl der Ermüdung und schließlich Schlaf eintritt. Sowie letzteres geschehen, beginnt nun eine intensive Thätigkeit des Lymphgefäßsystems, dank der die Ermüdungsstoffe in schnellem Tempo ausgeschieden werden, und gleichzeitig erfolgt der Ersatz des verbrauchten Muskel- und Nervenmaterials durch neue, dem Blute entnommene Stoffe. Gegen Ende dieses Protestes wird der Schlaf wieder leichter, und wenn der Mechanismus des Körpers wieder gebrauchsfertig restaurirt ist, erfolgt von selbst das Erwachen mit der Fähigkeir zur Wiederaufnahme der Thätigkeit. Vorbedingung eines guten Schlafes ist also vor Allem «in gewisser Grad von Ermüdung. Wer unthätig den ganzen Tag ohne körperlich« oder geistige Anstrengung, zwischen Bett und Sopha, Restauration und Kaffeehaus abwechselnd verbringt, hat sich das Recht auf Schlaf nicht verdient, und die Natur rächt diesen Mißbrauch in der Regel dadurch, daß die Stunde der Müdigkeit zu immer späteren Abendstunden eintritt, bis es schließlich in den Gewohnheiten des Betreffenden zu einer völligen Umkehrung von Tag und Nacht kommt, die oft jahrelang an scheinend gut vertragen wird, auf die Dauer aber nie ohne bleibenden gesundheitsschädlichen Einfluß bleibt. Die geistige Arbeit mit Kopf und Verstand, welche leider von Denjenigen, die mit ihrer Muskelkraft schaffen, nur zu oft als Faulenzerei angesehen wird, erzeugt keineswegs eine geringere Ermüdung, als körperliche Arbeit; nur ist dir Ermüdung natür lich ein« einseitig«. Die bei Muskelanstrengungen massenhaft producirten Ermüdungsstoffe im Körper fehlen; dagegen ist das Nervensystem in hohem Grade mit diesen Zersetzungsproducten überladen, und letztere üben in diesem Falle auf Hirn und Nerven einen fortdauernden Reiz aus, der das Zustandekommen ein«s er quickenden Schlafes hindert. Zudem ist es für den geistig Ar beitenden nicht so einfach, die Gegenstände, mit welchen er sich tagsüber intensiv beschäftigt hat, im Augenblick aus dem Bewußt sein zu entfernen, während der körperlich Arbeitende einfach sein Mrkzeug aus der Hand legt, um sich der Muße hinzugeben. Dem Staatsmann, dem Kaufmann, dem Spekulanten, dem Re dakteur oder Schriftsteller, dem Juristen u. s. w. wollen seine Pläne und Gedanken nicht ohne Weiteres mit einem bestimmten Glockenschlage aus dem Kopfe schwinden, auch wenn er weiß, daß er sich nun guten Gewissens der Muße hingeben kann. So ist eS denn kein Wunder, wenn wir die meisten Opfer der Schlaflosig keit unter den Bewohnern unserer modernen Großstädte finden, wo die Concurrenz den Menschen zwingt, rastlos an sein Bor- wärtskommen zu denken. Aus dem Gesagten leuchtet ohne Weiteres ein, wie weise die jenigen Kopfarbeiter handeln, welche nach Absolvirung ihres Arbeitspensums einen ausgiebigen Spaziergang gegen Abend unternehmen, der nicht nur eine wohlthätige körperliche Er müdung hervorruft, sondern gleichzeitig den Geist von seiner Be- rufsthätigkeit ablrnkt und andere Eindrücke auf die Seele wirken läßt. Auf diese Weise wird das aufgeregte Nerveninstrument allmählich herabgestimmt und verstummt schließlich gänzlich für die Dauer der Nachtruhe. Unvernünftig hingegen ist es, den arbeitsvollen Tag allabendlich mit «iner Serie rauschender Ver gnügungen zu beschließen. Mit nichts arbeitet man dem Eintritt der allgemeinen Neurasthenie wirkungsvoller vor, als wenn man sich nach gethaner Arbeit in den Strudel der Vergnügungen stürzt. Die dabei in später Abendstunde genossenen alkoholischen Ge