82 Hans-Jürgen Sarfert Werther und Wilhelm Meister Versuch über Ascona und Hellerau Die geistigen Wurzeln lebensreformerischer Fluchtstrategien reichen zurück bis ins Zeitalter der Aufklärung und kulminierten im Verlust städtischer Daseinsräume. Wielands Stadtroman »Die Abderiten« (1773) beklagte eindringlich den zunehmenden Gestaltmangel. 1791 räsonierte Carl Heinrich von Römer über den Verfall der chursächsischen Städte. Der europaweit geschätzte Schweizer Dichter Salomon Geßner (1730-1780) wünschte sich »unbekannt und still, fern vom Getümmel der Stadt, wo dem Redlichen unausweichliche Fallstricke gewebt sind,... und ... tau send Torheiten adeln, könnt’ ich... mein Leben ruhig wandeln, im kleinen Landhaus, beim länd lichen Garten, unbeneidet, unbemerkt!« 1 Sieben Jahre vor seinem Tod erfüllte sich der Wunsch im Amt des Oberaufsehers der kantonalen Walddomänen. Vor mancher Stadt entstanden in Gar tenanlagen die Herrenhäuser der Patrizier. So entfiel, wenn auch nur für eine Minderheit, der un geliebte Konformitätszwang. Das Problem also ist alt und bei jedem tiefgreifenden Strukturwandel neu zu durchdenken. Besonders um 1900 wuchsen erneut die negativen Begleiterscheinungen der Zivilisation durch die Ablösung der bisherigen Agrar- zum ungestümen Modernisierungsschub der Industriege sellschaft. Der nicht für möglich gehaltene Untergang des Luxusschififes »Titanic« erschütterte die brutale Technikgläubigkeit. Unkontrollierte Dynamik veränderte desaströs das gesellschaftliche Gefüge. Lebensverhinderung setzt von jeher provokante Gegengedanken und konstruktiven Widerspruch frei. Harmonische Umwelt, Gartenstadtideal, körperliche Wohlfahrt, Bodenre form, angstfrei überschaubare Siedlungsmodelle, Einklang mit der Natur wurden vor über 100 Jahren zu begehrten Schlagwörtern. Snobistische Erlösungstheorien und narzißtisches Sen dungsbewußtsein traten geschwätzig und auch folgerichtig hinzu. In diesem zivilisationskriti schen Wirbel erlangten Ascona und Hellerau vielstimmige Anerkennung als utopische Lockrufe. Gemeinsamkeiten sind feststellbar, Trennungen gegeben und Spekulationen erlaubt. Wer die Alpen in Richtung Süden überquert, befindet sich bereits im sonnigen Vorraum des Mittelmeeres. Am Nordufer des zweitgrößten italienischen Sees, des Lago Maggiore, liegt das katholisch geprägte schweizerische ehemalige Fischerdorf Ascona und präsentiert mediterranen Landschafts- und Vegetationscharme. Hellerau, die erste gelungene Gartenstadt in Deutsch land, im Weichbild Dresdens und einer sanften Dünenlandschaft gelegen, vermittelt äußerlich die innere Gliederung eines neuen Gemeinwesens, die schlichten Landhäuser deuten auf einen harmoniebetonten kunstpädagogischen Impetus. Beide wurden vom Ruhm überschwemmt. Doch zuvörderst meinte man den Monte Veritä und das Festspielhaus. Sie setzten die kulturel-