tränke bewirken zwar den Eintritt der „nöthig«n Bettschwere", wie man mit verwerflicher Schönfärber«! die Wirkung eines längeren Abendtrunkes nennt; der dabei gewonnene Vortheil ist aber nur ein scheinbarer; d«nn der auf solche Weise zu Stande kommende Schlaf ist mehr Betäubung als Schlaf, und das Herz, welches von seiner unaufhörlichen Arbeit während des Schlafes möglichst entlastet werden sollte, bekommt nur neue Arbeit auf gepackt, wenn es die genossenen, meist sehr beträchtlichen Flüssig keitsmengen im Säftestrom des Körpers mit fortbewegen muß. Es wäre unsinnig, gegen den abendlichen Genuß eines Glases Bier oder Wein eifern zu wollen; im Gcgentheil, hat namentlich ein mäßiges Quantum Bier, nach dem Abendbrot, getrunken, auf viel« an Schlaflosigkeit Leidende eine exquisit schlaferzeugende Wirkung. Die schweren Alkohole, wie Süßweine, Schnäpse und Liqueure, hingegen sind wegen ihres Gehaltes an nervenaufregen- den Substanzen gefährliche Feinde eines gesunden Schlafes und befördern übrigens auch noch die Entstehung nervöser Herzkrank heiten und Arterienverkalkung. In noch höherem Grade gilt dies von Lbermäßig«m Tabak- und Cigarrenrauchen. Aelter« Herren von sonst gesunder Con stitution und in gesicherter Lebenslage, welche seit Jahrzehnten starke Raucher sind, wollen oft um keinen Preis auch nur die Möglichkeit zugcben, daß ihre immer unangenehmer sich be merkbar machende Schlaflosigkeit eine Folge ihres übermäßigen Rauchens sein könne. Und doch ist dem so! W«nn auch Tausend«, ohne an ihrer Gesundheit Schaden zu nehmen, bis in ihr hohes Alter große Quantitäten Tabak und Cigarren rauchen können, so giebt es doch ebenso gewiß auf der anderen Seite Tausende, bei welchen sich die Folgen der chronischen Niko tinvergiftung erst in den fünfziger oder sechziger Jahren des Lebens in Gestalt von Schlaflosigkeit bemerkbar machen. Ge sellen sich zu letzterer Verdunkelungen des Gesichtsfeldes, so kann man bei starkem Rauchen die Diagnose auf Nikotinvergiftung mit ziemlicher Sicherheit stellen, und es bedarf, da dieses Alkaloid der Tabakpflanze nur sehr langsam aus dem Körper auS- geschieden wird , meist monatelanoer Enthaltsamkeit, um nor male Verhältnisse wieder herzustellen. So lange wir unseren Geist reg« beschäftigen, befindet sich unser Gehirn gewissermaßen in einem Zustand von Blutüber füllung, welche den Eintritt des Schlafes unmöglich macht. Diese Ueberlastung des Kopfes liegt aber auch bei allen kongestiven und fieberhaften Zuständen vor. Man muß daher in allen diesen Fällen danach trachten, den Blutandrang nach dem Kopfe herab- zusetzen. Geeignete Lagerung des Kopfes, Schlafen auf kühlen, mit Roßhaar gefüllten Lederkissen, kalte Kompressen auf Stirn und Nackengegend, ein beruhigendes Brausepulver in kaltem Wasser genommen und andere allbekannte HauSmittelchen sind hier oft von überraschender Wirkung. Intensiver wirken noch kalt« Fußbäder, Prießnitz'sche Einpackungen, Auflegung von Senfteig auf die Fußsohlen, und mancher unter Schlaflosigkeit leidende Fettleibige ist schon Lurch eine vorsichtig geleitet« Ent fettungskur wieder in den Genuß eines regelmäßigen Schlafes gekommen. Auch daS Gegentheil der eben geschilderten Zustände, näm lich Blutmangel und allgemeine Schwäche, hat oft Schlaflosigkeit zur Folge. In diesen Fällen vollziehen sich die Lebensvorgänge im Körper in nicht genügender Intensität, um die zum Eintritt des Schlafes nöthigen Ermüdungistoffe in ausreichender Menge zu bilden. Es wäre nun ganz verfehlt, bei solchen Patienten den Schlaf durch Kaltwasserkuren od«r Ueberwindung großer An strengungen erzwingen zu wollen, denn der Leidende würde einfach zusammenbrechen wie ein abgehetztes Pferd, welchem zugemuthe: wird, unter erbarmungslosen Peitschenhieben eine seine Kräfte übersteigende Last einen steilen Berg hinaufzuziehen. Wenn man derartige Patienten zu Gebirgstouren veranlaßt oder an den Meeresstrand schickt oder einer Kaltwasserbehandlung unterwirft, ist der Erfolg in der Regel auch ein höchst nachtheiliger. Man muß vielmehr dafür sorgen, daß der Leidende durch ein blut bereitendes Regim« erst wieder zu Kräften kommt. Sorgfältige Auswahl der Nahrung, ausgi«big« passiv« Ruhe und der Genuß der organischen, bereits künstlich verdauten Eiseneiwrißderbin- dungen, wie sie aus dem Blute gesunder Thiere seit einigen Jahren in vortrefflicher Qualität hergesttllt werden, führen meistens zu einem vollen Erfolg. Neben zahlreichen Personen, welche sich durch ihr ganzes Leben des Schlafes eines Murinelthieres «rfreuen, giebt es leider auch eine gar nicht unbedeutend« Zahl, welche ohne erkennbare Ur sache zu einem leisen Schlaf disponirt, der durch die geringsten äußeren Reiz« gestört wird. Daß man in diesem Falle bemüht sein muß, alle störenden Einflüsse, namentlich Licht und Ge räusch, vom Schlafzimmer fern zu halten, braucht kaum erst ge sagt zu werden. Gänzlich unbegründet ist ferner das Vorurtheil, daß Der jenige, der einen schlechten Nachtschlaf hat, der etwa vorhandenen Neigung zu einem Mittagsschläfchen entgegentretrn müsse, um Nachts besser zu ruhen: Man pflückt eben di« Rose, ehe sie ver blüht, und jedenfalls wird das Nervensystem Abends weniger überreizt sein, wenn man dem etwa vorhandenen Bedürfniß nach einer Siesta nach dem Mittagsessen nachgegeben hat. Ueber- haupt ist der ganze Grundsatz „Nach dem Essen sollst Du stehn oder tausend Schritt« gehn" grundfalsch. Jedes Thier, welches sich vollgegessen hat, folgt den Winken der Natur, indem es sich auf eine Weile zur behaglichen Verdauung hinlagert. Sowie die Verdauung der Speisen im Darm beginnt, concentrirt sich ein großer Theil des Blutes in der Bauchhöhle. Zwingen wir nun während der intensivsten Verdauung den Körper zu einer nennenswerthen Arbeit, so entziehen wir dem Verdauungsact das erforderlich« Blut und stören denselben auf das Empfindlichste. Allabendlich kann Jeder an sich die Wahrnehmung macken, daß ein« Zeit kommt, wo er leicht einschlafen würde, wenn er sich sofort zur Ruhe begäbe. Statt nun der sich geltend machenden Ermüdung nachzugeben, sucht man — sei es bei «iner interes santen Lectüre oder bei einer Arbeit oder im Bekanntenkreise — dieser Anwandlung Herr zu werden, und das gelingt auch ge wöhnlich in wenigen Minuten. Man hat aber damit den ge eigneten Moment verpaßt und wird dann oft stundenlang beharr lich vom Schlafe gemieden. Jedenfalls ist es zweckmäßiger, dem Schlafbsdürfniß zu folgen, sobald in der zehnten oder elften Abendstunde der „Bett zipfel winkt" und der „Sandmann kommt" und dabei am Stammtisch den Vorwurf der Philisterhafttgkeit geduldig über sich ergehen zu lassen, statt dem Beispiel jenes Arztes zu folgen, der um ZI2 Uhr Nachts nach der Uhr sieht und sich zum Auf bruch anschickt mit den ironischen Worten: „Meine Herren, gehen Si« nach Hause; der Schlaf vor Mitternacht ist -er g«. sundeste."
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